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Tokitsukaze
eda wo narasanu
miyo nareya
Es ist die Stunde, in der
kein Luftzug die Zweige
säuseln macht.
Es war der Augenblick, in dem man einen schwarzen Faden nicht mehr von einem roten Faden unterscheiden kann; ich ging vor der großen Pforte hin und her und sah scharf nach all denen, die herauskamen; ein riesiger Mond stieg am Horizont empor; alles war von Geheimnis erfüllt; ich fühlte, daß sie nahe war.
In der Tat sah ich eine lange schlanke Gestalt in weißem Schleier auf mich zukommen.
Sie war es. Mit leiser Stimme sprach sie zu mir:
»Erkennt Ihr mich, Otani San?«
»Ich erkenne Eure Stimme, Geliebte.«
»Bin ich wirklich noch Eure Geliebte?«
»Ihr seid immer noch meine sehr Geliebte, und seid es noch mehr, weil Ihr gelitten habt, und weil Ihr, des bin ich sicher, mir in Eurem Herzen treu geblieben seid.«
»Ich bin Euch treu geblieben, Otani San, mehr als Ihr glaubt. Ich war nicht ... was die meisten dieser Mädchen sind; ich war eine Geisha; ich sang nur ...«
»Ihr sanget den Traum von Otani?«
»Ihr habt es gehört?«
»Ich habe es geträumt, Miyoko San.«
Wir faßten uns an der Hand wie einst und gingen aufs Geratewohl durch die Straßen der Stadt, in der die Laternen aufleuchteten.
* * *
Am andern Abend klopften wir an die Türe meines alten Freundes Itaro San.
»Itaro San! Wir sind es! Wir wollen uns auf die Insel der ewig Liebenden flüchten. Wir wollen beide dort leben, ganz allein oder auch mit Euch, Itaro San, wenn Ihr wollt.«
»Meine Kinder, ihr seid verrückt! Aber ihr habt recht, das einzig Schöne in der Welt ist, närrisch zu sein ... Ich bin zu vernünftig gewesen; ich tat mir etwas darauf zugute und jetzt bereue ich es. Jetzt bin ich zu alt, um es noch zu ändern; ich bin leider zur Entsagung verurteilt bis zum Tode ...«
Und während er so über die Torheit, die Liebe und die Weisheit redete, lichtete der wackere Itaro den Anker, schob die Barke ins Wasser, spannte das Segel aus, und wir fuhren über die Bucht, die flach dalag wie ein Spiegel, sanft und geräuschlos dahin; kaum daß man das Kosen des Wassers vernahm, das der Kiel teilte. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Das Meer liegt schwarz da, alles ist schwarz; eine Traurigkeit beschleicht mich, eine Traurigkeit? Woher? Vom Übermaß des Glücks? Weil der Traum sich endlich erfüllt hat? Wie jammervoll steht es doch um mein Herz! Wenn es hat, was es wollte, ist es enttäuscht und traurig ...
* * *
Unruhig sah Miyoko mich an.
»Was habt Ihr, Otani San? Seid Ihr nicht glücklich?«
»Ich bin sehr glücklich, meine Geliebte.«
»Woran dachtet Ihr? ...«
»An Euch, Miyoko San; und dann erinnerte ich mich an eine Ausfahrt in der Barke mit dem wackeren Itaro hier ... Ich sagte zu ihm; Itaro San, wißt Ihr, wie die jungen Mädchen heißen aus dem Teehause unter den Ahornbäumen? – Und er antwortete mir: Ich weiß es. Der Name der einen ist Umeno, der der anderen Miyoko. Dann sind wir an der Insel der ewig Liebenden gelandet, nach der wir heute Abend fahren und hörten auf dem Meere das alte Hochzeitslied ertönen ...
shi-kai nami
shizika nite
»Erinnert Ihr Euch, Itaro San, an jene Barke, in der niemand war, an jene Barke ohne Ruder und ohne Segel, in der irgend jemand sang, der unsichtbar war?«
»Otani San, es waren die Seelen der Liebenden, die über das Meer zogen ...«
* * *
Auch heute Abend müssen Seelen auf dem Meere sein: die Luft ist süß: man fühlt sich eingehüllt; etwas umgibt uns; am Horizont steigt der Mond auf und wirft einen langen Streifen Goldes auf das ruhige Wasser. Eine geheimnisvolle Helle ist um uns. Die Augen Miyokos blicken so sanft und süß, daß ich Reue empfinde, weil ich mich nicht so glücklich fühle, wie sie es wünschte. Vielleicht bin ich ihrer nicht würdig? Vielleicht ist mein immer unruhiges Herz nicht fähig, das Glück zu ertragen?
* * *
Wir landen im Mondschein. Miyoko ist bewegt; sie schmiegt sich an mich.
