Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Kapitel. Auf geweihtem Boden.

Dem Wunsche der Großmama entsprechend, hatte man für das Nachmittagsprogramm den Besuch in Goethes Gartenhaus am Stern in Aussicht genommen. Dieses stille Fleckchen in den Parkanlagen an der Ilm, das Goethe so geliebt, wo er die glücklichste Zeit seines Lebens zugebracht hatte, erfreute sich auch der besondern Vorliebe der alten Frau Winter.

Lichtgrüne Samtteppiche breiteten die Sommerwiesen zu Füßen des Gartenhäuschen. Wilde Rosen, die Goethe selbst gepflanzt, kletterten am Spalier bis zu dem hochgiebeligen Dach des Hauses empor. Ein seltsames Gefühl umfing die Eintretenden: Du betrittst jetzt geweihten Boden. Selbst das muntere Schwatzen der Jugend verstummte. Neugierig hielten Herbert und Suse Umschau; die Martinschen Zwillinge waren schon öfters Gäste im Goetheschen Sommerhaus gewesen. Weihevolle Stille. Man vernahm nur das Pfeifen und Flöten der Vögel in den alten Bäumen.

Schweigend wies Professor Winter auf eine Inschrift über dem Eingange des Häuschens. Die Kinder lasen halblaut:

Übermütig sieht's nicht aus,
Dieses kleine Gartenhaus.
Allen, die darin verkehrt,
Ward ein guter Mut beschert.

Suse war es, als ob der einstige Besitzer des Hauses selbst diese Worte zu ihr spräche. Ein andächtiger Schauer durchrieselte sie, als sie jetzt den andern durch die bescheidene Eingangspforte ins Haus folgte.

»Hunde sind draußen vor der Gartentür zu lassen«, sagte der führende Beamte ärgerlich, »die gehören nicht ins Goethehaus.«

Herbert ahnte nicht, daß diese Worte ihm galten. Er hatte ja Bubi auf des Vaters Geheiß draußen vor dem Tore gelassen.

Durch die geweihte Stätte huschte etwas Schwarzes, Glattfelliges quer über den Hausflur – hast du nicht gesehen, in die Küche mit der alten Herdesse und dem Wasserstein und wie der Wind die Holztreppe hinauf zu dem Heiligtum, dem Arbeitszimmer des Meisters.

»So rufen Sie doch endlich den Hund zurück!« Der Führer wandte sich aufgeregt an Professor Martin, den er für den Eigentümer des Tieres hielt.

»Aber ich habe doch gar keinen – – –«, verwunderte sich der.

»Sollte am Ende – – –«, erschrak Frau Professor Winter.

»Herbert, deine Hundetöle ist in Goethes Arbeitszimmer!« rief Helga aufgeregt dem eingehend den ehemaligen alten Ziehbrunnen betrachtenden Jungen zu.

Herbert mußte seiner Vornahme, Helga als nicht anwesend zu behandeln, untreu werden. Bubi in Goethes Arbeitszimmer – das hob selbst den großen Bann, den er über Helga verhängt hatte, auf.

»Bubi ist hier? Wo ist er?« stieß Herbert erschreckt hervor, denn sogar seine Jungenhaftigkeit empfand die Heiligkeit dieser Erinnerungsstätte.

Ja, wo war Bubi? Er besichtigte bereits die im oberen Stockwerk gelegenen kleinen Stuben des großen Dichters. Vom Altanzimmer ins Arbeitszimmer, ohne jedes Interesse für die Bibliothek jagte Bubi weiter in das winzige Schlafzimmer, wo er es sich auf dem berühmten Kofferbett Goethes, das sich zur Nacht von einem Koffer in ein Bett verwandeln ließ, gemütlich machte.

