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17. Kapitel. Durch die Lüfte.

Herbert war zum ersten Male in Erfurt.

»Hier stelle ich dir die Stadt der Kirchen und Türme vor«, sagte Onkel Ernst, als sie die mittelalterliche Stadt betraten.

»Unser Lehrer, Dr. Dense, nennt Erfurt die tausendjährige Domstadt oder die Lutherstadt«, berichtete der junge Neffe.

»Beides stimmt. Das Wahrzeichen der alten Stadt ist ihr herrlicher Dom. Und das Augustinerkloster und die Augustinerkirche sind Erinnerungsstätten an Martin Luther. Hier hat Luther als Student die im Mittelalter hochberühmte Universität besucht, hier hat er als Augustinermönch schwere Glaubenskämpfe in seinem Innern ausgefochten. Ich freue mich darauf, dir nachher den alten Augustinerklosterhof zu zeigen, Herbert. Er ist sehr malerisch mit seinen Rundbogengängen. Du wirst an Italien erinnert werden.«

»Ach, ich möchte viel lieber gleich auf den Flugplatz, Onkel Ernst«, drängte Herbert. Er hatte heute für nichts anderes Interesse.

»Der läuft uns nicht davon, mein Junge. Erst wollen wir Erfurt gründlich genießen. Wenn ich auch Altertumsforscher bin, das Mittelalter, das sich hier in den wundervollen Kirchen und alten Winkeln offenbart, übt einen großen Reiz auf mich aus.«

»Na, ich bin ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts. Mir können alle alten Winkel gestohlen bleiben. Für mich ist der Flughafen tausendmal interessanter«, erklärte der Primaner.

Onkel Ernst lachte. »Jedes zu seiner Zeit. Ich habe deshalb das letzte Flugzeug, das von Erfurt nach Berlin startet, gewählt, um den Tag noch zur Besichtigung von Erfurt auszunützen. Das muß dir doch Freude machen, diese interessante Stadt kennenzulernen.« Herbert schien von den Worten des Onkels nur das verstanden zu haben, was sich um das Flugzeug drehte. »Mit dem letzten Flugzeug wollen wir erst fliegen? Das dauert ja noch schrecklich lange, bis es losgeht. Und dann ist es vielleicht schon dunkel, und der Steuermann kann die Richtung verfehlen«, gab er zu bedenken.

»Der Flugzeugführer findet seinen Weg auch des Nachts. Er empfängt funkentelegraphisch die Ortsbestimmung. Es gibt ja Nachtluftverkehr. Aber habe keine Angst. Wir fliegen noch bei Tage hier fort. Nur bei der Landung in Berlin wird es wohl schon dunkel sein.«

»Angst habe ich niemals – ich bin doch nicht Suse«, warf sich Herbert in die Brust. Er gab sich erst zufrieden, als Onkel Ernst im Verkehrsverein die Flugscheine nach Berlin gelöst hatte.

Dennoch spukte bei der Besichtigung der Stadt der Flughafen immer wieder bei Herbert. Als Onkel Ernst das herrliche Domportal bewunderte und seinen Neffen auf die alten Glasmalereien der Kirchenfenster aufmerksam machte und ihm erzählte, daß sie zu den schönsten in Deutschland gehörten, überlegte Herbert besorgt, ob sein kleiner Koffer auch wohl das vorschriftsmäßige Gewicht für das Luftgepäck nicht übersteigen würde. Onkel Ernst stöberte als Altertumsforscher mit Begeisterung die alten historischen Stätten Erfurts auf. Sein junger Neffe teilte diese Begeisterung nicht. Nicht einmal die malerischen Wasserstraßen der Altstadt, »Venedig« genannt, fesselten den Jungen. Anstatt das mittelalterliche Gildehaus zu betrachten, rief er plötzlich begeistert: »Onkel Ernst – ein Flugzeug – noch eins – zwei – drei – vier – fünf Stück, ein ganzes Geschwader. Schade, daß wir sie nicht landen sehen.« Er wies in die zartblaue Frühlingsluft, wo dunkle Riesenkäfer mit ausgebreiteten Flügeln über den alten Giebeln und Türmen der Stadt surrten.

»Fabelhaft, wie Erfurt mit seiner kulturhistorischen Vergangenheit den Fortschritt der modernen Technik verbindet!« meinte Onkel Ernst sinnend.

Was fragte der Primaner nach kulturhistorischer Vergangenheit? Die gehörte in den Geschichtsunterricht.

