Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich erhob mich von meinem Lager. O'Matsu und Umeno schliefen noch. Ich trat ins Freie. Draußen lag der bleiche Morgen. Es war traurig und kalt. Ich machte ein paar Schritte unter den Fichten. Auf der Erde lagen abgebrochene Zweige. Das Wasser hatte aus den Fußpfaden kleine Schluchten gemacht. Das Nachtgewitter hatte den Wald verheert.
Ich begegnete der kleinen O'Yuki. Sie lächelte, begrüßte mich und fragte, wie ich geschlafen hätte.
»Ich habe einen veilchenfarbenen Traum geträumt,« sagte ich zu ihr, »einen Traum von Flöten und Harfen.«
»O, wie muß das schön gewesen sein!«
»Und dann habe ich ein sanftes Lied gehört.«
»Sicher bedeutet das, daß die Götter Euch lieben.«
»Und was hast du geträumt, kleine O'Yuki?«
»Ich, nichts; ich träume nie. Kommt mit mir zu unserer guten Mutter. Man muß ihr ihren Tee machen ...«
* * *
Sogleich nach dem Tee bat ich O'Matsu um die Erlaubnis, sie verlassen zu dürfen: ich hatte Eile, nach Yeddo aufzubrechen.
»Gehe, mein Kind,« sprach sie zu mir. »Ich weiß, oder vielmehr ich errate, was mit dir geschehen ist. Du bist noch immer der Spielball aller Täuschungen; du glaubst zu leben, du glaubst zu denken, du glaubst zu lieben; gehe denn. Und möge Umeno dich begleiten, möge sie ihr Verbrechen sühnen, indem sie deine Geliebte befreit.«
»Vortreffliche, hocherhabene Mutter,« sagte Umeno, »Eure Weisheit hat mir Kraft gegeben. Ich hege keine Furcht mehr. Ich will nicht mehr an mich denken, ich werde nur für die anderen leben.«
»Das ist eines der drei Geheimnisse des Glücks,« sagte die alte O'Matsu.
»Ich werde es befolgen,« sagte Umeno, »ich werde Euch gehorchen.«
»Und wollt ihr noch einen Rat, meine Kinder?«
»Wir werden ihn treulich befolgen, o verehrte Mutter.«
»Otani San, Ihr wollt in Yeddo Eure Verlobte wieder zu Euch nehmen, die im Yoshiwara ist?«
»Wenn Ihr geruht, es mir zu gestatten.«
»Betretet es nicht. Bleibet vor der großen Pforte unter den Weiden. Umeno San wird hineingehen und sie für Euch suchen. Begehret nicht sie in der Stadt der falschen Lüste zu sehen, in der sie vielleicht ihrem Herzen untreu wurde; möge sie ihre Reue und ihre Tränen hinter sich lassen, und vor Euch treten, ein neuer Mensch, lächelnd und rein wie eine Blume, die sich am Morgen öffnet und die im Tau des Morgens die unreinen Insekten vergißt, die sie am Abend vorher gestreift und berührt haben.«
Umeno sprach: »Ich werde allein in das Yoshiwara gehen, o erhabene Mutter, und mein Bruder wird vor der großen Pforte warten.«
»Meine Gedanken begleiten euch. Sayonara!«
Und wir brachen nach Yeddo auf, ohne die kleine O'Yuki noch einmal gesehen zu haben, die verschwunden war, während wir traurig Abschied nahmen.
* * *
Wir reisten wie Bruder und Schwester.
Bis dahin war ich immer zu Fuß gegangen; jetzt aber nahmen Umeno und ich es jedesmal an, wenn jemand auf dem langen Wege uns einlud, in seinen Wagen zu steigen. Und so kamen wir rasch vorwärts.
Am ersten Abend blieben wir in einem Hause, das seine Besitzer verlassen hatten, und in dem sich ein alter Bonze mit geschorenem Haupt eingenistet hatte. Er war glücklich, uns seine Gastfreundschaft zu bieten; er redete gern; er erzählte uns seine Geschichte; sie war alltäglich eintönig, ohne Ende und mit Lehren angefüllt, die den heiligen Schriften entnommen waren.
Umeno schlief ein. Der Bonze unterbrach seine Lebensgeschichte, um sie zu betrachten, und sagte zu mir: »Sie ist schön wie die Liebe.«
Der Bonze sprach die Wahrheit. Sie war wirklich sehr schön, mit den rosigen Wangen, ihren roten Lippen, ihren langen schwarzen Wimpern. Sie sah friedlich und unschuldig aus.
Da stieg in mir stechend das Bild empor jener Umarmung zwischen den beiden Verbrechen, jener Umarmung, in der sie eine Wollust empfunden hatte, die sie königlich nannte.
