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Meine Erinnerungen an diese Zeit sind unbestimmt und verworren; die Frauengesichter, die ich auf meinem Wege traf, diese reizenden Gesichter, die ein Lächeln erhellte, vermengen sich mit den Blättern, den Blüten, den Flüssen, den Tempeln, den ruhigen heiteren Augen der Götter; alles verschwimmt in einer blauen Dämmerung, in der die Wirklichkeit die Gestalt von Träumen annahm.
Nur die letzte Nacht dieser abenteuerlichen Wanderung wird mir nie aus dem Gedächtnis schwinden: ihre kürzesten Minuten schlagen wie Stunden in meiner Seele, und manche ihrer Stunden scheinen mir lang wie Jahre.
Ich sehe ihn noch vor mir, jenen Hohlweg, in dem die Fichtennadeln in der lauen Dämmerung eines herrlichen Sommertages einen weichen und knisternden Teppich bildeten, ich sehe ihn deutlicher vor mir, als die verstümmelten Bäume, die hier vor uns stehen, als dieses Stück Mauer, diesen weißen Staub ...
* * *
Ja, ich sehe ihn, diesen Hohlweg, ich bin noch dort: der Abend ist hell; der Mond steht bleich am Himmel; ich bin allein.
Aber da, über einen Fußsteig zur Rechten, kommt eine Frau herabgestiegen, die Flüche murmelt. Ich vernehme die Worte: Liebe, Täuschung und Lüge.
Dann erscheint eine zweite Frau und dann wieder eine; die eine schüttelt ihren Kopf beim Gehen wie eine Taube; die andere lacht in der Ferne, wie man in einem Traume lacht.
* * *
Ein ganzer Zug kommt über den kleinen Fußsteig herab in den Hohlweg, in dem ich mich allein glaubte; und jetzt bin ich mitten unter diesen Frauen, wie ein Hirt unter den Schafen, die sich um ihn drängen.
»Was machst du da, mein Junge, in dem weiten Walde?«
»Hast du dich verirrt?«
»Was suchst du?«
»Folgst du einer Frau nach?«
»Oder einem veilchenfarbenen Traume?«
»Der Traum ist veilchenfarben, wenn das Herz ruhig ist.«
»Und die Frau wirst du nicht finden.«
»Undurchdringlich und verborgen, wie der Weg des Fisches im Wasser ...«
»Es ist die Weisheit Tenjikus, die uns dies lehrt.«
»Warum sagt ihr mir das?« fragte ich endlich.
Sie antworten mir nicht; sie gehen schnell, kommen an mir vorüber und sind fort.
* * *
Eine Schar von kleinen alten Frauen, grün gekleidet, verschrumpft und lächelnd, und die einander ähneln wie grüne Erbsen, nähern sich mir und sagen mit leiser Stimme:
»Man muß die Frauen lieben ...«
»Sie sind es wert, geliebt zu werden.«
»Bedenke, mein Sohn, daß sie mehr arbeiten als die Männer, obwohl sie schwächer sind.«
»Daß sie so viele Krankheiten ertragen müssen ...«
»Daß sie einen Teil ihres Lebens hingeben müssen, um neue Leben zu schaffen ...«
»Oder ihr Blut geben müssen, grundlos, so sehr ist es ihre Natur, immer zu geben, selbst wenn es zwecklos ist.«
»Bedenke, daß die Männer gegen sie nur streng oder ungerecht sind, während sie nachsichtig und gütig gegen die Männer sind.«
»Bedenke dies alles, und wenn du je geliebt werden solltest, sei nicht eingebildet, noch böse, noch gemein.«
»Betrachte die, die sich dir hingeben, nicht als gebrechliche Spielzeuge oder als Tiere, die nur für deine Lust da sind.«
»Achte sie. Versuche, ihnen zuzulächeln, wie sie zu lächeln wissen ...«
»Und wenn dein Herz weiblich genug ist, um sie nur ein wenig zu lieben, so wirst du sie glücklich machen ...«
»Sie werden ihre fromme Seele, von Zärtlichkeit duftend, in deinen Händen lassen.«
Nachdem sie mir all dies gesagt, wie man eine Litanei herbetet, fliehen sie eilig davon und laufen, um die Zeit einzuholen, die sie damit verloren haben, daß sie langsam gingen wie ich.
* * *
Eine vereinzelte kommt noch und zieht mich am Ärmel. Sie sieht mich an. Sie ist von schmerzhafter Häßlichkeit.
