Julius Verne
Eine Idee des Doctor Ox
Julius Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Capitel,
in welchem Bürgermeister und Rath dem Doctor Ox einen Besuch abstatten, und was sich darauf zuträgt.

Rath Niklausse und der Bürgermeister van Tricasse erfuhren endlich einmal, was eine aufgeregte Nacht bedeutet; der bedenkliche Vorgang im Hause des Doctor Ox verursachte Beiden wirkliche Schlaflosigkeit. Was würde diese Angelegenheit für Folgen haben? man konnte bis jetzt noch nichts Bestimmtes darüber in's Auge fassen. Wäre vielleicht eine Entscheidung zu treffen? Würden sie, als Vertretung der Municipalgewalt, genöthigt sein, sich in's Mittel zu schlagen? Sollten Edicte erlassen werden, damit ein derartiges Ereigniß nicht wieder vorkäme?

All diese Zweifel beunruhigten die weichen Naturen der beiden Räthe nur noch mehr. Uebrigens hatten sie an dem denkwürdigen Abend, bevor sie sich trennten, noch »entschieden«, daß sie sich am anderen Morgen wieder zusammenfinden wollten.

Am folgenden Morgen begab sich also der Bürgermeister schon vor dem Mittagessen in Person zu dem Rath Niklausse. Er hatte die Genugthuung, seinen Freund ruhiger zu finden, und auch er selbst gewann nach und nach seine Fassung wieder.

»Nichts Neues?« fragte Tricasse.

»Seit gestern nichts Neues.«

»Und der Arzt Dominique Custos?«

»Ich habe ebenso wenig von ihm wie von dem Advocaten André Schut etwas gehört.«

Nach einer Unterhaltung, die etwa eine Stunde währte, sich aber ohne Mühe in drei Zeilen zusammenfassen ließe, wurde von Bürgermeister und Rath beschlossen, daß sie dem Doctor Ox einen Besuch abstatten und ihn hierbei auf delicate Weise über die Vorgänge am verflossenen Abend ausholen wollten; natürlich ohne ihre Absicht merken zu lassen.

Als die beiden Herren, ganz ihrer sonstigen Gewohnheit zuwider, diese Entscheidung getroffen hatten, schritten sie sofort zur Ausführung des Plans. Sie verließen das Haus und steuerten auf die Anstalt des Doctor Ox zu, die vor dem Audenarder Thor gelegen war.

Bürgermeister und Rath gaben sich zwar nicht den Arm, gingen aber passibus aequis in langsamem, feierlichem Schritt einher, so daß sie nur etwa dreizehn Zoll in der Secunde vorwärts kamen. Es war dies, nebenbei bemerkt, der gewöhnliche Amtsschritt ihrer Verwaltungsuntergebenen, die seit Menschengedenken nicht in eiligem Tempo durch die Straßen von Quiquendone gegangen waren.

Von Zeit zu Zeit, wenn die beiden Notabeln an einem Kreuzweg der ruhigen, stillen Straßen ankamen, blieben sie stehen, um die Leute zu begrüßen.

»Guten Morgen, Herr Bürgermeister,« sagte hier Jemand.

»Guten Morgen, lieber Freund,« erwiderte leutselig Tricasse.

»Nichts Neues, Herr Rath?« fragte ein Anderer.

»Durchaus gar nichts«,« versetzte Niklausse.

Aber trotzdem sah man an einem gewissen fragenden Blick der Vorübergehenden, daß der scandalöse Auftritt vom vergangenen Abend bereits stadtbekannt geworden war, und auch der Stumpfsinnigste aller Quiquendonianer hätte durch die von den Herren eingeschlagene Richtung sofort errathen, daß ihr Gang mit dem betreffenden Ereigniß zusammenhing. Es hatten sich übrigens, trotzdem die Sache allgemein besprochen wurde, noch keine Parteien gebildet, denn sowohl Arzt wie Advocat waren in Quiquendone sehr geachtete Persönlichkeiten. Und wie sollten sie auch nicht? Hatte doch der Advocat Schut in dieser Stadt, wo Anwälte und Gerichtsdiener nur pro forma existirten, nie Gelegenheit gehabt, einen Proceß zu führen und demzufolge nie einen verloren; und was den Arzt Custos anlangte, so war er ein sehr ehrenwerther Practicus, der die Patienten von allen Krankheiten heilte – natürlich ausgenommen von derjenigen, an der sie starben. Es ist das eine leidige Gewohnheit, die von den Mitgliedern aller Facultäten, in welchem Lande sie ihre Kunst auch betreiben mögen, angenommen worden ist.