Ja, dieser kleine Mund hatte diese Dinge gesagt und diese Bilder heraufbeschworen ... Und eine Trunkenheit stieg mir wie ein Rauch zu Kopf; ich war nicht mehr Herr meiner selbst.
»Ihr liebt Eure Schwester sehr,« sagte der Bonze.
Ich erwiderte:
»Wenn Ihr wüßtet, wie sonderbar sie ist, wie widerspruchsvoll, wie unverständlich für mich!«
Der Bonze sagte den Spruch:
»Die bei uns sind, kennen wir am wenigsten; der Fuß der Lampe ist im Dunkeln.«
Ich wiederholte zerstreut: »Ja, der Fuß der Lampe ist im Dunkeln.«
Der Bonze faßte mich am Ärmel und sprach: »Kommt, wir wollen beide in meinem Zimmer schlafen; ich habe noch etwas Saké, den ich Euch anbieten will.«
* * *
Als wir im Zimmer des Bonzen waren, als ich vor mir nur mehr einen gelben Schädel, vorgequollene Augen und welke Wangen sah, da verflog jene Art Trunkenheit, die aus meinen Sinnen gekommen war und mir die Seele verwirrt hatte. Ich schämte mich, daß ich Umeno mit solcher Leidenschaft angesehen und Miyoko einen Augenblick vergessen hatte.
Ich trank vom Saké des alten Bonzen; eine Zeitlang hörte ich seine alten Sprüche an, dann schlossen sich meine Augen, und ich schlief ein und vergaß, ihm Gute Nacht zu wünschen.
* * *
Am andern Morgen, als wir aufbrachen, sprach der alte Bonze leise einige Worte zu Umeno, die bei ihrer Antwort in Gelächter ausbrach.
Als wir allein waren, fragte ich sie:
»Was hat er Euch gesagt?«
»Er hat mir gesagt, daß er einen verborgenen Schatz im Gebirge habe und daß er ihn mir geben würde, wenn ich sein Weib werden wollte ...«
»Was habt Ihr ihm geantwortet?«
»Daß ich in einem anderen Leben darüber nachdenken würde.«
»Er verdiente es nicht besser. Er ist diese Nacht zu mir gekommen. Da habe ich ihn noch härter zurückgestoßen. Ich konnte ihn gar nicht los werden. Ich mußte ihm drohen, daß ich um Hilfe rufen würde.«
»Irrt Ihr Euch auch nicht, Umeno? Ein Bonze!«
»Sie sind alle so, oder fast alle.«
»Ist das möglich?!«
»Ihr kennt die Männer nicht, Otani San.«
* * *
Nein, ich wußte nicht, daß die Männer so wären. Wo immer wir auch vorüber kamen, sie betrachteten sie mit frechen, unzüchtigen Blicken ... Sie achtete nicht darauf; aber dieses beständige Verlangen, das sie umlauerte, reizte mich. Jetzt fürchtete ich mich nicht mehr, sie zu lieben. Sie war jetzt keine Freundin mehr, keine Weggenossin, nicht meinesgleichen, sie war für mich ein Weib, dem die Männer nachstellten, und ich empfand Widerwillen dagegen. Ich wurde unhöflich gegen sie, ich war reizbar, wortkarg und böse. Sie war darüber erstaunt und fragte mich nach dem Grunde.
»Was habe ich Euch getan, Otani San? Ihr seid böse gegen mich? Habe ich Euch verletzt, ohne es zu wissen, durch eine Bemerkung, die nicht am Platze war, durch irgendein Wort? Ihr hasset mich vielleicht, Ihr verachtet mich, weil Ihr jetzt wisset, daß ich einen Mann getötet habe?«
»Ich habe das gleichfalls getan,« sagte ich.
»Ihr? Wann?«
»Erinnert Ihr Euch nicht an jenen Abend, an dem Ihr mich einen Burschen genannt habt, der nichts hat, ohne Eltern, ohne Vermögen und ohne Erziehung?«
»Otani San, Ihr hättet diese Worte vergessen sollen, oder wenigstens edelmütig genug sein sollen, mich nicht daran zu erinnern.«
Und mit einem Ausdruck liebevollen Vorwurfs fügte sie hinzu:
»Seid Ihr jetzt nicht mein Bruder? Wir sagen es überall und ich begann es fast zu glauben. Bin ich nicht Eure Schwester: eine Schwester, die Euch und Eurer Frau ihre Jugend und ihre Freiheit zu opfern bereit ist?«
* * *
Wir waren kaum mehr zwei Stunden von Yeddo entfernt. Die Sonne stand im Zenith, es war heiß, alles schwieg.
Wir waren um auszuruhen in ein kühles Wäldchen am Ufer eines Baches gegangen.
