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Eine Nacht auf dem Meere. – Der Haifisch-Golf. – Gutes Zutrauen. – Vorbereitungen für den Winter. – Vorzeitige schlechte Jahreszeit. – Strenge Kälte. – Arbeiten im Innern. – Nach sechs Monaten. – Ein photographisches Negativ. – Ein unerwarteter Vorfall.
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Alles kam so, wie es Pencroff, der sich hierin nicht wohl täuschen konnte, vorhergesagt. Der Wind frischte auf, ging aus der guten Brise zur steifen Böe über, d.h. er erreichte eine Geschwindigkeit von vierzig bis fünfundvierzig Meilen in der Stunde, bei der ein Schiff selbst auf offenem Meere schon reffen und die Besanstengen einziehen muß. Da es aber gegen sechs Uhr war, als der Bonadventure sich gegenüber dem Golfe befand und eben die Ebbe sich fühlbar machte, so wurde es unmöglich, in denselben einzufahren. Pencroff sah sich also gezwungen, auf offenem Wasser zu halten, da er auch bei dem besten Willen die Mercy-Mündung zu erreichen außer Stande gewesen wäre. Nach Versetzung des Focksegels an dem Maste an Stelle des Bugspriets legte er also, die Spitze nach dem Lande gerichtet, bei.
Zum Glück ging das Meer, trotz des scharfen Windes, nicht sehr hoch, da es die nahe Küste etwas schützte. Heftigere Wellenschläge, die für kleinere Fahrzeuge besonders gefährlich sind, hatte man also nicht zu fürchten. Der Bonadventure würde zwar schwerlich gekentert sein, dazu war er zu gut belastet; durch starke Sturzseen hätte er aber doch, wenn die Verdeckfelder nicht Widerstand leisteten, ernstlich gefährdet werden können. Pencroff richtete sich, als geschickter Seemann, auf alle Zufälle ein. Gewiß verließ ihn das Vertrauen zu seinem Fahrzeuge keineswegs, und demnach erwartete er mit einiger Aengstlichkeit den nächsten Tag.
Im Verlaufe dieser Nacht fanden Cyrus Smith und Gedeon Spilett keine Gelegenheit, sich weiter miteinander auszusprechen, wozu doch die dem Reporter von dem Ingenieur in's Ohr geflüsterten Worte hinreichenden Grund gegeben hätten, da sie den geheimnißvollen Einfluß betrafen, der sich auf der Insel Lincoln immer und immer wieder geltend machte. Gedeon Spilett verlor dieses neue und unerklärliche Ereigniß, das Aufleuchten eines Feuers auf der Küste, nicht mehr aus dem Sinne. Unzweifelhaft war das Feuer gesehen worden! Man hatte durch dasselbe in jener dunkeln Nacht ja die Situation der Insel erkannt. Seine Begleiter, Harbert und Pencroff, hatten es ebenso gut gesehen, wie er selbst und damals gar nicht anders denken können, als daß der Ingenieur es angezündet habe! Nun tritt Cyrus Smith auf und erklärt, daß ihm das niemals in den Sinn gekommen sei!
Gedeon Spilett nahm sich vor, auf dieses Ereigniß nach der Rückkehr des Bonadventure wieder zu sprechen zu kommen und Cyrus Smith zu veranlassen, seine Ansicht über dieses sonderbare Ereigniß auch seinen Gefährten mitzutheilen. Vielleicht führte das zu dem Entschlusse, in Gesellschaft eine vollständige Untersuchung aller Theile der Insel Lincoln vorzunehmen.
An diesem Abende blitzte kein Feuer an der noch unbekannten Küste auf, und das kleine Schiffchen schaukelte die ganze Nacht über vor dem Eingange in den Golf auf der offenen See umher.
Als die ersten Strahlen des Morgenrothes am östlichen Horizonte aufschossen, drehte sich der Wind, der schon schwächer geworden war, um zwei Viertel und erleichterte Pencroff die Einfahrt durch die enge Mündung des Golfes. Um sieben Uhr Morgens passirte der Bonadventure, nachdem man vorher mehr auf das nördliche Kiefern-Cap zugesteuert war, die schmale Durchfahrt und glitt über die von eigenartig gestalteten Lavamassen eingeschlossenen Gewässer der Bucht.
»Da liegt ein Stück Meer vor uns, begann Pencroff, das eine prächtige Rhede abgeben müßte, in der ganze Flotten ihre Exercitien ausführen könnten!