»Ja es ist schön! Ich rieche Blumen. Ich fühle den Geruch der Fichten und Kirschbäume.«
»Wollt Ihr hier leben, o sehr Geliebte?«
»Mit Euch, Otani San.«
»Für immer?«
»Für immer.«
»Werdet Ihr Euch nicht langweilen, ganz allein mit mir?«
»Nein, niemals.«
Itaro näherte sich uns und sagt:
»Sayonara, meine kleinen Narren.«
»Wie, warum Sayonara?«
»Ich fahre fort und werde morgen früh wiederkommen.«
»Warum wollt Ihr fortfahren?«
»Habt Ihr denn nicht daran gedacht, daß Ihr nichts zu essen habt? Und wenn hier keine Quelle ist, nichts zu trinken? Morgen früh werde ich nach dem Dorfe hinaufgehen und Vorräte für Euch kaufen; dann werdet Ihr Euch eine Hütte bauen und das Leben praktisch einrichten müssen.«
»Das ist wahr, Itaro San, und Ihr habt recht, an all das hatte ich nicht gedacht.«
»Ich auch nicht,« sagte Miyoko, »ich hatte ans Leben gar nicht gedacht ...«
Und Itaro steigt wieder in seine Barke, läßt das Segel sich im Winde von der Seite her füllen, wendet und fährt davon.
»Sayonara!«
»Sayonara!«
Und wir sehen die Barke über das Wasser gleiten und sich entfernen.
Bald sehen wir sie nicht mehr. Sie ist in dem schwachen Lichte verschwommen und über dem endlos unendlichen Meer liegt nunmehr das Schweigen. Und wir sehen uns an, verstört durch diese ungeheure Einsamkeit; und wir schließen einander in die Arme, um nur zu fühlen, daß wir Zwei sind ...
* * *
Bis dahin hatte ich Frauen und Männer gekannt, jetzt hatte ich einen Engel neben mir. Von ihr geliebt zu werden, schien mir ein Wunder, und sie zu lieben eine Entweihung. Wie hatten nur die Blicke und Stimme Umenos mich einen Augenblick verwirren können? Umeno war nur ein Weib, hübsch ohne Zweifel, und leidenschaftlich und zärtlich ... o! warum denke ich noch an sie? Ich will ja nicht, ich will ja nicht mehr; ich muß Miyoko lieben, Miyoko, die himmlische ...
* * *
Es ist Morgen.
Sie pflückt eine rote Blume, gibt sie mir mit innigem Lächeln und wir gehen, einander an den Händen haltend, bis zum Ufer.
»Dort hinten, ganz ferne, seht Ihr, sehr Geliebte?«
»Ein kleines Segel am Horizont?«
»Das ist Itaro, der zu uns zurückkehrt.«
Der Himmel ist blau, das Meer ist blau, und auf der Insel der ewig Liebenden herrscht Freude, eine sanfte kindliche Freude.
* * *
Es ist die Stunde, in der kein Luftzug in den Zweigen säuselt. Eine Woche ist in Süßigkeit vergangen, in Süßigkeit ... es war zu süß.
Jene Stille, die ich ersehnte, als ich sie nicht hatte, ermüdet mich jetzt; das Blut braust in meinen Ohren und ich bin gereizt. Und dieser ewig blaue Himmel, dieses immer ruhige Meer, dieses Engelslächeln, diese geräuschlose Liebe, die kein Wölkchen trübt, – sollte ich all dessen schon müde sein? Ich habe alles, was ich geträumt habe: ich habe die vollkommene Liebe in einem vollkommenen Rahmen, und ich bin nicht glücklich. Wie jammervoll ist es doch um mein Herz bestellt?!
Ich erinnere mich einer Fabel, die meine Großmutter mir erzählte: Es war einmal ein verwöhntes Kind, anspruchsvoll und schlimm, das ein Geist nach dem Berg der befriedigten Wünsche entführte.
Das Kind hat alles, was es will; aber seine Freude daran dauert nur einen Tag; am nächsten Tag langweilt es sich, und am übernächsten wird es wütend und schreit: So weigert mir doch irgend etwas, ich will arbeiten, kämpfen, leiden müssen ...
* * *
Zwei weitere Wochen waren vergangen. Unsere Hütte war fertig. Sie war klein und unbequem.
Eines Abends sagte Miyoko zu mir: »Otani San, ich sehe, daß Ihr Euch alle Tage ein wenig verändert ... Ihr langweilt Euch? Ihr bedauert, hierhergekommen zu sein?«
»Nein, Miyoko San, ich bedaure nichts.«
»Wollt Ihr zu den andern Menschen zurückkehren?«
»Wenn Ihr wollt.«
»Ich bin Euch nicht mehr genug, mein Geliebter, ich bin Euch allein nicht mehr genug; ich fühle es ...«
Sie weinte, und ich konnte sie nicht trösten.
* * *
Am andern Tag regnete es ohne aufzuhören. Unsere Hütte war düster. Miyoko sprach nicht. Ich sah in den Regen hinaus. Ein Satz kam mir in Erinnerung:
»Ein gleiches Gewitter tobte in der Nacht, in der mein Freund und mein Gatte, einer nach dem andern, nach dem Lande Yomi hinabgestiegen sind.«
Und dieser Satz löst alles andere aus, und die Erinnerung an Umeno weicht nicht mehr aus meiner Seele.
