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Vierzehntes Capitel.

Das Inventar. – Die Nacht. – Einige Buchstaben. – Fortsetzung der Nachforschungen. – Pflanzen und Thiere. – Harbert in ernstlicher Gefahr. – An Bord. – Die Abfahrt. – Schlechtes Wetter – Aufblitzender Instinct. – Verloren im Meere. – Ein rechtzeitiger Lichtschein.

———

Schweigend standen Pencroff, Harbert und Gedeon Spilett in der tiefen Dunkelheit.

Pencroff rief mit lauter Stimme.

Keine Antwort.

Der Seemann schlug Feuer und zündete ein dürres Reis an. Kurze Zeit erleuchtete dasselbe einen kleinen Raum, der vollständig verlassen schien. Im Hintergrunde desselben befand sich ein plumper Kamin mit etwas erkalteter Asche und daneben etwa ein Arm voll trockenen Holzes. Pencroff warf das brennende Reis hinein, das Holz flackerte auf und verbreitete ein helles Licht.

Der Seemann und seine Gefährten bemerkten dann ein Bett in Unordnung, dessen feuchte und gelb gewordene Decken es bezeugten, daß es seit langer Zeit unbenutzt geblieben war; in einer Kaminecke standen zwei verrostete Siedekessel und ein umgestürzter Topf; ferner fand sich ein Schrank mit einigen schimmelbedeckten Seemannskleidungsstücken; auf dem Tische ein zinnerner Teller und eine durch die Feuchtigkeit halb zerstörte Bibel; weiterhin einige Werkzeuge, eine Schaufel, Axt, Spitzhaue, zwei Jagdgewehre, eines davon zerbrochen; auf einem Brette ein noch unberührtes Fäßchen Pulver, ein solches mit Blei und mehrere Schachteln Zündhütchen; auf Allem lag eine dicke Staubschicht, welche vielleicht lange Jahre hier angehäuft haben mochten.

»Es ist Niemand hier, äußerte der Reporter.

– Niemand! antwortete Pencroff.

– Dieses Zimmer scheint auch schon seit langer Zeit nicht bewohnt, bemerkte Harbert.

– Ja, gewiß seit langem! bestätigte der Reporter.

– Ich denke, Herr Spilett, sagte Pencroff, es ist besser, die Nacht in dieser Behausung zuzubringen, als an Bord zurückzukehren.

– Sie haben Recht, Pencroff, erwiderte Gedeon Spilett, und sollte auch sein Eigenthümer wieder kommen, so wird er sich nicht allzu sehr beklagen Gesellschaft zu finden.

– Der kommt nicht wieder, versicherte der Seemann achselzuckend.

– Sie glauben, daß er die Insel verlassen habe? fragte der Reporter.

– Hätte er die Insel verlassen, antwortete Pencroff, so würde er wohl seine Waffen und Werkzeuge mitgenommen haben. Sie kennen den Werth den Schiffbrüchige auf dergleichen Gegenstände vielleicht das Letzte, was aus dem Schiffbruche gerettet wurde, zu legen pflegen. Nein! Nein! Der hat die Insel nicht verlassen. Auch wenn es ihm gelungen wäre, sich durch ein selbstgezimmertes Boot zu retten, diese Gegenstände für den ersten Bedarf hätte er nicht hier gelassen! Nein, er ist noch auf der Insel!

– Und am Leben? fragte Harbert.

– Noch am Leben, oder todt. Doch wenn er todt ist, meine ich, wird er sich nicht selbst begraben haben, und wir müssen doch seine Ueberreste finden.«

Man kam also überein, die Nacht in der verlassenen Wohnung zuzudringen, vorzüglich da ein noch weiter aufgefundener Holzvorrath deren hinreichende Erwärmung sicher stellte. Nachdem sie die Thür geschlossen, ließen sich Pencroff, Harbert und Gedeon Spilett auf einer Bank nieder, plauderten wohl ein wenig, aber hingen noch weit mehr ihren Gedanken nach. Sie befanden sich in einer Gemüthsstimmung, in der sie allerlei erwarteten und fürchteten, so daß kein Geräusch von außen ihrem Ohr entging. Hätte sich die Thür plötzlich geöffnet und wäre ein Mensch eingetreten, sie hätten sich darüber nicht besonders gewundert, trotz des verlassenen Aussehens dieser Wohnung, aber ihre Hände hätten sie Jenem entgegen gestreckt, um die des Schiffbrüchigen zu drücken, des unbekannten Freundes, den hier Freunde erwarteten.