– Besonders fällt es auf, bemerkte der Ingenieur, wie der Golf durch zwei aus dem Vulkane geflossene Lavaströme gebildet ist, welche durch spätere Eruptionen gewachsen scheinen. Die Bucht entbehrt also von keiner Seite eines sicheren Schutzes und ihr Wasser dürfte auch bei den schlechtesten Winden so ruhig wie das eines Binnensees bleiben.
– Gewiß, stimmte ihm der Seemann zu, da der Wind keinen anderen Eingang findet, als die enge Schleuse zwischen beiden Caps, wobei noch zu bedenken ist, daß das nördliche über das südliche Cap ein gutes Stück herausspringt und so den Einfluß der Luftströmungen noch weiter behindert. Hier könnte der Bonadventure wohl einige Jahre liegen, ohne jemals an seinem Anker zu zerren.
– Der Golf ist etwas groß für ihn, fiel der Reporter ein.
– Zugestanden, Herr Spilett, erwiderte der Seemann, ja, er mag sogar zu groß für unser Schiffchen sein; aber wenn die Flotten der Union einer geschützten Station im Pacifischen Ocean bedürften, so könnten sie gewiß keine bessere finden, als diese Rhede.
– Wir befinden uns im Rachen des Haifisches, sagte da Nab mit einer Anspielung auf die Form des Golfes.
– Ganz tief in seinem Rachen, antwortete Harbert, aber, mein wackerer Nab, Ihr habt doch nicht etwa Furcht, daß er sich um uns schließen könnte?
– Nein, Herr Harbert, entgegnete Nab, das wohl nicht, und doch mißfällt mir dieser Hafen; er hat mir ein widerliches Aussehen!
– Das ist herrlich, rief Pencroff, da lästert mir der Nab meinen Golf, während ich daran denke, jenen Amerika als Geschenk anzubieten!
– Ist das Wasser hier wohl tief genug? fragte der Ingenieur, denn was für den Kiel des Bonadventure hinreicht, genügt doch für unsere Panzerschiffe noch nicht.
– Das können wir leicht erfahren«, antwortete Pencroff.
Der Seemann ließ einen langen Strick, der ihm als Sonde diente und an dessen Ende ein Eisenstück befestigt war, hinabgleiten. Dieser allein maß gegen fünfzig Faden und rollte sich vollständig ab, ohne auf den Grund zu gelangen.
»Nun, sagte Pencroff, unsere Panzerschiffe mögen nur kommen, sie werden hier nicht stranden.
– Wirklich, ließ Cyrus Smith sich hören, dieser Golf ist ja ein vollständiger Abgrund; berücksichtigt man jedoch den plutonischen Ursprung der Insel, so erscheinen solche Einsenkungen des Meerbodens nicht besonders auffällig.
– Man möchte sagen, fiel Harbert ein, diese Steinmauern wären senkrecht abgeschnitten, und ich glaube, Pencroff findet selbst dicht an ihrem Fuße und mit einer fünf bis sechsmal so langen Leine noch keinen Grund.
– Alles ganz schön, erklärte der Reporter, doch möchte ich Pencroff bemerken, daß seiner Rhede eine sehr wichtige Eigenschaft abgeht.
– Und welche, Herr Spilett?
– Irgend ein Einschnitt, durch den man auch ins Innere der Insel gelangen könnte. Ich sehe hier keine Stelle, auf der man den Fuß an's Land zu setzen vermöchte.«
Wirklich boten die hohen und steilen Lavawände nirgends einen geeigneten Landungsplatz. Die ganze Umfassung des Golfes bildete eine Art unersteiglicher Festungsmauer, welche lebhaft an die Fjords der Küste Norwegens erinnerte. Der Bonadventure, der die hohen Uferwände beinahe streifte, fand nicht einmal einen Vorsprung, auf dem die Passagiere das Schiff hätten verlassen können.
Pencroff tröstete sich mit dem Gedanken, daß diese Mauer im Nothfall durch Sprengungen zu öffnen sei; da aber für jetzt in dem Golf nichts zu beginnen war, wendete er das Fahrzeug wieder dem Ausgange zu, und segelte gegen zwei Uhr Nachmittags in's offene Meer hinaus.
»Gott sei Dank!« seufzte Nab mit wahrhafter Befriedigung.
Es schien, als ob der wackere Neger sich in der riesigen Kinnlade gar nicht wohl gefühlt habe.
