Julius Verne
Eine Idee des Doctor Ox
Julius Verne

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Viertes Capitel,
in dem sich Doctor Ox als Physiolog ersten Ranges und als kühner Experimentator erweist.

Wer war der Doctor Ox, diese Persönlichkeit, die unter so sonderbarem Namen schon mehrmals in unserer Erzählung erwähnt wurde?

Jedenfalls ein Original; zugleich aber ein genialer Gelehrter, ein Physiolog, dessen Arbeiten in der ganzen Gelehrtenwelt Europas hoch angesehen waren; der glückliche Nebenbuhler eines Davy, Dalton, Bostock, Menzies, Godwin, Vierordt und all der geistvollen Männer, welche die Physiologie in der neuern Zeit zu einer Wissenschaft ersten Ranges erhoben hatten.

Doctor Ox war von mittlerer Größe, mittlerer Stärke, im Alter von . . . aber nein, wir können seine Jahre ebenso wenig wie seine Nationalität genau bestimmen. Auch thut das nichts zur Sache; es ist genug, wenn wir wissen, daß Doctor Ox ein eigenthümlich heißblütiger, excentrischer Mensch war, den man in Verdacht haben konnte, daß er einem Bande Hoffmann's entsprungen sei. Daß dieser Mann mit den Bewohnern von Quiquendone einen eigenthümlichen Contrast bildete, bedarf nach dieser Beschreibung keines besonderen Wortes.

Auf sich und seine Lehren setzte Doctor Ox ein unerschütterliches Vertrauen, und wenn er mit erhobenem Haupt und lächelndem Blick, den hübschen, schlanken Schultern und weitgeöffneten Nüstern einherging und in mächtigen Zügen mit seinem großen Munde die Luft einsog, machte er einen gefälligen Eindruck. Er war lebhaft, sehr lebhaft sogar, durchaus proportionirt, munter und hatte Quecksilber in den Adern und hundert Nadeln in den Füßen. Es war ihm unmöglich, längere Zeit ruhig an einer Stelle zu bleiben, und leidenschaftliche Geberden wie übereilte Worte entfuhren ihm in Menge.

War dieser Doctor Ox denn reich, daß er auf eigene Kosten die Beleuchtung der ganzen Stadt bestreiten wollte?

Doch wohl, da er sich solche Ausgaben gestatten konnte. Aber dies ist auch die einzige Antwort, die wir auf solche indiscrete Frage geben können.

Doctor Ox hatte sich seit fünf Monaten in Quiquendone niedergelassen, und zwar in Gesellschaft seines Famulus Gédéon Ygen, der nicht weniger lebhaft als sein Herr, aber ein großer, schmaler, hagerer Mann war.

Weshalb nun hatte dieser Doctor Ox, und noch dazu auf seine eigene Kosten, die Beleuchtung der Stadt in Submission genommen, und warum gerade die Quiquendonianer, diese Flamänder aller Flamänder, auserwählt, um sie mit den Wohlthaten seiner alles übertreffenden Beleuchtung zu beglücken? Wollte er unter diesem Vorwande ein großes physiologisches Experiment erproben und so in anima vili arbeiten? Auf all diese Fragen müssen wir die Erwiderung schuldig bleiben, denn Doctor Ox hatte keinen anderen Vertrauten als seinen Famulus Ygen, und dieser gehorchte ihm blindlings.

Allem Anscheine nach war aber Doctor Ox die Verpflichtung eingegangen, der Stadt eine Beleuchtung zu verschaffen, und diese war einer solchen bedürftig; »besonders in der Nacht«, bemerkte fein der Commissar Passauf. So war eine Anstalt für die Erzeugung des Leuchtgases hergestellt worden, die Gasometer standen bereit zum Arbeiten, und die Leitungsröhren, die unter dem Straßenpflaster circulirten, sollten binnen Kurzem in Gestalt von Brennern in öffentliche Gebäude und sogar einige Privathäuser von Freunden des Fortschritts auslaufen.