Doch kein Geräusch ließ sich hören, die Thür öffnete sich nicht, und ohne Zwischenfall verliefen die Stunden.

Wie lang wurde doch dem Seemann und seinen beiden Gefährten diese Nacht! Nur Harbert hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen, denn in seinem Alter ist der Schlaf ein unabweisbares Bedürfniß. Alle drei hatten Eile, ihre Nachforschungen vom Tage vorher fortzusetzen und das Eiland bis in seine verstecktesten Winkel zu durchsuchen. Pencroff's Schlußfolgerungen waren offenbar richtig, und immer mehr wurde es ihnen zur Gewißheit, daß der Bewohner dieses verlassenen Hauses, in dem sich alle Werkzeuge, Geräthe und Waffen noch vorfanden, verschieden sein müsse. So wollten sie wenigstens dessen Leiche suchen und ihr ein christliches Begräbniß gewähren.

Der Tag brach an. Pencroff und seine Begleiter gingen sogleich an die nähere Untersuchung der Wohnung.

Diese befand sich offenbar in sehr gut gewählter Lage am Abhange eines kleinen Hügels, den fünf bis sechs prächtige Gummibäume beschützten. Vor der Front des Hauses schien erst mit der Axt eine Lichtung ausgebrochen zu sein, welche einen Blick auf das Meer gestattete. Ein kleiner, mit einem zerfallenden Holzstakete eingeschlossener Rasenplatz führte zum Ufer hinab, an dessen linker Seite der Bach ausmündete.

Die Wohnung selbst erwies sich aus Planken oder Brettern errichtet, welche offenbar von dem Rumpfe oder Verdecke eines Schiffes herrührten. Wahrscheinlich mochte also ein Schiff an derselben Stelle gescheitert und mindestens ein Mann der Besatzung gerettet sein, der aus den Trümmern des Fahrzeuges und mittels der geretteten Werkzeuge sich dieses Unterkommen hergestellt hatte.

Zur Gewißheit steigerten sich die Annahmen, als Gedeon Spilett bei einem Gange um das Haus auf einer Planke, – wahrscheinlich aus der Schanzkleidung des gescheiterten Schiffes – noch die halbverwischten Buchstaben:

BR.TAN..A.

———

entdeckte.

»Britannia! rief Pencroff, den der Reporter hinzu gerufen hatte, das ist ein bei Schiffen sehr gebräuchlicher Name, und ich vermag nicht zu sagen, ob dieses englischen oder amerikanischen Ursprungs war.

– Darauf kommt auch nicht viel an, Pencroff.

– Das ist wohl wahr, erwiderte der Seemann, und wenn der Ueberlebende der Mannschaft noch lebt, so werden wir ihn zu retten suchen und nicht fragen, welcher Nationalität er angehört. Doch wir wollen vor der Fortsetzung unserer Nachforschungen nach dem Bonadventure zurückkehren.«

Pencroff hatte wegen seines Fahrzeuges eine gewisse Unruhe erfaßt. Wenn nun die Insel bewohnt war, wenn sich Jemand des Schiffes bemächtigte…. doch nein, diese Annahme erschien ihm doch selbst zu unwahrscheinlich.

Der Seemann war ja niemals böse, an Bord zu frühstücken. Die etwas geebnete Straße führte nicht lang hin, kaum eine Meile weit. Man begab sich also auf den Weg, ließ die Blicke aufmerksam durch Wald und Dickicht schweifen, durch welches Ziegen und Schweine hundertweise entflohen.

Zwanzig Minuten, nachdem sie die Wohnung verlassen, erblickten die drei Wanderer die Ostküste wieder und den Bonadventure, dessen Anker tief in dem Sande haftete.