»Ich kenne die, die eben mit dir gesprochen,« sagt sie: »Sie sind noch unter der Zuchtrute des Mannes. Sie sind zermalmt, und vielleicht wissen sie es gar nicht. Ich bin mir meines Schicksals bewußt und ich empöre mich. Die anfängliche Ungerechtigkeit der Natur ist noch schlimmer geworden durch die Brutalität des Mannes. Und ich hasse die Ungerechtigkeit und die Brutalität, woher immer sie kommen mögen; sie widern mich an. Ich werde bald sterben. Meine Seele wird nicht in dieses allzuruhige Land wiederkehren. Ich hoffe, sie wird nach dem Abendland wandern, wo sie einst schon war. Sie wird mit der ewigen Unruhe Europas erfüllt sein, jenem beständigen Bedürfnis nach Besserung der eigenen Lage, jenem Verlangen nach Veränderung, die nur eine heftigere höhere Form des Lebens ist.
Sie wird die unversöhnliche Feindin jeder Autorität, jeder Religion sein, es wäre denn, daß sie selber eine Herrscherin wird und den andern schwachen Seelen einen neuen Glauben aufzwingt.«
Und die Empörte eilt weiter und fährt dabei mit ihrer Rede fort; andere kommen; zwei davon fassen mich am Arm, und die Schar, die uns umgibt, spricht die Klage von den vier Söhnen.
* * *
»Ich hatte vier Söhne, mein Gatte ist jung gestorben, meine Söhne haben mich verlassen, ich bin allein, allein, allein. Der Älteste ist ein Kaufmann, der zweite ist ein Gelehrter, der dritte ist ein Priester, der vierte ein Taugenichts.
Mein Sohn, der Kaufmann, hat mich vergessen, so sehr ist er von seinen Geschäften hingenommen; er denkt nur daran, viele Yens anzuhäufen, um irgendetwas einzukaufen und dieses Irgendetwas zwei- oder dreimal teurer zu verkaufen. Er macht Geschäfte mit der Not der Armen und den Begierden der Reichen. Er lügt vom Morgen bis zum Abend; er lügt noch im Traum. Er tut auch viel Gutes für die Schau. Selbst seine Wohltätigkeit ist noch Geschäft.
Ich hatte vier Söhne, mein Gatte ist jung gestorben, meine Söhne haben mich verlassen, und ich bin allein, allein, allein. Der Älteste ist ein Kaufmann, der zweite ein Gelehrter, der dritte ist ein Priester, der vierte ein Taugenichts.
Der Gelehrte kennt alle Klassiker. Seine Seele ist mit Formeln ausgepolstert. Er glaubt zu denken, wenn er sie hersagt. Er ist liebenswürdig und gleichgültig. Seine Lippen lächeln, sein Blick bleibt kühl. Zwischen seinem Herzen und mir steht eine Bibliothek, und auch seine Eitelkeit. In der vornehmen Gesellschaft, in die er sich emporgearbeitet hat, würde seine arme Mutter einen Flecken bedeuten.
Ich hatte vier Söhne, mein Gatte ist jung gestorben, meine Söhne haben mich verlassen, und ich bin allein, allein, allein. Der Älteste ist ein Kaufmann, der zweite ein Gelehrter, der dritte ist ein Priester, der vierte ein Taugenichts.
Wenn der Gelehrte Hunderte von Büchern kennt, so hat der Priester nur ein einziges gelesen; das Leben des Schaka-Sama. Er braucht nicht zu denken; die Worte seines Meisters genügen ihm; in ihnen findet er eine Antwort auf jede Frage. Seine Persönlichkeit ist nur mehr der Abglanz eines andern, eines andern, den er nicht kennt, – nur die flachen Sprüche, die er hinterließ und die heilig gehalten werden, weil sie sehr alt und unverständlich sind.
Ich hatte vier Söhne, mein Gatte ist jung gestorben, meine Söhne haben mich verlassen, und ich bin allein, allein, allein. Der Älteste ist ein Kaufmann, der zweite ein Gelehrter, der dritte ist ein Priester, der vierte ein Taugenichts.
Mein letzter Sohn ist faul, leichtsinnig und jähzornig, ein Dieb und ein Raufer; aber er ist gut gegen die, die er liebt. Als er noch ein Kind war, wollte er mir den Ozean in seiner hohlen Hand bringen, aber das Wasser zerfloß zwischen seinen Fingern. Noch heute hat er großartige Pläne, die sich nicht verwirklichen lassen, und dann steht er erstaunt und enttäuscht und mit leeren Händen. Man liebt ihn, weil er freundlich lächelt, und man will nicht daran denken, daß, wenn er fortgeht, er auch sogleich vergißt.