Vom Kiefern-Cap bis zur Mercy-Mündung rechnete man kaum noch acht Meilen. Es wurde also der Curs nach dem Granithause eingeschlagen, und mit vollen Segeln zog der Bonadventure in der Entfernung einer Meile an der Küste dahin. Auf ungeheure Felsen folgten nun bald verstreute Dünen, dieselben, zwischen denen der Ingenieur so wunderbar wiedergefunden worden war und welche Hunderte von Seevögeln besetzt hatten.
Gegen vier Uhr segelte Pencroff, die Spitze des Eilandes links liegen lassend, in den Canal ein, der jenes von der Insel trennte, und um fünf Uhr senkte sich der Anker des Bonadventure in den Sand des Ufers der Mercy.
Drei Tage lang waren die Colonisten von ihrer Wohnung abwesend gewesen. Ayrton erwartete sie am Strande, und Jup lief ihnen mit dem Ausdrucke größter Befriedigung lustig entgegen.
Jetzt hatte man also die gesammten Ufer der Küste in Augenschein genommen, ohne eine verdächtige Spur zu finden. Wenn hier ein geheimnißvolles Geschöpf sein Wesen trieb, so konnte das nur unter dem undurchdringlichen Gehölz der Schlangenhalbinsel der Fall sein, in welches die Colonisten ihre Untersuchungen noch nicht ausgedehnt hatten.
Gedeon Spilett unterhielt sich über dieses Thema mit dem Ingenieur, und sie beschlossen nun auch, die Aufmerksamkeit ihrer Gefährten auf das Eigenthümliche gewisser Vorfälle, von denen gerade der letzte am unerklärlichsten blieb, hinzulenken.
Wenn Cyrus Smith auf jenes von unbekannter Hand auf der Küste entzündete Feuer zu reden kam, konnte er nicht umhin, den Reporter wohl zum zwanzigsten Male zu fragen.
»Sind Sie auch sicher, recht gesehen zu haben? Täuschte Sie nicht eine geringfügige Vulkaneruption oder vielleicht irgend ein Meteor?
– Nein, Cyrus, antwortete der Reporter, das war damals ein von Menschenhänden erzeugtes Feuer. Fragen Sie übrigens Pencroff und Harbert, sie haben es so gut wie ich gesehen, und werden meine Worte allseitig bestätigen.«
Kurze Zeit später, es war am Abend des 25. April, als die Colonisten Alle auf dem Plateau der Freien Umschau versammelt waren, ergriff Cyrus Smith also das Wort und sagte:
»Ich halte es für meine Pflicht, meine Freunde, Eure Aufmerksamkeit auf gewisse Erscheinungen hinzuleiten, die hier auf der Insel zu beobachten waren und über die ich gern auch Eure Ansicht vernähme. Diese Erscheinungen sind gewissermaßen übernatürlicher Art…
– Uebernatürlich! rief Pencroff, da könnte wohl unsere ganze Insel übernatürlich sein?
– Nein, Pencroff, aber sicher geheimnißvoll, erwiderte der Ingenieur, wenigstens wenn Sie nicht etwa im Stande sind, das zu erklären, was Spilett und ich bis jetzt noch nicht durchschauen konnten.
– Sprechen Sie, Herr Cyrus, sagte der Seemann.
– Nun wohl, fuhr der Ingenieur fort, sind Sie sich klar darüber, wie es kommen konnte, daß ich nach meinem Sturze in's Meer eine Viertelmeile im Innern der Insel wiedergefunden wurde, ohne daß ich etwas von dieser Ortsveränderung wußte?
– Im Falle Sie nicht im bewußtlosen Zustande… wollte Pencroff sagen.
– Das ist nicht anzunehmen, antwortete der Ingenieur. Doch weiter. Verstehen Sie wohl, wie Top Eure Zuflucht, fünf Meilen von der Grotte, in der ich lag, entdecken konnte?
– Nun, der Instinct des Hundes… meinte Harbert.
– Ein sonderbarer Instinct! bemerkte der Reporter, da Top trotz des in jener Nacht wüthenden Regens und Sturmes trocken und ohne Schmutzfleck in den Kaminen ankam!
– Noch mehr, fiel der Ingenieur ein Können Sie sich darüber Rechenschaft geben, auf welche Weise unser Hund bei Gelegenheit des Kampfes mit jenem Dugong so sonderbar aus dem Wasser des Sees herausgeschleudert werden konnte?
– Nein, gestand Pencroff, ich bin es wenigstens nicht im Stande, ebenso wenig, wie über die scheinbare von einem schneidenden Instrumente herrührende Wunde, welche der Dugong in der Flanke zeigte.