Dort erreichte ihn die Hand seines jungen Herrn und spedierte den Friedensstörer des Goetheschen Gartenidylls hinaus auf die Parkpromenade. Das Schlimme war nur, daß Herbert ebenfalls aus dem Paradies vertrieben wurde. Denn Bubis Goethebegeisterung war nicht zu zügeln. Mit jedem neuen Besucher des Gartenhauses versuchte er wieder einzudringen. So mußte Herbert sich damit begnügen, wie einst Moses, das gelobte Land nur von weitem zu schauen. Da gab es im Garten alte, herrliche Bäume, Eichen, Buchen, Birken und Tannen. Der Vater hatte ihnen erzählt, daß Goethe selbst sie gepflanzt, sich ihres Wachstums gefreut und später im Schatten ihrer weitverzweigten Äste Erquickung genossen habe. Vögel musizierten in Goethes Garten wie vor hundert Jahren, da er selber noch als Greis entzückt ihrem Sang gelauscht hatte. Dort war ein Vogelnest, ein Hänfling flog ein und aus. Ob dessen Urgroßvater wohl den Dichter des Morgens mit seinem Sang aus dem Schlaf geweckt hatte?

Besucher gingen und kamen in das Gartenhäuschen, nur er und Bubi waren ausgesperrt. Sie beide mußten draußen bleiben. Solche Gemeinheit! Herberts Gefühle gegen seinen vierfüßigen Kameraden waren heute durchaus nicht liebevoll.

Himmelmohrenelement, wo blieben die andern denn bloß so lange? Er war doch wirklich nicht nach Weimar gekommen, um hier vor Goethes Gartenhaus Schildwache zu stehen.

Da tat sich die Gartentür auf. Ein großes, blondes Mädel trat heraus – Helga. Sollte er wegsehen und tun, als ob sie nicht da wäre?

»Du, Herbert, wenn du Lust hast, kannst du jetzt reingehen. Ich bleibe gern hier draußen und bewache deinen Köter. Ich habe das Gartenhaus schon ixmal gesehen und interessiere mich nicht so dafür wie Inge«, sagte sie ganz harmlos, als ahne sie gar nichts von Herberts Feindschaft.

Der schwankte. Ihr Vorschlag war sehr verlockend. Andererseits, was würde Hans Krause dazu sagen, wenn er den großen Bann, den er über Helga verhängt hatte, brach?

Aber es war doch nett von ihr, daß sie wieder gutmachen wollte. Er reichte seiner blonden Feindin die Hand.

»Bist trotz alledem ein anständiger Kerl«, sagte er und ließ sie in Gesellschaft von Bubi zurück.

Der Vater hatte auf Herbert gewartet, um ihn noch einmal im Hause umherzuführen und ihm alles zu erklären, während die andern bereits den herrlichen Garten bewunderten.

»Siehst du, hier an diesem Schreibtisch, Herbert, sind die Meisterwerke zum großen Teil geschaffen worden. Dort auf dem kleinen Kanapee hat Goethe im Gespräch mit Freunden gesessen, und manch frohe Tafelrunde hat das Gartenhaus zur Spargel- und Erdbeerzeit bewirtet. Nebenan im Altanzimmer, seinem Lieblingszimmer, kannst du noch einen alten Kamin sehen. Hier hatte auch Goethes Nachtigall ihren Sommersitz.«

»Eine Nachtigall hatte Goethe? Im Bauer, Vater?« Das interessierte Herbert am meisten. Und ich sollte nicht mal den kleinen Fink behalten, den ich mir mühselig aus dem Nest stibitzt habe, dachte der Junge empört.

Der Professor trat mit seinem Sohn hinaus auf den Altan, der den Blick in das liebliche Ilmtal mit seinen grünen Auen, sanften Abhängen und herrlichen Parkanlagen erschloß.

»Man kann es verstehen, daß Goethe hier das Gedicht: ›Süßer Friede, komm, ach komm in meine Brust!‹ empfunden und in Worte gefaßt hat«, meinte der Vater nachdenklich. Für Friede hatte der ins Leben stürmende vierzehnjährige Herbert nur geringes Verständnis. Es fesselte ihn vielmehr, daß Goethe, um sich abzuhärten, schon damals allerlei Sport getrieben hatte. »Konnte er auch boxen, Vater?« wollte der Junge durchaus wissen.

»Goethe boxen? Der Dichter der Iphigenie und des Tasso?« Dieser Gedanke erschien dem Vater etwas komisch.

»Nein, Herbert, Boxkämpfe gab es noch nicht zu Goethes Zeiten. Ich glaube auch nicht, daß Goethe daran Gefallen gefunden hätte. Er liebte edleren Sport: Reiten, Jagen, Fischen, Eislaufen, Tanzen und Fechten.« Herbert zuckte ein wenig mitleidig die Achsel. Ein richtiger Sportsmann war Goethe sicher nicht gewesen, wenn er von Boxen keine Ahnung gehabt hatte.