Als Herr van Tricasse und Rath Niklausse am Audenarder Thor ankamen, hielten sie es für angemessen, einen kleinen Bogen um den baufälligen Thurm zu machen. Man war doch nicht darüber sicher, was passiren konnte.

»Ich glaube wirklich, daß er einstürzen wird,« bemerkte Tricasse.

»Ich glaube es auch,« gestand Niklausse.

»Wenn man ihn nämlich nicht stützt,« fügte Tricasse hinzu, »aber ob man ihn stützen soll, das ist eben die Frage.«

»Und diese Frage müssen wir erörtern«, schloß der Rath.

Einige Augenblicke später langten die beiden Herren an der Thüre der Anstalt an.

»Ist Doctor Ox zu sprechen?« fragten sie.

Natürlich war Doctor Ox für die ersten Behörden der Stadt immer zu sprechen, sie wurden gebeten, näher zu treten, und befanden sich bald in dem Zimmer des berühmten Physiologen.

Die beiden Notabeln hatten hier eine gute Zeit – es mochte eine Stunde sein – zu warten; zum ersten Mal in seinem Leben gab der Bürgermeister Zeichen von Ungeduld, und auch sein Begleiter fühlte sich nicht ganz frei von solchen Anwandlungen.

Endlich trat Doctor Ox ein und entschuldigte sich, daß er die Herren so lange habe warten lassen; es sei ihm soeben der Plan zu einem Gasometer vorgelegt worden, an dem eine Verzweigung zu rectificiren gewesen wäre u. s. w.

Uebrigens ginge Alles rüstig vorwärts, die für das Oxygen bestimmten Leitungen seien bereits gelegt, und binnen wenigen Monaten würde die Stadt mit brillanter Beleuchtung ausgestattet sein. Die beiden Notabeln hatten schon mit Genugthuung die Röhrenmündungen bemerkt, die in das Arbeitszimmer des Doctors ausliefen.

Sodann erkundigte sich der Doctor nach dem Motiv, das ihm die Ehre verschaffe, den Herrn Bürgermeister und Rath Niklausse bei sich zu sehen.

»Nun, wir wollten einmal bei Ihnen vorsprechen, um Sie zu sehen, Herr Doctor,« begann Tricasse; »es ist geraume Zeit her, daß wir das Vergnügen hatten. In unserer guten Stadt Quiquendone kommen wir wenig aus dem Hause, und unsere Schritte sind genau abgemessen. Wir finden es eben am besten, wenn das Gleichgewicht durch nichts gestört wird.«

Niklausse sah seinen Freund erstaunt an; niemals, so lange er ihn kannte, hatte der Bürgermeister so lange hinter einander gesprochen, so viel gesagt, ohne seine Sätze durch breite Pausen zu trennen. Es schien beinahe, als drückte sich Tricasse mit einer gewissen Zungengeläufigkeit aus, die bei ihm vollständig abnorm war. Niklausse selber verspürte, ob von solchem Beispiel angestachelt oder durch irgend einen andern Beweggrund veranlaßt, eine unwiderstehliche Lust, sich in's Gespräch zu mischen.

Doctor Ox schaute den Bürgermeister mit einem eigenthümlich boshaften Zuge um den Mund aufmerksam an.