Ich hatte vier Söhne, mein Gatte ist jung gestorben, meine Söhne haben mich verlassen, und ich bin allein, allein, allein. Der Älteste ist ein Kaufmann, der zweite ein Gelehrter, der dritte ist ein Priester, der vierte ein Taugenichts.
Jetzt bin ich tot und begraben; meine vier Söhne sind an mein Grab gekommen. Ich habe sie durch die Erde und den Stein gesehen; ich habe sie über mir gehen sehen, wie man die Vögel sieht, wenn man im Garten im Grase liegt. Meine vier Söhne sind an mein Grab gekommen. Der Kaufmann hat ein kleines Goldstück darauf gelegt, der Gelehrte ein altes Buch, der Priester ein Heiligenbild, und der Taugenichts hat sein Herz darauf gelassen.
Du Herz eines Taugenichts, das mich im Lande Yomi tröstet, möge dir vergeben werden, was man auf der Erde deine Sünden und Verbrechen nennt.«
* * *
Nun konnte ich mich erst von der Schar befreien, die mich auf ihrem Wege mitgezogen hatte, ich lehnte mich an das Dickicht im Hohlweg, und ließ den seltsamen Zug vorüber, der mit leiser Stimme ein Klagelied sang:
»O Herz eines Taugenichts, das mich im Lande Yomi tröstet ...«
Und dann war er bald zu Ende.
Die letzten Frauen sahen mich an, grüßten mich und sprachen:
»Sie sind angenehm, was? Haben sie Euch belästigt?«
Ich begriff nicht und ich erwiderte höflich:
»Ich war sehr glücklich, sie zu treffen.«
»Ihr Geschwätz,« fuhren sie fort, »ist eitel und ohne Ende; es ist fast immer zusammenhanglos; aber bis auf einige gelegentliche Lästerworte ist es harmlos.«
»Aber wer sind diese Frauen?« fragte ich erstaunt. »Lächelt nicht über meine Unwissenheit und entschuldigt gütigst, daß ich euch befrage.«
»Ihr wußtet es nicht? Es sind die Verrückten oder besser die Halbverrückten dieses Bezirks. Sie kommen von ihrem langen Spaziergang nach Hause; und da sie Eile haben, in die vertrauten Gemächer des Irrenhauses zurückzukehren, gehen sie so schnell, daß wir ihnen kaum folgen können.«
Und die Wärterinnen entfernten sich, nachdem sie mir ehrbar gute Gesundheit gewünscht hatten.
* * *
Ich dachte an diese verrückten Frauen und ich war erstaunt, daß ich zwischen ihrem leeren Geschwätz und den ernsten Reden vernünftiger Männer keinen Unterschied gefunden hatte. Ja ich gab ihren leeren Worten eine Bedeutung, die sie sicherlich nicht hatten. Ich glaubte zu erkennen, daß ihre Äußerungen die verborgenen Winkel der weiblichen Seele offenbarten.
Und während ich in ihre ungereimten Reden einen klaren Gedankengang zu bringen suchte, bemerkte ich eine alte, eine sehr alte Frau, die ein Bündel kleingehackten Holzes auf ihrem Kopfe trug und mit Mühe dahinschritt.
Ich erhob mich, ging auf sie zu und sprach zu ihr:
»Ehrwürdige Mutter, wollt Ihr geruhen, mir Euer Holzbündel anzuvertrauen? Ich möchte es tragen. Euer sehr demütiger Diener ist jünger als Ihr, und man hat mich, als ich noch ein Kind war, gelehrt, daß eine Frau sich nicht mühen soll, wenn ein junger Mensch bei ihr ist, der nichts zu tun hat.«
»Ihr seid sehr liebenswürdig,« sagte die Alte. »Obwohl es mich beschämt, nehme ich Euer Anerbieten dankbar an.«
»Ich bin Euch dafür dankbar, ehrwürdige Mutter, daß Ihr mir gestattet habt, Euch einen Dienst zu erweisen.«
* * *
»Ihr habt ohne Zweifel die verrückten Frauen vorüberkommen sehen?«
»Ja, und ich fragte mich sogar, nachdem ich sie gesehen, ob zwischen den Narren und den Verständigen ein wirklicher Unterschied besteht und nicht nur ein scheinbarer.«
»Es besteht keiner,« sagte die Alte. »Die einen wie die andern sind Kinder, die schlafen und an ihren Traum glauben. Die einen wie die andern bilden sich ein, daß die Eindrücke, die die äußere Welt auf sie macht, das wirkliche Bild dieser Welt sind.