Ich sehe sie wieder vor mir, Umeno, ich höre wie sie zu O'Matsu sagt:
»Niemals hatte ich, niemals werde ich eine so tiefe, eine so starke, eine so königliche Lust empfinden ...«
Diese einfachen Worte erregen mein Fleisch. Und dieses Fleisch bereut es, dieses Weib zurückgewiesen zu haben, als es sich mir darbot.
Draußen liegt alles im Nebel; man sieht nur Regen, Regen ...
* * *
Eines Morgens, als ich erwachte, sah ich Miyoko, sehr bleich, neben mir knien.
»Was habt Ihr, süße Geliebte?« fragte ich.
»Ich bin nicht mehr Eure Geliebte, Otani San, und da ohne Eure Liebe das Leben mir nichts mehr gilt, so bleibt mir nichts übrig, als zu sterben.«
»Was sagt Ihr? Ihr erschreckt mich!«
»Ich sage die Wahrheit, mein süßer Freund.«
»Ihr wißt wohl, daß ich Euch liebe, und daß ich ohne Euch nicht leben könnte.«
»Ihr irrt Euch, Otani San, Euer Herz liebt eine andre Frau ... meine guten Geister hatten es mir gesagt; ich glaubte ihnen nicht, wollte ihnen nicht glauben, aber diese Nacht hat Euer Herz im Traum gesprochen, und ich habe den Namen der andern gehört ...«
Und ich wage nicht, nach dem Namen der andern zu fragen, aus Furcht »Umeno« zu hören und meine Bewegung nicht verbergen zu können.
* * *
Am Abend dieses selben Tages sprach sie zu mir: »Mein Geliebtester, ich habe Euch sehr geliebt. Hier, bewahret dies zur Erinnerung an mich; auch dies,« – sie gab mir alles was sie bei sich haben konnte, dann schnitt sie sich eine lange Haarlocke ab, die sie um mein Handgelenk wickelte. Und da sie nicht weinte, sondern lächelte, so hielt ich es für ein Kinderspiel und sagte mir: ich werde schon die richtigen Worte finden, um sie zu trösten und sie den Kummer, den sie heute hat, vergessen zu machen.
Sie sah mich an und lächelte immerfort.
Endlich stand sie auf und sagte:
»Jetzt lasset mich, ich bitte Euch darum; ich möchte die Götter um ihren Schutz bitten.«
Sie ging hinaus; trotz ihrer Bitte folgte ich ihr in einiger Entfernung. Da sie so ruhig gewesen war, fühlte ich nicht allzuviel Unruhe. Sie stieg auf einen Felsen, der über das Meer hinausragte. An seinem Rande angelangt, wendete sie sich um, sah mich, grüßte mich mit einem letzten Lächeln und stürzte sich hinab.
Ich lief, ich eilte zum Strand hinunter und sprang ins Wasser. Ich schwamm, ich tauchte; ich durchsuchte die Höhlung, die das Meer unter den Felsen ausgespült hatte. Endlich gelang es mir, sie zu finden und sie ans Ufer zurückzubringen: aber es war nur mehr ein Körper ohne Leben.
* * *
Und jetzt, da ich sie nicht mehr hatte, war mein Herz von Reue völlig zerrissen. Ich liebte sie im Tode, wie ich sie nie im Leben geliebt habe. Sie hatte gelächelt, ehe sie von hinnen ging, und ich, ich weinte jetzt wie ein Weib. Ich schalt mich undankbar, feig und böse, und auf den Knien, meinen Mund auf ihren Mund gedrückt, bat ich um ihre Verzeihung und versprach ihr, mit ihr nach dem Lande Yomi hinabzusteigen.
Ich trug ihren Körper bis zur Hütte, die wir erbaut hatten, um zusammen darin zu leben, und die uns nun zum Grab dienen sollte. Ich legte sie auf ihr Bett, vorsichtig, wie eine Mutter ihr Kind niederlegt. Ich sprach die Totengebete. Ich schrieb ihren Namen und meinen auf kleine Tafeln und verbrannte Weihrauch; dann bedeckte ich sie ganz mit Blumen, die wir beide tags zuvor gepflückt hatten. Und als nur mehr ihre Augen und ihr Mund aus dieser Blütendecke hervorsahen, gab ich ihr andachtsvoll den letzten Kuß, und ohne meine Lippen von den ihren zu trennen, durchschnitt ich mir die Kehle. All mein Blut ergoß sich auf sie, die ich nicht zu lieben gewußt hatte. Einen Augenblick fühlte ich einen sehr heftigen Schmerz; aber bald ergriff mich eine Schlaffheit, es wurde leer in mir; meine Kräfte schwanden, ich wurde immer schwächer, und meine Seele entfloh sanft aus meinem Leibe.