Tricasse, der sonst immer erst auf eine Discussion einging, wenn er sich bequem in einem Lehnsessel eingeschachtelt hatte, führte heute seine Unterredung stehend. Eine sonderbare, nervöse Überreiztheit, die bis jetzt seiner Gemüthsstimmung ganz fern gelegen hatte, erfaßte ihn von Minute zu Minute mehr. Noch gesticulirte er zwar nicht, aber auch das konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Was Rath Niklausse anlangt, so rieb er sich mit steigender Vehemenz die Schenkel und holte tief und schwer Athem, wie Jemand, der nur auf die Gelegenheit wartet, dem Freunde und Vertrauten beizuspringen.

Van Tricasse war, wie bereits erwähnt, aufgestanden, hatte einige Schritte gethan und sich schließlich dem Doctor gerade gegenüber gestellt.

»Und in wie viel Monaten gedenken Sie mit Ihren Arbeiten fertig zu werden, Herr Doctor?« fragte er jetzt mit leichter Betonung.

»In einem Vierteljahr oder etwas darüber,« antwortete Doctor Ox.

»Also in drei bis vier Monaten,« meinte der Bürgermeister; »das ist noch lange hin, Herr Doctor.«

»Ja, gewiß, viel zu lange!« fügte Niklausse hinzu, der sich nicht länger auf seinem Platz halten konnte und gleichfalls aufgesprungen war.

»Wir brauchen diese Zeit nothwendig für unsere Zurüstungen,« entgegnete der Doctor; »die Arbeiter – wir haben sie hier aus der Bevölkerung von Quiquendone wählen müssen – sind eben nicht sehr rasch und gewandt.«

»Wie, die hiesigen Arbeiter wären Ihnen nicht rasch und gewandt genug?« rief der Bürgermeister, der diese Aeußerung als eine persönliche Beleidigung aufzufassen schien.

»Nein, Herr Bürgermeister, das kann man wohl nicht behaupten,« erwiderte der Doctor nicht ohne Absicht. »Ein französischer Arbeiter würde an einem Tage mehr leisten, als zehn von Ihren Leuten in derselben Zeit. Sie wissen, es sind echte Flamänder! . . .«

»Wie, Flamänder!« rief Rath Niklausse, und seine Fäuste ballten sich; »was für eine Bedeutung verbinden Sie mit diesem Wort, wenn man fragen darf, Herr?«

»Nun, die – liebenswürdige Bedeutung, die ihm von Jedermann beigelegt wird,« begütigte lächelnd der Doctor.

»Aber, Herr Doctor,« begann von Neuem der Bürgermeister, indem er das Zimmer von einem Ende bis zum andern durchmaß, »ich muß mir die Bemerkung erlauben, daß ich dergleichen Insinuationen durchaus nicht liebe. Die Handwerker Quiquendone's können es mit den Arbeitern jeder andern Stadt aufnehmen, und wir gedenken, weder in Paris noch London in dieser Beziehung unsere Vorbilder zu suchen. Was Ihre Zurüstungen betrifft, so muß ich dringend bitten, sie so sehr wie irgend möglich zu beschleunigen. Das Straßenpflaster ist, wie Sie wissen, zur Legung der Röhren aufgerissen, und das ist ein sehr unangenehmes Hinderniß für den Verkehr. Der Handel könnte sich schließlich beklagen, und ich, als erster Verwaltungsbeamter der Stadt, möchte mir nicht so gerechtfertigte Vorwürfe zuziehen.«

Der wackere Mann! er hatte von Handel und Verkehr gesprochen, und die so ungewohnten Worte waren ihm nicht in der Kehle stecken geblieben? Aber was in aller Welt war denn plötzlich mit ihm vorgegangen?

»Uebrigens kann die Stadt nicht länger die Beleuchtung entbehren,« fügte Rath Niklausse hinzu.

»Eine Stadt, die seit acht- bis neunhundert Jahren ohne dieselbe fertig geworden ist . . .« meinte der Doctor in zweifelndem Ton.