Und Umeno sprach zu mir:
»Otani San, mißfalle ich Euch? Nun reisen wir schon mehrere Tage miteinander, und Ihr habt mir noch nicht ein einziges freundliches Wort gesagt. Ihr habt auf mich nicht mehr geachtet, als auf die alten Dienerinnen in den Herbergen. Ich, Otani San, habe Euch sehr geliebt. Ich sage es Euch, weil ich es Euch bald nicht mehr werde sagen können; bald werde ich für Euch verloren und es wird für immer mit mir zu Ende sein.«
Und mit leiser Stimme fügte sie hinzu:
»Otani San, wollt Ihr mich? Morgen, ja schon heute Abend werde ich mir nicht mehr gehören; ich werde meinen Leib an den verkaufen, der ihn haben will, und das mit einem Widerwillen, den Ihr Euch nicht vorstellen könnt. Euch biete ich ihn in Liebe. Ehe ich mich in diesem Yoshiwara begrabe, möchte ich wenigstens einmal lieben, ein kleines Mal, und geliebt werden; wollt Ihr mich, Otani San? ...«
* * *
Sicherlich war ich nicht so einfach und rein wie sie. Meine Seele war von verworrenen Kämpfen zerrissen.
Zunächst war es die Überraschung über diesen unerwarteten Vorschlag; dann eine abergläubische Furcht, ein unbestimmtes Gefühl von Ehre und Pflicht. Ich sah das Bild Miyokos vor meinen Augen, und ich dachte: »Auf dem Wege, der mich zur Heißgeliebten führt, sollte ich ihr untreu werden?« Es war auch Schüchternheit, ein wenig Scham, vielleicht auch ein wenig Eitelkeit: ich suchte nach einer Antwort, ich wollte ebenso gut reden wie sie, und ich fand nichts ...
Ich kämpfte noch in meiner Seele, aber meinen Körper zog es zu der liebeverlangenden Frau; ich wußte bereits, daß ich im nächsten Augenblick sprechen würde: »Umeno San, Ihr seid so hübsch ...« als sie, die mein Schweigen mißverstand und mich für besser hielt als ich war, sagte:
»Ich weiß, mein Bruder, warum Ihr nicht antwortet. Ihr wollt Euch für meine Schwester bewahren. Das ist recht; das ist sehr gut. Ich hätte nicht gedacht, daß ein Mann treu sein könnte. Ich glaubte die Männer gröber. Fast alle haben neben ihren Frauen noch Nebenfrauen; es ist der Brauch, und das Gesetz erlaubt es ihnen. Aber Ihr, Otani San, Ihr bewahrt Euch für eine Braut, die sich verkauft hat. Ihr wißt, daß auch sie Euch trotz allem treu geblieben ist. Wenn sie sich in zufällige Liebesbegegnungen fügen mußte, so hat sie sich doch nie hingegeben: ihr Herz war nicht dabei; es war bei Euch. Wir werden sie noch heute Abend sehen; ich werde sie für Euch suchen. Kommt, mein Bruder; ich liebe Euch um ihretwillen, und ich sage Euch Dank, daß Ihr Euch mir verweigert habt ...«
Da wurde meine Seele noch mehr verwirrt ...
Sie aber reichte mir die Hand und sagte:
»Kommt, mein Bruder ...«
Und wir gingen zur Stadt, ohne ein Wort zu sprechen.
* * *
Vor dem großen Tor unter den Weiden sagte Umeno:
»Hier müßt Ihr warten. Wir müssen dem Rat gehorchen, den die Götter uns durch den Mund unserer ehrwürdigen Mutter gegeben haben. Wenn ich nicht zurückkehre, so habe ich die Stelle Miyokos einnehmen müssen, damit sie frei werde ...«
Wir sahen uns lange an, ohne zu sprechen, lange, lange, wie die Liebenden, die das Gedicht des Kino-Toshisada am Fuße des Dai Butsu sprachen.
Sie war es, die zuerst aus diesem Schlummer unseres Willens erwachte.
Sie sagte nur: »Sayonara, Otani San,« und entfernte sich so rasch, daß sie nicht mehr hören konnte, was ich zu ihr sprach.
* * *
Ich war ergriffen von soviel Einfachheit, soviel Hingabe und soviel Kraft ... »Undurchdringlich und verborgen wie der Weg des Fisches im Wasser ist die Seele der Frauen« hatten die verrückten Frauen im Walde gesagt ... Wenn sie gewollt hätte, sie wäre meine Herrin geworden. Ich war im Begriff, schwach zu werden; mein Wille und meine Treue strömten dahin. Die Götter haben mich beschützt gegen meinen eigenen Willen. Sie haben mir Miyoko bestimmt; ich soll Miyoko lieben ...
Und ich wartete unter den großen Weiden.