»Das sind sicher die Flugzeuge, Onkel Ernst, die Rundflüge über die Stadt und ihre Umgebung machen. Was für ein Typ mögen sie sein? Ich glaube, es waren Junkers-Flugzeuge.«

Onkel Ernst lächelte. Wie ganz anders die Jugend von heute eingestellt war als zu der Zeit, da er jung gewesen. Bei jedem Auto wußte Herbert zu sagen, woher es kam, und was für eine Fabrikmarke es hatte.

Das elegante Mittagessen im Klosterkeller söhnte Herbert etwas damit aus, daß der Onkel nicht sofort mit ihm den Flughafen besuchte. Für Essen und Trinken hatte der junge Mann viel übrig. Er konnte eine gute Klinge schlagen. Onkel Ernst freute sich, wie es ihm schmeckte. Nach Schluß des Essens zog der Onkel seine Zigarettentasche heraus.

»Na, wie ist's, Herbert? Wagst du es, zu rauchen, oder fürchtest du, nachher im Flugzeug luftkrank zu werden?« fragte er scherzend.

»Aber, Onkel Ernst, in der Prima ist man doch schon Gewohnheitsraucher«, prahlte Herbert, eine Zigarette entzündend. Unwillkürlich mußte er an die erste Zigarette denken, die er vor Jahren mit Suse gemeinsam geraucht hatte. Die war ihnen beiden miserabel bekommen. Sicher saßen sie jetzt auch daheim beim Mittagbrot und malten sich aus, welchen Gefahren er entgegenflog. Na, Vater würde die ängstlichen Damen schon beruhigen.

Am Nachmittag in den herrlichen Stadtparkanlagen wurde Herbert etwas nervös. Unausgesetzt beobachtete er den Zeiger an seiner Einsegnungsuhr, dem Erbstück vom Großvater. Wenn der damals geahnt hätte, daß sein junger Enkel mal mit seiner Uhr durch die Lüfte fliegen würde!

»Hier zeigt sich uns Erfurt als Blumenstadt«, unterbrach Onkel Ernst die Gedanken seines Begleiters. »Sieh nur die ausgedehnten Blumenfelder, Herbert. Tulpen und Hyazinthen aller Gattungen, aller Farben. Das müßte Suschen sehen!«

»Ja, die wäre sicher futsch vor Begeisterung. Sie läßt sich ja immer Samen und Pflänzchen für unsern Garten aus Erfurt schicken. Neulich hat sie sogar geäußert, sie möchte am liebsten nach Abgang von der Schule in Erfurt Gartenbau berufsmäßig erlernen.«

»Das könnte sie auch hier an erster Stelle. Erfurter Blumen und Sämereien genießen Weltruf. Aber wozu quält sie sich denn bloß mit dem Abiturium, wenn sie es nicht zum Studium gebraucht?« erkundigte sich der Onkel.

»Ehrensache. Wenn die Martinsgänse ihr Abitur machen, will Suse nicht zurückstehen. Und auch als mein Zwilling fühlt sie eine gewisse Verpflichtung dazu. Aber jetzt ist es wirklich höchste Zeit, Onkel Ernst. Wer weiß, ob wir überhaupt noch pünktlich nach dem Flughafen kommen«, drängte Herbert plötzlich ungeduldig. Denn der Apfelkuchen mit Schlagsahne, den der Onkel zum Kaffee spendiert hatte, war verzehrt.

»Also meinetwegen, Junge. Obgleich wir noch beinahe zwei Stunden bis zur Abfahrt Zeit haben. Eher gibst du ja doch keine Ruhe, als bis wir auf dem Flugplatz sind.«

»Und unsere Koffer, Onkel Ernst? Die müssen wir doch erst noch holen«, erinnerte Herbert.

»Sind bereits vom Bahnhof aus mit dem Zubringerwagen der Deutschen Luft-Hansa hinausbefördert worden.« Sie machten sich auf den Weg. Herbert war sehr aufgeregt, bemühte sich aber, seine Erregung nicht zu zeigen. Zum ersten Male in seinem Leben sollte er das Land seiner Sehnsucht, einen Flugplatz, betreten.

Schon von weitem kündigte sich der Flughafen durch lautes Brummen und Summen an.

»Flink, Onkel Ernst, komm schnell, sicher startet gleich ein Flugzeug«, rief Herbert, in großen Sätzen die baumbestandene Straße zu dem freien Gelände durcheilend.