»Nur noch ein Grund mehr für unsere Behauptung,« nahm der Bürgermeister wieder das Wort, indem er jede Sylbe nachdrücklich betonte; »andere Zeiten, andere Sitten! Der Fortschritt macht sich überall geltend, und wir gedenken nicht hinter unserer Zeit zurückzubleiben. Wir erwarten bestimmt, daß unsere Stadt in einem Monat Beleuchtung hat, oder Sie werden für jeden Tag der Verzögerung eine bedeutende Geldbuße erlegen. Was für unberechenbare Folgen könnte es z. B. haben, wenn sich in den finsteren Gassen ein Streit entspänne!«

»Gewiß!« rief Niklausse, »und es bedarf nur eines Funkens, um den Flamänder in Feuer zu bringen. Flamander, flamm an!«

»A propos,« fiel ihm der Bürgermeister in's Wort, »der Commissar Passauf, das Oberhaupt der städtischen Polizei, hat uns von einem Streit Mittheilung gemacht, der gestern Abend in Ihren Salons, Herr Doctor, stattgefunden haben soll. Wenn mir recht berichtet ist, so hat es sich um eine politische Discussion gehandelt?«

»Das kann ich allerdings nicht in Abrede stellen, Herr Bürgermeister,« erwiderte Doctor Ox, der nur mit Mühe ein Lächeln der Befriedigung unterdrücken konnte.

»So beruht also diese unangenehme Differenz zwischen dem Arzt Dominique Custos und dem Advocaten André Schut wirklich auf Wahrheit?«

»Ja, Herr Rath, aber die Ausdrücke, deren sich die Herren bedienten, hatten durchaus nichts Bedenkliches.«

»Wie, nichts Bedenkliches?« rief der Bürgermeister; »Sie halten es nicht für bedenklich, wenn ein Mann dem andern in's Gesicht sagt, er messe die Tragweite seiner Worte nicht ab? Aus was für einem Teig sind Sie denn gebacken, Herr, wenn Sie nicht wissen, daß es in Quiquendone keines weiteren Anlasses bedarf, um die bedauerlichsten Folgen herbeizuführen? Ich kann Sie versichern, Herr, wenn Sie oder sonst Jemand sich erlaubte, so mit mir zu sprechen . . .«

»Oder mit mir . . .« fügte Rath Niklausse hinzu.

Als die beiden Notabeln ihrem Groll in diesen Worten Luft gemacht hatten, sahen sie dem Doctor Ox mit so drohender Miene und emporsträubendem Haar in's Gesicht, als seien sie bereit, bei dem geringsten Widerspruch in Wort, Geberde oder Blick, ihm übel mitzuspielen.

Aber der Doctor verzog keine Miene.

»Jedenfalls gedenke ich Sie für das, was in Ihrem Hause vorgeht, verantwortlich zu machen,« nahm der Bürgermeister wieder das Wort. »Ich bürge für die Ruhe der Stadt Quiquendone und werde die ernstesten Maßregeln ergreifen, damit dieselbe nicht wieder gestört wird. Dinge, wie sie gestern Abend in diesem Hause geschehen sind, werden in Zukunft nicht wieder vorkommen, ohne daß von meiner Seite strenges Einschreiten erfolgt. Haben Sie mich verstanden? Aber so antworten Sie doch, Herr!«

Als der Bürgermeister so sprach, schwoll seine Stimme in zornigem Tonfall so an, daß man ihn vor dem Hause hätte vernehmen können. Als er sah, daß Doctor Ox nicht das Geringste auf seine Herausforderung erwiderte, gerieth er vollends außer sich:

»Kommen Sie, Niklausse«, rief er wüthend, warf die Thüre mit einer Heftigkeit in's Schloß, daß das ganze Haus erdröhnte, und zog den Rath mit sich fort.

Als die Herren einige zwanzig Schritt auf freiem Felde gemacht hatten, beruhigten sich allmälig ihre Nerven, ihr Schritt mäßigte sich mehr und mehr, und die dunkle Zornesröthe auf ihren Wangen verwandelte sich wieder in das frühere matte Rosa.

Eine Viertelstunde nachdem sie die Anstalt verlassen hatten, wandte sich Tricasse zu seinem Rath und sagte mit sanfter, quiquendonianischer Stimme:

»Wirklich ein liebenswürdiger Mensch, dieser Doctor Ox; ich muß gestehen, daß ich ihn immer mit dem größten Vergnügen besuche.«

 


 << zurück weiter >>