Und auf diese Eindrücke gründen und bauen sie mit lächerlichem Ernst Romane, Wissenschaften, Religionen und Philosophien ...«
* * *
Wir hatten den Hohlweg verlassen und gingen nun einen sehr engen Pfad entlang. Der Wind hatte sich erhoben. Schwere Wolken verdeckten den Mond. Es war schwarze Nacht. Man sah keine zwei Schritte vor sich. Ich ging und ging; ich vergaß alles, mich selbst und die andern. Ich vergaß, was ich hier tat und warum ich geflohen war; ich vergaß die Verrückten mit ihren Träumen und Klagen; ich vergaß Miyoko; ich hatte das Gefühl, daß mir etwas Seltsames bevorstünde, und ich fragte mich, was es wohl sein mochte.
* * *
Der Fußpfad endete an einer sehr engen und ganz niederen Türe. Wir waren angekommen. Ich sah mich um.
Vor mir war eine kleine, ganz kleine Hütte. In der schwarzen Nacht unter den Bäumen schien sie die Wohnung einer kleinen Zauberin zu sein.
Die Tür öffnete sich, und im Lichtschein erschien ein kleines Mädchen, das uns eine zierliche Verbeugung machte.
»Das ist die Fee,« dachte ich.
»Das ist O'Yuki,« sagte die Alte zu mir, »meine Freundin O'Yuki, die mit ihren Großeltern ganz nahe von hier wohnt und die so gütig ist, mir in meinem Haushalt zu helfen. Und da wir eben bei den notwendigen Vorstellungen sind, wollt Ihr mir vergeben, wenn ich Euch um Euren Familiennamen frage?«
»Ich heiße Otani und bitte Euch um Euer Wohlwollen.«
»Otani San, seid Ihr geneigt, Euch bei mir auszuruhen und eine Tasse Tee zu nehmen?«
Ich nahm an, und wir traten ein.
»Otani San,« nahm sie wieder das Wort, »Ihr seid gut gewesen gegen eine alte Frau; und ich bin Euch dafür dankbar, daß Ihr mir in meinen alten Tagen die reine Freude verschafft habt, ein bißchen einfacher und uneigennütziger Güte wahrzunehmen.«
Ich antwortete, wie es sich gebührte:
»Im Gegenteil, ich bin ganz beschämt, so wenig getan und Euch nur so jämmerliche Hilfe gewährt zu haben.«
Indessen bereitete O'Yuki den Tee und kochte den Reis. Sie war völlig weiß. Ihr Kimono war weiß, ihr Obi war weiß, ihr Gesicht war weiß wie Milch.
Sie bot uns die Schale Reis und die Teetassen, wobei sie jedesmal eine zierliche Verbeugung machte.
Als sie damit fertig war uns zu bedienen, zog sie eine kleine Flöte aus ihrem Ärmel, lächelte und spielte uns eine eintönige dünne Weise vor; dann steckte sie ihre Flöte wieder in den Ärmel, verneigte sich abermals wiederholt, wünschte uns gut zu ruhen und schritt immer lächelnd in die Nacht hinaus.
* * *
Einen Augenblick später öffnete die Türe sich abermals; es war wiederum die kleine O'Yuki.
»Hast du etwas vergessen, mein Kind?«
»Verehrte Mutter, draußen ist eine sehr schöne Dame ...«
»Nun und?«
» ... die mich am Ärmel genommen und zu mir gesagt hat: ›Ist hier wohl das Haus, in dem die sehr ehrwürdige O'Matsu San wohnt, deren Ruf in der ganzen Provinz verbreitet ist?‹ Ich habe ihr geantwortet: ›Ja, hier wohnt die gütige O'Matsu San und ich diene ihr ein wenig.‹ ›Würdest du sie fragen, ob sie mich empfangen kann? Ich brauche Rat und Tröstung.‹ Was soll ich ihr antworten, ehrwürdige Mutter?«
»Bitte sie einzutreten, O'Yuki, wenn du so gut sein willst.«
O'Yuki ging hinaus, die schöne Dame zu holen.
* * *
Ich sagte zu O'Matsu: »Ich möchte von Euch Abschied nehmen, wenn Ihr es mir gestatten wollt.«
»Nein. Die Nacht ist schwarz. Der Wind weht immer stärker. Bald wird es ein Sturm sein. Wohin sollt Ihr gehen? Ihr seid hier gut aufgehoben; geruhet zu bleiben, Otani San. Ruht Euch aus. Ihr werdet morgen fortgehen.«
Ich blieb in meinem Winkel, zusammengekauert mit einer Tasse Tee, fern von der kleinen Laterne, deren schwacher Schein tanzte und lange Schatten warf, so oft der Luftzug von draußen durch die Tür spalten und die Ritzen der Läden hereindrang.