»Es starten mehrere am Nachmittag.« Onkel Ernst folgte gemächlich.

Und nun stand man vor dem »Luftbahnhof«. Viel zu langsam ging es Herbert in der Abfertigungshalle, wo Onkel Ernst als ordnungsliebender Mann sich erst davon überzeugte, ob auch die Koffer zur Stelle seien. Herbert hatte inzwischen seine Augen überall.

»Hier ist die Luftgüterabfertigung – hoffentlich ist mein Koffer nicht zu schwer. Luftzollrevision kommt wohl nur für Auslandsflugzeuge in Betracht. Sieh mal, Onkel Ernst, ein Luftpostamt gibt es auch hier. Da muß ich Suse unbedingt eine Karte schreiben. Die Luftpostbriefmarke mit dem Adler soll sie mir aufbewahren.« Sie traten hinaus auf das Fluggelände. Die Sirene vom Kommandoturm heulte ihnen ein Willkommen entgegen.

»Sie kündigt ein landenwollendes Flugzeug an, damit das Rollfeld freigemacht wird und das Abfertigungspersonal sich bereit hält. Der Flugverkehr wird von diesem Kommandoturm aus geregelt«, erklärte Onkel Ernst, der schon öfters geflogen war, seinem Neffen.

Tausend Augen wünschte sich Herbert in diesem Augenblick, um alles zu gleicher Zeit auf ihn Eindrängende in sich aufnehmen zu können. Der Kommandoturm mit seinem gläsernen Auslug, auf dem ein Luftpolizist, mit Fernglas bewaffnet, den Horizont beobachtete, die hohen Funktürme, die den Kommandoturm zu beiden Seiten flankierten – und da surrte es auch schon wie eine Riesenlibelle mit weitgebreiteten Flügeln herbei, umflog das Landungsfeld in Kurven, tiefer, immer tiefer – jetzt hatte es Boden unter sich und nun kroch es auf seinen beiden Rädern über das Rollfeld wie ein gewaltiges Insekt, das sich müde geflogen.

»Famos!« rief Herbert in Begeisterung. »Heute ist der herrlichste Tag meines Lebens.«

»Wollen den Tag nicht vor dem Abend loben«, meinte Onkel Ernst lächelnd. »Hoffentlich wirst du mir nicht luftkrank.«

»Aber Onkel Ernst – solch Waschlappen bin ich denn doch nicht!« entrüstete sich Herbert. »Bitte komm doch näher, daß wir das Aussteigen mitansehen können.«

»Das Flugzeug kommt von Berlin«, stellte Onkel Ernst fest.

»Woher weißt du das?«

»Die Ankunft und Abfahrt der Flugzeuge ist hier auf den Flugverkehrsplänen der deutschen Luft-Hansa angeschlagen. Dort drüben gibt es Flugzeitschriften, Herbert und – – –.«

»Bloß drei Passagiere steigen aus mit Handtaschen, als ob sie aus der Eisenbahn kämen und nicht aus der Luft. Wenn ich denke, daß ich heute auch da drin sitzen werde – einfach knorke!«

»Da kommt die Luftmarine, Herbert. Feldgraue Ausrüstung, die längliche graue Marinemütze mit Bändern kennzeichnet sie.«

»Es steht ja auch ›Luft-Hansa‹ auf ihrem Mützenschild. Überall kann man das lesen, sieh nur, auch bei den Gepäckträgern, an den Karren und Gütertransporten. Was laden sie denn da aus – ach, Zeitungen, sicher die neuesten Berliner Nachrichten.« Herbert war so aufgeregt wie ein kleiner Junge. Er vergaß ganz seine Primanerwürde. » L 72 steht darauf – ob das ein Junkers-Flugzeug ist?«

Onkel Ernst zuckte die Achseln. Er verstand sich nicht darauf. Aber ein Graubemützter von der Luft-Hansa gab Auskunft.

»Das ist ein Albatros, junger Herr, das Flugzeug des Ullsteindienstes.«

Aha, daher die vielen Zeitungen.

»Und mit was für einem Typ werden wir fliegen?« wollte der junge Herr noch wissen.

»Wohin starten Sie?«

»Nach Berlin – achtzehn Uhr dreißig.«

»Da fliegen Sie mit der Focke-Wulf-Möwe, feines Ding! Dort drüben liegt es.« Der Beamte wies auf ein sich unweit auf dem Flughafen sonnendes Flugzeug.