»Auf diesem Altan«, fuhr der Vater fort, »hat Goethe manche warme Sommernacht auf einem Strohsack geschlafen und den Mond und den Sternenhimmel beobachtet.«

»Beim Schlafen?« verwunderte sich Herbert.

»Aber Junge, sei doch nicht so dumm. Natürlich wenn er munter war.«

»Nee, Vater, da irrst du dich«, beharrte Herbert, »das war ja Schiller, der die Sterne studiert hat, nicht Goethe.« Der Besserwisser regte sich in Herbert.

»Du kannst dich schon auf das verlassen, was ich dir sage, mein Junge. Auch Goethe hat die Gestirne beobachtet. Die schönen Künste sowohl wie die ernsten Wissenschaften waren ihm gleich vertraut. Er war eben ein Ausnahmemensch. Wenn wir morgen das Goethe-Nationalmuseum, sein einstiges Stadthaus, besuchen, werdet ihr erstaunt sein über die Fülle von Sammlungen auf jedem Gebiete.«

»Auf die zoologische freue ich mich schon mächtig –.« »Und ich auf die botanische«, fiel Suse ihrem Zwilling ins Wort. Denn man war inzwischen wieder im Garten zusammengetroffen. »Herbert, den schönen Garten mußt du auch noch sehen. Das sind Malven, die hochstöckigen Pflanzen, die den langen Weg einsäumen. Sie blühen erst später. Goethe hat sie selbst gepflanzt und gepflegt.« Suses Hand strich ehrfürchtig über das Blattwerk.

»Unser Großvater hat uns erzählt, im August gab Goethe öfters eine Teegesellschaft zu Ehren der Malvenblüte«, berichtete Inge, den Arm der Freundin nehmend.

»Muß fein gewesen sein«, stimmte Suse zu.

»Die Kinderfeste hier draußen waren noch viel schöner, Suse«, mischte sich Inges Vater, Professor Martin, in die Unterhaltung. »Goethe lud sich die Kinder seiner Freunde, die kleinen Herder und Wielande, später seine eigenen Kinder und Enkel in sein Gartenhaus. Ohne Eltern und ohne Erzieher mußten sie kommen. Ganz in Freiheit sollten sie sich hier draußen bei ihm vergnügen. Da wurden Ostereier gesucht, die Goethe selbst im Garten versteckt hatte, und Kinderbälle fanden hier draußen statt. Goethe im Hofgalakleide eröffnete den Ball mit einem der winzigen Dämchen. ›Ihr kleinen Menschengesichter‹ pflegte er sie anzureden.«

»Ulkig, nicht, Herbert?«

»Na, ich sage lieber ›du Affengesicht‹ zu dir, Suse«, lachte der Bruder.

»Pfui, Herbert, wie kannst du nur so was zu Suse sagen«, entrüstete sich Paul, während Suse derartige Zärtlichkeiten von ihrem Zwilling gewohnt war.

Auf einer schattigen Bank neben der in Stein gehauenen Inschrift Goethes: »Hier im stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten«, fand man die Großmama, die sich dort ein wenig ausruhte.

»Was ist das für ein Gefühl, Kinder, auf derselben Bank zu sitzen, auf der Goethe an seine Charlotte von Stein gedacht hat«, empfing die alte Dame die Kommenden begeistert.

Die Jugend hatte dafür kein Verständnis. Die interessierte sich vielmehr für Goethes Bienenzucht und für den alten Wacholderbaum, Goethes Liebling, den ein Sturm entwurzelt hatte, und an dessen ehemaligem Standorte weiße, gespensterhafte Mädchen geistern sollten.

»Hu – wie graulig!« Suse packte am hellen lichten Tage den Arm ihres Zwillings.

»Hab' dich nicht, Suse. Wo ist denn bloß der Fuchs? Hier muß bestimmt noch ein Fuchs sein. Goethe hatte ihn hier draußen an einer Kette. Sie haben es uns doch in der deutschen Stunde erzählt, Herr Professor Martin.«

»Der Fuchs hat längst das Zeitliche gesegnet, Junge«, lachte der Professor. Das war eine arge Enttäuschung für Herbert. Er hatte gehofft, wenigstens noch Nachkommen dieses Fuchses in Goethes Garten zu finden.