Einen Stoßseufzer der Befriedigung konnte Pencroff doch nicht unterdrücken. Das Schiff war ja so gut wie sein Kind, und es ist das Vorrecht der Väter, auch einmal über die Gebühr ängstlich zu sein.

Man begab sich an Bord und frühstückte sehr reichlich, um das Mittagessen lange aufschieben zu können; nach beendeter Mahlzeit nahm man die Nachforschung wieder auf, welche mit sorglichster Genauigkeit ausgeführt wurde.

Sehr wahrscheinlich mußte wohl der einzige Bewohner der Insel schon gestorben sein. So suchten auch Pencroff und seine Begleiter weniger einen Lebendigen, als nur die Spuren eines Todten! Doch ihre Mühe schien vergebens, und den halben Tag über durchstreiften sie ohne Erfolg die dichten Wälder, welche das Eiland bedeckten, so daß sie zu der Ansicht kamen, daß, wenn der Schiffbrüchige todt war, sich wohl auch keine Spur von seiner Leiche finden werde, und daß ihn wahrscheinlich ein Raubthier bis auf den letzten Knochen aufgezehrt habe.

»Wir segeln morgen mit Anbruch des Tages zurück, sagte Pencroff zu seinen zwei Begleitern, als sie sich gegen zwei Uhr im Schatten einer Kieferngruppe niedergestreckt hatten, um ein wenig auszuruhen.

– Ich denke auch, fügte Harbert hinzu, daß wir die Geräthe, welche einem Schiffbrüchigen gehörten, ohne Bedenken mitnehmen können.

– Das meine ich auch, äußerte Gedeon Spilett, diese Waffen und Werkzeuge werden für das Material des Granithauses eine willkommene Vermehrung bilden. Wenn ich nicht irre, sind die Vorräthe an Pulver und Blei hier nicht unbeträchtlich.

– So ist es, bestätigte Pencroff, doch vergessen wir auch nicht, ein oder zwei Paar Schweine, welche der Insel Lincoln abgehen, mitzunehmen….

– Und den Samen zu ernten, fügte Harbert hinzu, der uns alle Gemüse der Alten und Neuen Welt liefern wird.

– Vielleicht wäre es empfehlenswerth, fiel der Reporter ein, noch einen Tag länger auf Tabor zu verweilen, um Alles zu sammeln, was uns von Nutzen sein kann.

– Nein, Herr Spilett, entgegnete Pencroff, ich ersuche Sie, die Abreise nicht weiter als bis morgen früh zu verschieben. Der Wind scheint mir nach Westen umzuschlagen, und damit würden wir einen ebenso günstigen Wind zur Rückfahrt haben, wie den Ostwind für unsere Herfahrt.

– So wollen wir also keine Zeit verlieren! sagte Harbert, sich erhebend.

– Nicht eine Minute, antwortete Pencroff. Sie, Harbert, werden sich damit beschäftigen, die Sämereien einzusammeln, die Ihnen besser bekannt sind als uns. Indessen betreiben wir beide die Jagd auf Schweine, und selbst ohne Top's Mithilfe, denke ich, soll es uns gelingen, einige zu fangen.«

Harbert schlug also den Fußpfad ein, der ihn nach dem cultivirteren Theil der Insel führte, während der Seemann und der Reporter sich geraden Weges in den Wald begaben.

Verschiedene Arten Schweine, welche sehr schnellfüßig waren und dabei keineswegs Luft zu haben schienen, sich fangen zu lassen, liefen vor ihnen her. Nach einer halbstündigen Verfolgung gelang es jedoch den Jägern, sich eines Pärchens zu bemächtigen, das sich in einem dichten Gebüsch ein Lager gewühlt hatte, als einige hundert Schritte nördlich von ihnen ein lauter Aufschrei hörbar wurde. Daneben erscholl ein heiseres Krächzen, das keiner menschlichen Stimme ähnelte.

Gedeon Spilett und Pencroff wandten sich darnach um, und die Schweine benutzten diesen Augenblick, als der Seemann schon im Begriff war, einige Stricke, um sie zu fesseln, zurecht zu machen, zu entwischen.