Van Tricasse in seiner Eigenschaft als Bürgermeister, und Niklausse als Rath, wie auch einige andere Notabeln der Stadt, hatten geglaubt, die Einführung dieser modernen Beleuchtung in ihren Wohnungen autorisiren zu müssen.

Wenn der Leser es während der langen Unterhaltung von Bürgermeister und Rath nicht vergessen hat, wird er sich der Bemerkung erinnern, daß die Stadt nicht durch die Verbrennung des gewöhnlichen Kohlenwasserstoffs beleuchtet werden sollte, den die Destillation der Steinkohle liefert, sondern durch Anwendung eines neueren, zwanzig Mal intensiveren Gases, des Oxyhydrogengases, das durch Mischung von Hydrogen und Oxygen hervorgebracht wird.

Nun wußte aber der Doctor als geschickter Chemiker und geistreicher Physiker dies Gas in großer Masse und zu sehr wohlfeilem Preise zu erzeugen; nicht etwa durch Anwendung des mangansauren Natrons nach dem Verfahren des Herrn Tessié du Motay, sondern einfach durch Zerlegung des leicht gesäuerten Wassers vermittelst einer aus neuen Elementen zusammengesetzten und von ihm erfundenen Säule. Also keine kostspieligen Substanzen; kein Platina, keine Retorten, kein Brennstoff, kein empfindlicher Apparat, um die beiden Gase isolirt zu erzeugen. Ein elektrischer Strom durchfuhr ungeheure, mit Wasser angefüllte Kübel, und das flüssige Element wurde in seine beiden wesentlichen Theile, Sauerstoff und Wasserstoff, zerlegt. Der Sauerstoff ging auf die eine, der Wasserstoff, in doppeltem Volumen wie sein ehemaliger Begleiter, auf die andere Seite. Beide wurden in getrennten Behältern gesammelt – eine sehr wesentliche Vorsichtsmaßregel, denn ihre Mischung hätte eine furchtbare Explosion hervorgerufen, so wie sie entzündet worden wäre. Dann sollten sie in gesonderten Röhren zu den verschiedenen Brennern geleitet werden, und diese waren in einer Weise construirt, die jede Explosion verhinderte. So mußte ein ganz außerordentlich glänzendes Licht entstehen, eine Flamme, die mit dem elektrischen Licht rivalisirt, das (wie wohl allgemein bekannt) nach den Versuchen Casselmann's dem Licht von genau 1171 Kerzen gleichkommt.

Durch diese freigebige Kombination sollte die Stadt Quiquendone eine wahrhaft großartige Beleuchtung bekommen; darüber aber machten sich, wie wir alsbald sehen werden, Doctor Ox und sein Famulus die allergeringste Sorge.

Am folgenden Morgen, nachdem der Commissar Passauf in so ungeheuerlicher Weise im Bürgermeisterhause erschienen war, plauderten Gédéon Ygen und Doctor Ox mit einander in dem Arbeitszimmer, das Beide parterre im Hauptgebäude der Anstalt inne hatten.

»Nun, Ygen!« rief Doctor Ox und rieb sich vergnügt die Hände; »Sie haben gestern bei unserm Empfangsabend die guten Quiquendonianer kennen gelernt, diese kaltblütigen Leute, die an Lebhaftigkeit zwischen Schwämmen und Korallengewächsen die Mitte halten. Sie haben gesehen, wie sie sich mit Wort und Geberde herausforderten und schon anfangen, sich moralisch und physisch zu metamorphosiren. Und doch war das nur eben ein Anfang! Geben Sie Acht, was aus der Gesellschaft wird, wenn wir anfangen, sie mit starken Dosen zu behandeln.«

»Allerdings, mein Herr und Meister,« erwiderte Gédéon Ygen und rieb seine spitze Nase mit dem Zeigefinger; »der Versuch fängt gut an. Wenn ich nicht selbst vorsichtig den Hahn zugedreht hätte, weiß ich nicht, was passirt wäre.«