Draußen vor dem Tor traf man Helga, die Bubi Gymnastikstunde gab. »Du, Helga, Goethe hat auch Sport getrieben, sogar fechten konnte er«, rief Herbert seiner ehemaligen Feindin zu. Er schien ganz vergessen zu haben, daß er noch vor kurzem mit ihr »schuß auf ewig« gewesen war.

»Wollen wir jetzt zur Fürstengruft gehen, wo auch die Särge Goethes und Schillers beigesetzt sind?« fragte Professor Winter seine Gesellschaft.

»Nee, ach nee, Vatichen! Es ist schon bald dämmerig. Lieber morgen am hellen Tage, wenn es sein muß«, bat Suse inständig. Sie war und blieb doch ein Angsthäschen.

»Ich schlage vor, den schönen Nachmittag hier draußen im Park zu bleiben und einen Spaziergang nach dem Schlößchen Belvedere an der Ilm entlang zu unternehmen. Den Weg, den Goethe mit seinem Freunde, dem Herzog Karl August, so gern gewandert ist«, schlug die Großmama vor.

Damit waren alle einverstanden. Es wurde ein herrlicher Abend bei Sonnenuntergang in dem idyllischen Sommersitz der weimarischen Fürstin. An allen Tischen saßen junge Menschen, die der Schillerbund nach Weimar geführt hatte.

»Paul, du könntest auch dem Schillerbund beitreten, das wäre eine hübsche Anregung für dich«, meinte Professor Winter zu seinem jungen Schützling.

»Ich auch, Vater, ich trete auch bei«, ließ sich Herbert sofort vernehmen, der nicht hinter Paul zurückstehen mochte.

»Du bist noch zu jung, mein Sohn. Erst mit sechzehn Jahren wird man aufgenommen, vorausgesetzt, daß man dann die innere Reife dazu hat.«

»Die habe ich schon jetzt«, behauptete Herbert.

»Goethe würde seine Freude an all dem fröhlichen Jungvolk hier haben«, meinte Frau Professor Winter, die Nebentische beobachtend.

»Ja, er hat die Jugend geliebt, aber er hat auch manchmal Undank erfahren. Sie kennen doch die Geschichte vom Peter im Baumgarten?« fragte Professor Martin, der ein eifriger Goetheforscher war.

»Nein, erzählen – bitte, erzählen!« Alles lauschte gespannt.

»Nun, im Sommer 1777 erschien an Goethes Gartentür ein zwölfjähriger, halbwilder Schweizer Hirtenknabe. Eine Tabakspfeife hatte er im Munde, und ein schwarzer Spitz, Hänsli genannt, begleitete ihn. ›Peter im Baumgarten‹ hieß der Schweizer Bub, weil man ihn im Berner Oberland in einem Baumgarten als kleines Kind gefunden hatte. Man wußte nicht, wer seine Eltern waren. Goethe hatte sich bei seinem Aufenthalt in der Schweiz für den Waisenknaben interessiert. In einer Erziehungsanstalt wurde er erzogen. Dort tat er nicht gut, es war ein verwilderter Schlingel. So schickte man ihn seinem Gönner Goethe zu. Da war er nun mit seinem Hänsli und begehrte Einlaß im stillen Goetheschen Gartenhaus. Das stellte er bald auf den Kopf, der kleine Eindringling. Von morgens bis abends rauchte er Pfeife, der Bengel. Als Hirtenknabe war er daran gewöhnt und ließ sich die Pfeife nicht entziehen. Er verdarb gute Sammlungen, und die Büste Lavaters malte er gar mit Tinte an. Auf Stelzen lief er durch die Stadt, gefolgt von der Gassenjugend und trieb allerlei Streiche. Goethes Köchin Dorothee rang die Hände über den schmutzigen Naturburschen. Schließlich gab Goethe ihn fort zu einem Wildmeister. Aber jahrelang hatte er noch Sorgen und Undank von seinem Schützling.« So erzählte der Professor.

»Da mache ich mit meinem Schützling doch bessere Erfahrungen«, lachte Professor Winter und reichte seinem Namensvetter Paul die Hand über den Tisch.