»Das war Harbert's Stimme, sagte der Reporter.

– Laufen wir ihm zu Hilfe!« rief Pencroff.

Sofort eilten Beide, was sie nur laufen konnten, nach der Richtung, aus der die Schreie kamen.

Wie gut es war, daß sie nicht gezögert hatten, zeigte sich, als sie nahe einer Waldblöße den jungen Mann von einem wilden Thiere niedergeworfen sahen, scheinbar einem riesigen Affen, der ihm recht unbarmherzig mitspielte.

Sich auf das Ungeheuer stürzen, dasselbe selbst niederwerfen, Harbert ihm entreißen und jenes dingfest machen, das war für Pencroff und Gedeon Spilett das Werk eines Augenblickes. Der Seemann war von herkulischer Kraft, der Reporter auch kein Schwächling, und so wurde das Ungeheuer trotz des verzweifelten Widerstandes fest geknebelt, so daß es sich nicht mehr rühren konnte.

»Du hast noch keinen Schaden genommen, Harbert? fragte Gedeon Spilett.

– Nein! Nein!

– O, wenn Dich dieser Affe verwundet hätte!…. rief Pencroff.

– Aber das ist ja gar kein Affe!« erwiderte Harbert.

Bei diesen Worten betrachteten Pencroff und Gedeon Spilett das sonderbare Wesen, das auf der Erde lag, erst näher.

Wirklich, das konnte kein Affe sein! Es war eine menschliche Creatur, es war ein Mann! Aber was für einer! Ein Wilder im schrecklichsten Sinne des Wortes, und um desto furchtbarer, da er schon mehr zum Thiere herabgesunken zu sein schien.

Struppiges Haar, langer, wilder und bis auf die Brust herabhängender Bart, am Körper fast nackt, nur einen erbärmlichen Fetzen um die Lenden, feurige Augen, ungeheure Hände, unmäßig lange Nägel, eine Gesichtsfarbe so braun wie Mahagoniholz, Füße so hart, als wären sie aus Horn gebildet: Das war die elende Creatur, in der man nichtsdestoweniger den Menschen erkannte! Ob in diesem Körper wohl noch eine Seele lebte, oder nur der gewöhnliche Instinct des Thieres in ihm wach war?

»Sind Sie auch sicher, ob das noch ein Mensch, oder nur früher einer gewesen ist? fragte Pencroff den Reporter.

– O, daran ist nicht zu zweifeln, antwortete dieser.

– Das wäre also der gesuchte Schiffbrüchige? sagte Harbert.

– Ja, erwiderte Gedeon Spilett, an dem Unglücklichen ist aber kaum noch etwas Menschliches zu finden!«

Der Reporter hatte Recht. Wenn der Schiffbrüchige überhaupt jemals ein civilisirtes Geschöpf gewesen war, so hatte die Isolirung ihn zum Wilden, ja noch mehr, zum wahrhaften Buschmenschen gemacht. Heisere Töne kamen aus seiner Kehle und drängten sich durch die Zähne, die bei der Schärfe von Raubthierzähnen nur rohes Fleisch zu zerreißen geeignet schienen. Das Gedächtniß mußte Jenen offenbar schon lange verlassen haben, auch hatte er gewiß den Gebrauch der Geräthe und Waffen, sowie das Anzünden des Feuers verlernt.

Man erkannte wohl, daß er stark und gewandt war, aber auch daß alle physische Eigenschaften sich nur auf Kosten der geistigen Schärfe entwickelt hatten.

Gedeon Spilett sprach ihn an. Er schien nichts zu verstehen, nicht einmal zu hören…. und doch, wenn er ihm in die Augen sah, glaubte der Reporter noch nicht, den letzten Funken der Vernunft in jenen verloschen zu sehen.