»Feines Ding, die Möwe!« wiederholte Herbert anerkennend, trotzdem er eigentlich kaum einen Unterschied zwischen den verschiedenen Luftfahrzeugen feststellen konnte. Höchstens daß diese weiß und jene schwarz waren.

Onkel Ernst wandte sich zurück zu dem großen Hallenbau.

»Komm, Junge, wir wollen uns noch im Mitropa-Restaurant für den Flug stärken. Auch muß ich noch Verschiedenes zur Post geben.«

»Führt das Flugzeug keinen Speisewagen mit?«

»Einen Extraspeiseraum nicht, dazu ist es nicht groß genug. Man bekommt aber Erfrischungen aller Arten dort serviert.«

»Dann wollen wir uns doch lieber nachher in unserer Möwe stärken, Onkel Ernst.« Herbert war augenblicklich viel zu aufgeregt, um etwas essen zu können. »Wozu haben sie denn hier Funktürme? Ist das die Sendestation für Erfurt?«

»Nein, das ist die Flugfunkstation, die mit der Flugwetterwarte verbunden ist. Diese hat die Aufgabe, die Verkehrsflugzeuge vor Schädigungen durch schlechte Witterung zu bewahren und ihnen günstige und widrige Windverhältnisse in den verschiedenen Höhenlagen mitzuteilen. Unsere Großflugzeuge können telephonisch oder telegraphisch jederzeit aus der Luft Wettermeldungen von den Flugfunkstellen einholen. Jeder Flugzeugführer erhält vor Beginn des Fluges einen Wetterzettel, auf dem die Meldungen der einzelnen Stationen und das für den Flug zu erwartende Wetter verzeichnet ist.«

»Fabelhafte Sache!« begeisterte sich Herbert.

»Ja, das ist es in der Tat. Auf den Flugplätzen fühlt man den Atem des Fortschritts. Hier wird jede Entfernung gering, Ländergrenzen werden verwischt, Völker, die der Krieg entzweite, wieder miteinander verbunden. Ich bin stolz, daß ich noch zu der Generation gehöre, die diesen gewaltigen Fortschritt miterlebt hat.«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß es mal anders gewesen ist«, meinte Herbert, das Kind des Jahrhunderts der Technik. »Allerdings, wenn ich meine Uhr hier von dem verstorbenen Großvater anschaue – die ist sicher noch in der Postkutsche als schnellstes Beförderungsmittel gefahren. Aber es ist ja gleich sechs und du hast dir noch ein Glas Bier bestellt, Onkel Ernst. Daß wir bloß nicht die Abfahrtzeit versäumen.«

»Junge, wie kann man nur so aufgeregt sein. Kaltblütigkeit und Ruhe gehört vor allem zum modernen Verkehr. Wie die Abfahrten der Eisenbahnzüge, so werden die Abflüge in den Wartesälen rechtzeitig bekanntgegeben. Wir haben noch lange Zeit.«

Herbert jedoch hatte keine Zeit mehr. Der klebte bereits wieder am Fenster, um nur die Möwe im Auge zu behalten, daß sie nicht ohne ihn aufflog.

»Onkel – Onkel Ernst, da brennt's – um's Himmels willen, sieh nur den Rauch, da, gerade in der Mitte des Flugplatzes! Ist denn hier keine Feuerwehreinrichtung? Wo kann man Alarm schlagen?« rief Herbert mit lauter Stimme durch das Flugrestaurant, bereit, löschen zu helfen.

»Wo brennt's denn, junger Herr?« fragte der Kellner mit einer Gemütsruhe, die seltsam von Herberts Erregung abstach.

»Da – dort – sehen Sie denn nicht den Rauch? Am Ende hat ein Motor Feuer gefangen?«

»Aber das ist ja das unterirdische Feuer, das immer wegen der Windrichtung brennen muß. Nach dem Rauch erkennen die Flugzeugführer die Windrichtung, denn man muß stets gegen den Wind starten und landen«, erklärte ein unweit sitzender Herr lachend. Auch an den übrigen Tischen lachte man über den Neuling, der das Windfeuer hatte löschen wollen. Auslachen ließ sich Herbert schon als Kind nicht, wieviel weniger heute als Primaner und Passagier eines Flugzeuges.

»Ich werde mal nachsehen, wie weit es ist«, sagte er mit bedeutender Miene, als ob das Starten des Flugzeuges nur von ihm abhänge.