– Und noch mehr, fuhr der Ingenieur fort. Haben Sie bis jetzt eine Aufklärung darüber, meine Freunde, wie das Schrotkörnchen in dem jungen Pekari gefunden wurde, wie jene Kiste, ohne die Spur eines Schiffbruches, so glücklich gestrandet ist, wie jene Flasche sich so zur rechten Zeit, gerade bei unserem ersten Ausfluge zu Wasser gezeigt hat; wie ferner unser Canot, nachdem es sich von seiner Leine losgerissen, gerade in dem Augenblicke die Mercy herabgetrieben kam, als wir dasselbe so bequem brauchen konnten; wie nach dem Ueberfalle durch die Affen unsere Strickleiter so zu gelegener Zeit von der Hohe des Granithauses herabgeworfen wurde; wie endlich das Document, das Ayrton nicht geschrieben haben will, in unsere Hände gefallen ist? Durchschauen Sie alles Das?«
Ohne eine Thatsache zu übergehen, hatte Cyrus Smith hier aufgezählt, was sich Sonderbares auf der Insel zugetragen. Harbert, Pencroff und Nab sahen einander an und wußten nicht, was sie dazu sagen sollten, denn diese Ereignisse alle, die sie hier zum ersten Male aneinander gereiht überblickten, versetzten sie in das größte Erstaunen.
»Meiner Treu, brach endlich Pencroff das Stillschweigen. Sie haben Recht, Herr Cyrus, es ist schwer, diese Dinge zu erklären!
– Nun, meine Freunde, begann der Ingenieur wieder, zu dem Allem ist noch zuletzt eine Thatsache gekommen, die nicht minder unverständlich ist, als die übrigen.
– Und welche, Herr Cyrus? fragte begierig Harbert.
– Als Sie von der Insel Tabor zurückkehrten, Pencroff, sagten Sie, daß auf der Insel Lincoln ein Feuer aufleuchtete…
– So ist es, antwortete der Seemann.
– Und sind Sie auch sicher, ein solches gesehen zu haben?
– So sicher, wie ich Sie jetzt vor mir sehe.
– Du auch, Harbert?
– O, Herr Cyrus, erwiderte Harbert, jenes Feuer glänzte wie ein Stern erster Größe!
– Doch, sollte es vielleicht auch nur ein Stern gewesen sein? fragte der Ingenieur nochmals.
– Nein, nein! erklärte Pencroff, der Himmel war mit dichten Wolken bedeckt, und so tief am Horizonte wäre ein Stern nicht sichtbar gewesen! Doch, Herr Spilett hat das ebenso gut gesehen, wie wir, und wird unsere Worte bestätigen.
– Ja, ich muß dem noch hinzufügen, daß das Feuer sehr lebhaft war und fast einen elektrischen Lichtschein um sich verbreitete.
– Ja, ja! Ganz so war es, antwortete Harbert, und gewiß befand es sich auf der Höhe des Granithauses.
– Nun, meine Freunde, versicherte Cyrus Smith, so hören Sie denn, daß in der Nacht vom 19. zum 20. October weder von mir, noch von Nab ein Feuer auf der Küste entzündet worden ist.
– Sie hätten nicht…? fragte Pencroff in so großem Erstaunen, daß er den Satz nur halb zu vollenden vermochte.
– Wir haben das Granithaus gar nicht verlassen, erwiderte Cyrus Smith, und wenn ein Feuer auf der Küste sichtbar war, so hat es eine andere Hand entzündet, als die unsere!«
Pencroff, Harbert und Nab waren sprachlos. Eine Täuschung schien nicht gut möglich, ein Feuerschein hatte in der Nacht vom 19. zum 20. October ihre Augen getroffen!
Ja, sie mußten wohl zustimmen, hier waltete ein Geheimniß! Ein unerklärlicher, doch den Colonisten augenscheinlich günstiger und durch seine Merkwürdigkeit aufregender Einfluß machte sich auf der Insel Lincoln fühlbar. Lebte denn noch irgend ein Wesen tief in ihrem Innern. Eine Antwort hierauf mußte man um jeden Preis erlangen!
Cyrus Smith erinnerte seine Genossen auch an das eigenthümliche Benehmen Top's und Jup's, als sie um die Mündung des Schachtes umherliefen, durch den das Granithaus mit dem Meere in Verbindung stand, und sagte ihnen jetzt, daß er denselben genau untersucht habe, ohne etwas Verdächtiges finden zu können. Zuletzt führte dieses Gespräch endlich den Beschluß herbei, eine gemeinsame Untersuchung der ganzen Insel vorzunehmen, sobald die schöne Jahreszeit das gestatten würde.