Der Gefangene verhielt sich ruhig und versuchte sich nicht einmal seiner Fesseln zu entledigen. War er erstaunt über die Anwesenheit der Menschen, deren Gleichen er vorher selbst gewesen sein mußte? Tauchte in irgend einem Winkel seines Gehirnes eine flüchtige Erinnerung auf, die ihm sein eigenes Menschenthum wieder vor Augen führte? Wenn frei, ob er wohl einen Fluchtversuch gemacht hätte, oder dageblieben wäre? Man wußte es nicht, vermied aber auch es zu erproben. Nach aufmerksamster Betrachtung des Unglücklichen sagte Gedeon Spilett:

»Wer er auch sei, wer er gewesen und in Zukunft werden könne, es ist unsere Pflicht, ihn nach der Insel Lincoln mitzunehmen.

– Ja, ja, fiel Harbert ein, vielleicht ist unsere Sorg falt im Stande, einige Spuren der Intelligenz wieder in ihm wach zu rufen.

– Die Seele stirbt nicht, sagte der Reporter, und es müßte eine große Befriedigung für uns sein, dieses Geschöpf Gottes der vollständigen Verthierung zu entreißen!«

Zweifelnd schüttelte Pencroff den Kopf.

»Auf jeden Fall müssen wir versuchen, fuhr der Reporter fort, was die Menschlichkeit von uns verlangt.«

Und war es denn nicht wirklich auch ihre Pflicht, menschlich und christlich zu handeln?

Alle Drei bejahten sich diese Frage und sagten sich, daß Cyrus Smith diese Handlungsweise billigen werde.

»Wollen wir ihn gebunden lassen? fragte der Seemann.

– Vielleicht ginge er selbst, wenn man seine Füße von den Fesseln befreite, sagte Harbert.

– Das käme ja auf einen Versuch an«, erwiderte Pencroff.

Die Stricke, welche die Füße des Gefangenen umschlossen, wurden gelöst, doch ließ man seine Arme noch sicher gefesselt. Er erhob sich selbst und schien gar nicht die Absicht des Entfliehens zu haben.

Seine glanzlosen Augen schossen einen stechenden Blick auf die Männer, die neben ihm gingen, und nichts verrieth, daß er sich erinnerte, Ihresgleichen, jetzt oder früher, gewesen zu sein. Fortwährend pfiff er leise vor sich hin, und sein Gesicht behielt das wilde, trotzige Ansehen bei; doch leistete er nach keiner Seite Widerstand.

Auf des Reporters Rath wurde der Unglückliche nach seiner Wohnung geleitet. Vielleicht blieben die Gegenstände, welche er dort sein genannt hatte, nicht ohne allen Eindruck auf ihn; vielleicht genügte ein Funke, um den verdunkelten Schatz seiner Gedanken wieder zu durchleuchten und die erloschene Seele wieder zu entflammen.

Die Wohnung lag nicht weit von hier; in wenig Minuten gelangten Alle daselbst an, der Gefangene erkannte jedoch nichts und schien das Bewußtsein aller Dinge verloren zu haben.

Was konnte man aus dem hohen Grade von Gesunkenheit dieses Elenden anderes schließen, als daß seine Gefangenschaft auf dem Eilande schon von langer Dauer sei, und daß die Einsamkeit desselben, nachdem er erst in vernünftigem Zustande hierher gekommen war, ihn in solche Verfassung gebracht hatte?

Der Reporter kam auf den Gedanken, daß der Anblick des Feuers vielleicht auf ihn wirke, und bald loderte eine helle Flamme auf, wie sie ja selbst die Aufmerksamkeit der Thiere erregt. Einen Augenblick schien sie der Unglückliche zu beachten; sehr bald wendete er sich aber ab, und sein bewußtloser Blick verlosch wieder.

Offenbar ließ sich für den Unglücklichen wenigstens nichts weiter thun, als Jenen an Bord des Bonadventure zu schleppen, wo er unter Pencroff's Bewachung verblieb.

Harbert und Gedeon Spilett kehrten noch einmal nach dem Eilande zurück, um von dort alles Nützliche zu holen, und einige Stunden später zeigten sie sich wieder mit Geräthen und Waffen, einem reichlichen Vorrath an Sämereien von Gemüsepflanzen und einigen Stücken erlegten Wildes beladen, zwei Paar Schweine vor sich hertreibend, am Ufer. Alles wurde eingeschifft, und der Bonadventure hielt sich fertig, die Anker zu lichten, sobald am kommenden Morgen die Ebbe bemerkbar würde.