»Sie haben gehört, wie dieser Advocat Schut und der Doctor Custos mit Redensarten auf einander losgingen,« hub Doctor Ox wieder an, »und wenn ihre Worte auch an und für sich nicht so schlimm waren, wie die Helden Homer's sie einander an die Köpfe zu werfen pflegten, ehe sie das Schwert aus der Scheide zogen, für Quiquendonianer waren sie doch schon recht nett. Ach diese Flamänder! Nun, Sie werden sehen, Ygen, was wir noch an ihnen erleben werden.«

»Undankbarkeit werden wir an ihnen erleben,« sagte Gédéon Ygen im Ton eines Menschen, der das Geschlecht der Erdenbürger nach seinem richtigen Werth zu schätzen weiß.

»Bah!« rief der Doctor, »ob sie uns Dank wissen oder nicht, wenn nur unser Versuch gelingt.«

»Ist übrigens nicht für die Lungen der guten Leute in Quiquendone zu fürchten, wenn wir in ihren Respirationsapparaten solche Aufregung hervorrufen?«

»Schlimm für sie,« meinte Doctor Ox; »es geschieht eben im Interesse der Wissenschaft. Was würden Sie, Ygen, dazu sagen, wenn es Hunden oder Fröschen auf einmal einfallen wollte, sich unseren Vivisectionsversuchen zu widersetzen?«

Wenn man Frösche und Hunde um ihre Meinung in dieser Angelegenheit fragen wollte, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach gegen die Künste der Vivisectoren Einsprache erheben; aber Doctor Ox glaubte ein unwiderlegliches Argument ausgesprochen zu haben, denn er ließ einen gewaltigen Seufzer der Befriedigung hören.

»Sie haben eigentlich recht, Meister,« erwiderte Gédéon Ygen überzeugt. »Wir hätten nichts Besseres zu unserem Experiment finden können, als dies Quiquendone.«

»Absolut nicht,« bestätigte der Doctor mit nachdrücklicher Betonung.

»Haben Sie den Creaturen ihren Puls gefühlt?«

»Wohl hundert Mal.«

»Und die Durchschnittszahl der beobachteten Pulsschläge?«

»Nicht fünfzig in der Minute. Verstehen Sie mich recht, Ygen, eine Stadt, in der seit einem Jahrhundert nicht der Schatten einer Discussion vorgekommen ist, in der die Fuhrleute nicht fluchen, die Kutscher sich nicht schimpfen, die Pferde nicht durchgehen, die Hunde nicht beißen, und die Katzen nicht kratzen! eine Stadt, in der das einfache Polizeigericht von einem Ende des Jahres bis zum anderen feiert! eine Stadt, in der man sich weder für Industrie noch Kunst interessirt! eine Stadt, in der die Gensdarmen in die Zeit der grauen Mythe gehören, und in der seit einem Jahrhundert kein Protokoll aufgenommen ist! eine Stadt endlich, in der seit dreihundert Jahren kein Faustschlag und keine Ohrfeige ausgetheilt wurde! Sie werden sich selber sagen können, Meister Ygen, daß dieser Zustand nicht länger fortdauern kann, und wir das Alles umgestalten müssen.«

»Vorzüglich! ganz vorzüglich!« rief der Famulus begeistert. »Haben Sie auch schon die Luft hier in der Stadt analysirt, Meister?«

»Ist bereits geschehen,« versetzte Doctor Ox; »neunundsiebenzig Theile Stickstoff und einundzwanzig Theile Sauerstoff, Kohlensäure und Wasserdampf in veränderlicher Menge. Das sind die gewöhnlichen Verhältnisse.«

»Gut, Doctor, gut; der Versuch wird im Großen angestellt werden und jedenfalls entscheidend sein,« meinte schließlich Ygen.

»Und wenn er entscheidend ist,« rief Doctor Ox triumphirend, »werden wir die Welt reformiren.«

 


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