Von jenem Tage ab quälte sich aber Pencroff mit allerlei Sorgen. Diese Insel, welche er so gern als persönliches Eigenthum betrachtete, schien ihm nicht mehr ganz und unbestritten zu gehören, sondern noch einen anderen Herrn zu haben, dem er sich, er mochte nun wollen oder nicht, unterthan fühlte. Nab und er sprachen jetzt häufig von diesen unerklärlichen Dingen, und Beide, von Natur etwas zum Wunderbaren hinneigend, waren nahe daran, zu glauben, daß die Insel Lincoln unter der Herrschaft einer übernatürlichen Macht stehe.
Mit dem Monat April singen nun die schlechten Tage wieder an. Der Winter schien frühzeitig einzutreten und rauh zu werden. Ohne Verzug wurden die nöthigen Arbeiten zur Ueberwinterung in Angriff genommen.
Uebrigens waren die Colonisten vollständig ausgerüstet, den Winter, und wenn er noch so hart würde, auszuhalten. Kleidungsstücke und Filz fehlten ja nicht, und die sehr zahlreichen Mufflons hatten einen weiteren Ueberfluß an Wolle zur Herstellung jenes warmen Stoffes geliefert.
Selbstverständlich hatte man auch Ayrton mit der nöthigen schützenden Kleidung versorgt. Cyrus Smith bot ihm an, die schlechte Jahreszeit im Granithause zuzubringen, wo er mehr Schutz finden müsse, als bei der Hürde, und Ayrton versprach das anzunehmen, sobald die letzten Arbeiten an seinem Viehhofe beendigt seien. Mitte April war das der Fall. Von der Zeit ab theilte Ayrton das gemeinschaftliche Leben und suchte sich bei jeder Gelegenheit nützlich zu machen; doch nahm er, immer unterwürfig und traurig, niemals an den Vergnügungen seiner Gefährten Theil.
Während des größten Theils dieses dritten Winters, den die Colonisten auf Lincoln verlebten, blieben sie in dem Granithause. Furchtbare Unwetter und schreckliche Stürme wütheten in dieser Zeit, bei denen die Felsen bis zum Grunde zu erzittern schienen. Ungeheure Meereswogen drohten die Insel weit und breit zu überfluthen, und jedes an ihrer Küste ankernde Fahrzeug wäre zweifellos mit Mann und Maus untergegangen. Zweimal während dieser Stürme schwoll die Mercy zu einer solchen Höhe an, daß man ein Wegreißen der Brücken und Stege befürchten mußte; die kleine Brücke auf dem Strande machte sogar eine ganz besondere Befestigung nöthig, da sie nicht selten von dem empörten Meere vollständig überdeckt wurde.
Man begreift, daß derartige den Tromben ähnliche Windstöße, die mit Regenschauern und Schneegestöber einhergingen, auf dem Plateau der Freien Umschau manche Zerstörung anrichten mußten. Die Windmühle und der Hühnerhof hatten vorzüglich zu leiden, und oft konnten die Colonisten nicht umhin, wenigstens die dringlichsten Ausbesserungen vorzunehmen, wenn sie nicht die Existenz ihrer Anlagen in Frage stellen wollten.
Bei diesem entsetzlichen Wetter verirrten sich auch einige Jaguarpärchen und ganze Heerden Affen bis an die Grenze des Plateaus, und immer lag die Befürchtung nahe, daß die gewandtesten und kühnsten derselben, vom Hunger getrieben, wohl den Bach überschreiten könnten, der in seinem halbgefrorenen Zustande den Uebergang ohnedem erleichterte. Ohne fortwährende Ueberwachung wären die Anpflanzungen und Hausthiere gewiß dem Untergange verfallen gewesen, und nicht selten kamen die Feuerwaffen in Anwendung, um jene gefährlichen Besucher fern zu halten. An Arbeit fehlte es übrigens den Ueberwinternden nicht, denn abgesehen von dieser Sorge für außerhalb des Hauses, veranlaßte auch die Wohnung selbst vielerlei Beschäftigungen.