Den Gefangenen hatte man in der vorderen Abtheilung des Schiffes untergebracht, wo er sich ruhig, schweigend, in dumpfem, stummem Hinbrüten verhielt.

Pencroff bot ihm zu essen an, doch Jener verweigerte das dargereichte gebratene Fleisch, das ihm offenbar nicht zusagte. Als ihm der Seemann aber eine von Harbert geschossene Ente zeigte, stürzte er sich heißhungerig auf diese und verzehrte sie.

»Sie glauben, daß er auch davon noch zurückkommen werde? fragte Pencroff kopfschüttelnd.

– Vielleicht wohl, antwortete der Reporter, es ist nicht unmöglich, daß unsere Sorgfalt doch endlich einen Einfluß auf ihn gewinnt, denn nur die Einsamkeit hat ihn zu dem gemacht, was er jetzt ist, und allein soll er ferner nicht sein.

– Der arme Mensch ist gewiß schon lange in diesem traurigen Zustande, sagte Harbert.

– Wahrscheinlich, erwiderte Gedeon Spilett.

– Wie alt mag er wohl sein? fragte der junge Mann.

– Das ist schwer zu sagen, antwortete der Reporter, denn unter dem dichten Barte, der sein Gesicht bedeckt, sind ja dessen Züge kaum zu erkennen; doch sehr jung ist er nicht mehr, ich denke, er wird so gegen fünfzig Jahre zählen.

– Ist Ihnen nicht aufgefallen, Herr Spilett, wie tief seine Augen unter den Augenbrauen liegen? fragte der junge Mann.

– Ja wohl, Harbert, man möchte sie auch noch menschlicher nennen, als der Anblick seiner ganzen Erscheinung voraussetzen läßt.

– Nun, wir werden ja sehen, antwortete Pencroff, und ich bin wahrlich auf Herrn Smiths Urtheil über unseren Wilden sehr begierig. Wir zogen aus, ein menschliches Wesen zu suchen, und bringen nun dieses Ungeheuer heim! Man thut eben, was man kann!«

Die Nacht verging; ob der Gefangene schlief oder nicht, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls machte er keine Bewegung, obwohl man ihn vollends befreit hatte.

Er erinnerte an jene wilden Thiere, welche die ersten Augenblicke nach ihrer Ueberwältigung ziemlich ruhig liegen, und deren Wuth oft erst später wieder ausbricht.

Mit Anbruch des Tages – am 15. October – war die von Pencroff vorhergesehene Wetterveränderung eingetreten. Der Wind blies aus Nordwesten und begünstigte die Rückfahrt des Bonadventure; gleichzeitig frischte er freilich merklich auf und ließ einen schweren Seegang befürchten.

Um fünf Uhr Morgens wurde der Anker gelichtet. Pencroff nahm ein Reff in sein Hauptsegel und drehte den Bugspriet nach Nordosten, um direct nach der Insel Lincoln zu steuern.

Der erste Reisetag zeichnete sich durch keinerlei besondere Zwischenfälle aus. Der Gefangene verhielt sich in der Vordercabine vollkommen ruhig, und da er offenbar selbst Seemann gewesen war, schienen die Schwankungen des Schiffes auf ihn sogar eine Art heilsamen Einflusses auszuüben. Erwachte vielleicht eine Erinnerung an seine frühere Thätigkeit in seinem Gedächtnisse? Jedenfalls blieb er ganz ruhig, und schien vielmehr erstaunt als niedergeschlagen.