Da trat ein Beamter aus der Abfertigungsstelle in das Mitropa-Restaurant.

»Einsteigen nach Halle–Berlin!« rief er mit lauter Stimme aus.

Durch die friedlich an den Tischen Sitzenden ging eine Welle der Bewegung. Man zahlte rasch und begab sich nach Prüfung der Flugscheine zum Startplatz. Hier waren die Gepäckträger der Luft-Hansa schon damit beschäftigt, das große und kleine Gepäck einzuladen. Was ging nicht alles in den Leib der Möwe hinein! Die Motoren wurden angeworfen und schnell noch einmal, mit Klötzen vor den Rädern, geprüft. Inzwischen wurden auch die Passagiere mittels einer kleinen Leiter verladen. Herbert, der alles sehen mußte, hatte inzwischen einen Blick in den Führerstand geworfen. Ihm pochte das Herz trotz der Vorfreude bis in den Hals hinein. Nun saß er drin in der silberweißen Möwe, in bequemem Klubsessel wie im Speisewagen eines D-Zuges. Er legte seinen Hut in das Gepäcknetz über seinem Platz und schaute durch das Fenster hinaus. Draußen standen die Angehörigen der Abfliegenden, die ihren Lieben noch das Geleit zum Flugplatz gegeben hatten. Schade, daß Suse nicht auch da draußen stand. Herbert hätte gewünscht, daß sein Zwilling oder wenigstens einer seiner Schulfreunde ihn mit der Möwe auffliegen gesehen hätte.

Die Tür wurde geschlossen. »Klötze weg!« erklang es, und da rollte das Flugzeug wie ein Autobus zum Startplatz. Herbert betrachtete angelegentlich den Rauch des Windfeuers. Die Sirene, das Freigabesignal der Luftpolizei, schrillte vom Kommandoturm.

»Glück an!« erklang es von den Zurückbleibenden. Und da hob sich die Möwe mit ausgebreiteten Flügelpropellern surrend in die Lüfte.

»Der Flugzeugführer ist ja in der Windrichtung gestartet, anstatt gegen den Wind«, rief Herbert. Selbst im Flugzeug meldete sich der Besserwisser.

»Sicher ein Irrtum von dir, mein Junge. Ich habe zu dem Flugzeugführer mehr Zutrauen als zu dir. Jetzt lösen wir uns los von der Erde, von der Schwere der Alltäglichkeit«, sagte Onkel Ernst.

Herbert verstummte. Merkwürdig war ihm zumute, wie in einem Fahrstuhl. Aber dort gab es dann bald einen Ruck und man konnte aussteigen. Hier fing die Sache erst an. Er hatte das Gefühl, als ob sein inwendiger Mensch Kopf stände.

»So, Herbert, nun wirf noch einen Blick hinab auf die Stadt der Kirchen und Türme«, unterbrach Onkel Ernst mit erhobener Stimme das Surren der Propeller. »Dort ist das Wahrzeichen Erfurts, der Dom und die Severikirche. Nun nehmen wir Abschied von der vieltürmigen Stadt.«

Herbert wagte es nicht, der Weisung des Onkels nachzukommen. Es war ihm unmöglich, in die Tiefe hinabzusehen. Grün und gelb war ihm vor den Augen. Er heftete seine Blicke krampfhaft auf des Onkels Hut, der oben im Netz lag. Aber auch der schwankte auf und nieder.

»Junge, ist dir nicht gut?«

Nie hätte Herbert das zugegeben. »Knorke!« stieß er mit einem verzerrten Lächeln aus erblaßten Lippen hervor.

Der Onkel lachte. »Der Neuling muß seinen Tribut zahlen. Wenn dir nicht gut ist, hier hängen die Lufttüten – für alle Fälle.«

Herbert wagte nicht mehr zu antworten. Alle Energie mußte er zusammenreißen, um dieses Durcheinander in seinem Magen nicht zur Explosion kommen zu lassen. Er mußte es zwingen – mußte – –! Die Schande, wenn Suse, die er wegen ihrer Angst ausgelacht hatte, erfuhr, daß er sofort luftkrank geworden war!

Eine Dame reichte dem elenden Jungen aus ihrem Täschchen mitleidig Kölnisches Wasser herüber. Wie peinlich! Herbert hatte das Gefühl, als ob aller Augen auf ihn gerichtet seien.