Bei starker Kälte wurden auch einige sehr erfolgreiche Jagden bei den Tadorne-Sümpfen unternommen. Gedeon Spilett und Harbert verschwendeten unter Mithilfe Jup's und Top's keinen Schuß bei diesen Tausenden von Enten, Becassinen, Kibitzen und anderen Vögeln. Das wildreiche Gebiet war ziemlich leicht zu erreichen, da man ebenso wohl nach Passirung der Mercy-Brücke auf dem Wege nach dem Ballonhafen dahin gelangte, als auch durch Umgehung der Felsen an der Seetriftspitze, und nie entfernten sich die Jäger mehr als zwei bis drei Meilen von dem Granithause.
So verflossen die vier eigentlichen Wintermonate, der Juni, Juli, August und September, meist bei strenger Kälte. Alles in Allem hatte aber das Granithaus von der Unbill der Witterung sehr wenig zu leiden, ebenso auch die Viehhürde, welche, minder frei liegend als das Plateau, und andererseits vom Franklin-Berge geschützt, die Windstöße nur erhielt, nachdem ihre Wuth schon durch die Uferfelsen und die dichten Wälder gebrochen war. Die Schäden daselbst erreichten also niemals eine besondere Ausdehnung, und genügten Ayrton's geschickte und fleißige Hände, sie hinreichend auszubessern, als er in der zweiten Hälfte des Octobers auf einige Tage dahin abging.
Im Verlaufe des Winters ereignete sich nichts besonders Auffallendes, obwohl Nab und Pencroff auch auf das Geringfügigste achteten, was etwa auf eine geheimnißvolle Ursache zurückzuführen wäre. Auch Top und Jup liefen nicht mehr um den Schacht herum, und gaben keinerlei Zeichen von Unruhe. Es gewann also den Anschein, als sei die Reihe übernatürlicher Zufälle unterbrochen; doch sprach man im Granithause so manchen Abend davon und verharrte bei dem Entschlusse, auch die unzugänglichsten Theile der Insel zu durchforschen. Ein höchst ernsthaftes Ereigniß aber, dessen Folgen sehr verderblich zu werden drohten, lenkte Cyrus Smith und seine Genossen plötzlich von ihrem Vorhaben ab.
Es war um die Mitte des Octobers. Die schöne Jahreszeit kam schnell heran. Die Natur erwachte von den Strahlen der Sonne, und mitten unter den immergrünen Coniferen, welche den Saum des Waldes bildeten, machte sich schon das junge Grün der Zirbelbäume, der Banksias und Deodars bemerklich.
Man erinnert sich, daß Gedeon Spilett und Harbert wiederholt photographische Ansichten von der Insel Lincoln aufgenommen hatten.
Am 17. October nun kam Harbert, verführt durch die Reinheit des Himmels, auf den Gedanken, die ganze Unions-Bai, welche vom Plateau aus vom Kiefern-Cap bis zum Krallen-Cap vor ihnen lag, abzubilden.
Der Horizont war klar, und das von einer leichten Brise bewegte Meer bot in der Ferne den Anblick eines stillen Sees, mit einzelnen aufblitzenden prächtigen Lichtern.
Das Objectiv wurde an ein Fenster des Granithauses gebracht, und in dessen Gesichtsfelde lag also der ganze Strand und die Bai. Harbert verfuhr auf gewohnte Weise, und fixirte die erhaltenen Platten mittels der geeigneten Chemikalien in einem dunkeln Raume des Granithauses.
Als er wieder in's Helle zurückkam, bemerkte er auf seiner Platte einen kleinen, kaum wahrzunehmenden Punkt am Horizonte des Meeres. Er versuchte ihn durch wiederholte Waschungen zu entfernen, doch das gelang nicht.
»Es wird ein Fehler im Glase sein«, dachte er.
Da untersuchte er, eigentlich aus reiner Neugier, diesen Flecken mittels einer starken Linse, welche er aus dem Apparate losschraubte.
Kaum fiel aber sein Auge auf jenen, als er einen Schrei ausstieß und die Platte fast seinen Händen entglitt.
Er lief sogleich nach dem Zimmer, in dem Cyrus Smith sich aufhielt, reichte Platte und Linse dem Ingenieur und zeigte diesem jenen Flecken.
Cyrus Smith prüfte das Pünktchen; dann ergriff er sein Fernrohr und eilte an das Fenster.
Nach sorgfältiger Untersuchung des Horizontes mit dem Fernrohre haftete dieses endlich auf dem verdächtigen Punkte, und Cyrus Smith ließ es dann herabsinken, indem er nur die zwei Worte aussprach: »Ein Schiff!«
Und wirklich, weit da draußen war ein Schiff in Sicht der Insel Lincoln!