Am nächsten Tage – am 16. October – frischte der Wind noch mehr auf, ging auch weiter nach Norden, d.h. nach einer dem Curse des Bonadventure minder günstigen Seite, so daß das Schiffchen recht lebhaft auf den Wogen schaukelte. Pencroff sah sich bald veranlaßt, sehr dicht am Wind zu segeln, und ohne sich darüber zu äußern, fing der Zustand des Meeres doch an, ihm einige Unruhe einzuflößen, da schon wiederholt recht ansehnliche Sturzseen über die Spitze des Fahrzeuges hereinbrachen. Wenn der Wind in der Art fortschralte, mußte er offenbar mehr Zeit zur Rückfahrt nach der Insel Lincoln brauchen, als die Hinfahrt nach Tabor in Anspruch genommen hatte.

Am 17. Morgens, achtundvierzig Stunden nach der Abfahrt des Bonadventure, verrieth noch nichts, daß man sich in dem Gewässer der Insel befinde. Eine Abschätzung der zurückgelegten Entfernung war übrigens bei der wechselnden Richtung des Windes und Schnelligkeit der Fahrt fast unmöglich.

Auch vierundzwanzig Stunden später kam noch kein Land in Sicht. Der Wind wehte jetzt sehr steif und das Meer ging sehr hoch. Die Segelmanöver erforderten die größte Schnelligkeit und Vorsicht, man mußte reffen und der kurzen Strecke wegen, welche man bei dem Laviren zurücklegte, sehr häufig die Halsen wechseln. Am Morgen des 18. kam es sogar einmal vor, daß eine Woge den Bonadventure vollständig überschwemmte, und hätten die Passagiere die Vorsicht außer Augen gesetzt, sich auf dem Verdeck fest zu binden, so wären sie wohl mit fortgespült worden.

Als Pencroff und seine Gefährten bei dieser Gelegenheit tüchtig zugreifen mußten, erhielten sie durch den Gefangenen plötzlich eine unerwartete Hilfe. Letzterer schwang sich durch die Luke herauf, so als ob der Instinct des Seemannes in seinem Innern obgesiegt hätte, zerschmetterte mit einer Spiere einen Theil der Schanzkleidung, und bahnte so dem Wasser auf dem Verdecke einen hinreichenden Ausweg; als das Schiff davon befreit war, stieg er, ohne ein Wort gesprochen zu haben, wieder nach dem Raume hinab.

Ganz erstaunt hatten Pencroff, Gedeon Spilett und Harbert ihn gewähren lassen.

Indessen war die augenblickliche Lage eine schlechte, und der Seemann hatte triftigen Grund, zu glauben, daß er sich auf dem unendlichen Meere verirrt und keine Aussicht habe, seinen Curs wieder zu finden.

Die Nacht vom 18. zu 19. war dunkel und kalt. Gegen elf Uhr legte sich aber der Wind, der Seegang fiel und der weniger umhergeworfene Bonadventure nahm eine größere Geschwindigkeit an. Uebrigens hatte er sich auf dem Meere ganz vortrefflich gehalten.

Weder Pencroff, noch Gedeon Spilett oder Harbert dachten auch nur daran, eine Stunde zu schlafen. Sie wachten mit größter Aufmerksamkeit, denn entweder konnte die Insel Lincoln nicht mehr entfernt sein, und mußte man sie mit Anbruch des Tages schon wahrnehmen, oder der Bonadventure war, durch Strömungen verschlagen, unter dem Winde abgewichen, und es schien dann fast unmöglich, seine Richtung wieder zu corrigiren.

Obwohl Pencroff im höchsten Grade beunruhigt war, so verzweifelte er, Dank seiner gestählten Seele, noch nicht, und suchte, am Steuer sitzend, das tiefe Dunkel zu durchdringen, das ihn rings umgab.

Gegen zwei Uhr Morgens erhob er sich plötzlich:

»Ein Feuer! Ein Feuer!« rief er.

Und wirklich, zwanzig Meilen im Nordosten glänzte ein deutlicher Lichtschein. Dort lag die Insel Lincoln, und jenes Licht, das Cyrus Smith offenbar aus Vorsicht angezündet hatte, bezeichnete den, einzuschlagenden Weg.

Pencroff, welcher zu weit nach Norden zu hielt, verbesserte seinen Curs und drehte nach jenem Lichte bei, das wie ein Stern erster Größe über dem Horizonte schimmerte.


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