Allmählich beruhigte sich der Aufruhr in seinem Innern. Sein gepreßter Atem ging wieder normal, der kalte Schweiß auf seiner Stirn schwand. Er vermochte die Augen von Onkels Hut zu lösen und im Passagierraum Umschau zu halten. Jeder Platz war besetzt. Die meisten blätterten in Zeitschriften oder schrieben an den Tischchen, die vor jedem Platz aufzuklappen waren. Wie Herbert sie beneidete, daß sie augenscheinlich ganz unempfindlich gegen die Schwankungen der Möwe waren.

Onkel Ernst zog die Uhr. »In zehn Minuten landen wir in Halle.

»Schon?« Herbert hatte in seinem Elend jede Zeitberechnung verloren.

»Na, wie ist's?« fuhr der Onkel fort, einen prüfenden Blick über das sich allmählich wieder rötende Gesicht des Neffen werfend. »Willst du lieber aussteigen und mit der Bahn weiterfahren?«

»Kommt gar nicht in Frage«, beteuerte Herbert. »Mir ist jetzt schon viel besser. Das war nur zuerst das Ungewohnte.«

»Hast dich ja als Neuling ganz tapfer gehalten. Ich denke auch, du hast es nun überwunden.«

Tatsächlich, als man von Halle, wo ein Teil der Insassen ausstieg, andere dafür kamen, wieder abflog, war es Herbert zwar immer noch nicht tadellos zumute, aber doch nicht mehr so hundsmiserabel wie beim ersten Start. Je weiter die Möwe flog, um so besser wurde ihm. Ja, als man Jüterbog in der Tiefe sah, vermochte er sogar schon durch das Fenster hinabzuschauen. Jetzt erst kam für Herbert die richtige Freude am Fliegen, wo er aus der Vogelperspektive dunkle Waldstreifen, Seen und Flußläufe, lichte Feldervierecke, eine Handvoll roter Ziegeldächer dazwischen, unterscheiden konnte.

Abenddämmerung löschte allmählich eins nach dem andern in der Tiefe aus. Dann kamen Lichter auf. Hier eins, dort eins – jetzt ein ganzes Strahlenbündel, sicher ein Städtchen.

»Wir fliegen jetzt zwei Stunden zehn Minuten«, stellte Herbert nach des Großvaters Uhr fest. »Allmählich bekommt man Hunger.« Er war ganz obenauf, schien ganz vergessen zu haben, wie jammervoll ihm noch vor kurzem gewesen.

»Warte bis Berlin. In zehn Minuten landen wir auf dem Tempelhofer Flughafen. Wir werden gleich die fabelhafte Orientierungsbeleuchtung dort erkennen. Da – siehst du den Scheinwerfer? Er hat eine gewaltige Kerzenstärke – das ist der erste Gruß des Berliner Zentralflughafens.«

»Was ist das dort für ein rotes Licht, Onkel Ernst? Es wird hell und wieder dunkel.«

»Das sind schon die roten Anseglungsblinkfeuer auf den hohen Funktürmen des Landungsplatzes. Sie weisen dem ankommenden Flugzeug den richtigen Weg.«

»Wenn der Flugzeugführer nur nicht im Dunkeln falsch landet – irgendwo in der Spree«, meinte Herbert ein wenig beklommen.

»Unmöglich! Das Tempelhofer Landungsfeld ist nachts mit sechs Meter langen, tiefroten Neonlichtern umrandet. Das hat kein anderer Flughafen in der ganzen Welt. Auch die Windrichtung wird durch grüne, weiße und rote Lichter auf dem Rollfeld gekennzeichnet, daß der Luftpilot weiß, in welcher Richtung er zu landen hat.«

»Das ist ja wie eine Illumination hier auf dem Flugplatz«, rief Herbert erstaunt.

Sirenengeheul – schon senkte sich die Möwe herab – ein letztes Surren der Propeller, und da hatte sie wieder festen Fuß gefaßt und rollte in den Berliner Flughafen.

»Berlin – aussteigen!«

Wie aus einer andern Welt stand man wieder auf seinen eigenen Füßen. Strahlende Helle, Menschengewühl, Autogehupe. Und dann saßen auch Onkel Ernst und Herbert im Auto und rasten dem Hotel am Zoo zu. Tageshell, voller Menschen waren die Straßen; Lichtreklameschrift lief an Häusern entlang; Kinos kündigten in grellen Bildern, in roten und grünen Lichtbuchstaben ihre Herrlichkeiten an. Aus der strahlenden Helle der Cafés klang Tanzmusik. Das war Berlin.


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