Als man in der Spätdämmerung an der leise plätschernden Ilm entlang heimwärts ging, schlugen die Nachtigallen in den Büschen wie einst zur Goethezeit.

Frisch ausgeschlafen traf man sich am Sonntagmorgen mit Martins wieder vor dem Schillerhaus. Dorthin war Schiller von Jena aus übergesiedelt, den Todeskeim schon in der Brust. Ein schlichtes, bescheidenes Heim öffnete sich den Besuchern. Wie klein und niedrig die Stuben, wie ärmlich die Einrichtung. Und hier waren so große Gedanken entstanden, trotz bitterster Not. Ehrfürchtig durchschritten sie die Räume, die der Genius geweiht.

»Das Goethehaus am Frauenplan, das wir jetzt besichtigen werden, ist mit vornehmem Behagen ausgestattet. Die Räume, in denen die beiden größten deutschen Dichter gelebt haben, geben ein getreues Abbild ihres Lebens. Schiller hat immer mit Not zu kämpfen gehabt, dagegen hat sich Goethes Leben stets im Wohlstand abgespielt.« Professor Martin schritt voran in das Goethe-Nationalmuseum, dem ehemaligen Stadthaus Goethes.

Ehe man die große Treppe hinaufging, wandte sich Professor Winter in der Eingangshalle an seine Zwillinge. »Hier in diesen Räumen, umgeben von Kunstwerken und seinen naturwissenschaftlichen Sammlungen, führte Goethe ein Leben voll unermüdlicher Arbeit, voll von fruchtbarem Wirken. Ihr werdet staunen über diese Fülle von verschiedenartigen Interessen, die der große Meister in sich vereinigte.«

Die römischen und griechischen Kunstwerke, die Majoliken, Gemälde und Zeichnungen fesselten die Kinder noch nicht. Da interessierten sie die naturwissenschaftlichen Sammlungen Goethes schon mehr. Farbenlehre, Optik und Elektrizitätsversuche, all die dazugehörigen Instrumente und Apparate waren etwas für Paul, der sich in den Zeiß-Werken mit ähnlichen Dingen beschäftigte. Herbert war nicht aus den zoologischen Sammlungen herauszubekommen. Die Schädel und Skelette von Säugetieren, die ausgestopften Vögel, die Insekten-, Korallen- und Muschelsammlungen betrachtete er eingehend. Schließlich aber meinte er doch: »Im Aquarium in Neapel sieht man das alles viel schöner, und da ist alles noch obendrein lebendig.« Selbst vor Goethe machte Herberts Kritik nicht halt.

Auch Suse war heimlich enttäuscht. Goethes botanische Sammlung umfaßte lauter Herbarien und Mappen. Sie hatte sich auf Blumen gefreut und fand statt dessen große Schränke mit Samen und Früchten und allerlei getrocknetem Zeug. Da hatte es ihr in Goethes Garten am Stern ungleich besser gefallen. Der Garten hier im Stadthaus war ja ganz nett, aber er war nicht groß und die Hauptsache – man durfte nicht hinein. Eine Kette sperrte den Eintritt. Suse hatte große Lust, unter der Kette durchzukriechen, aber die Weihe des Ortes hinderte sie doch daran.

Goethes Arbeits- und Sterbezimmer betraten die Kinder halb neugierig, halb beklommen. Das schmucklose Gemach mit dem Mitteltisch, an dem einst Goethes Schreiber, den Gänsekiel in der Hand, saß, während Goethe im Zimmer auf und ab schritt und seine Dichtungen diktierte, durchwehte heute noch ein Hauch seiner Gegenwart. Der hochbeinige Korb mit Goethes Taschentuch stand noch da wie vor hundert Jahren. Andächtige Stille herrschte. Man flüsterte nur. Die Großmama legte eine Rose auf den Platz des Dichters in stummer Verehrung.

»Warum hat Goethe seine Werke denn nicht lieber gleich in die Schreibmaschine diktiert?« erklang da eine laute Jungenstimme in das ehrfürchtige Schweigen. Die Besucher vermochten kaum ein Lächeln zu unterdrücken. Herbert zeigte sich als ein Kind des technischen Jahrhunderts.

»Weil es damals noch keine gab«, war die flüsternde Antwort der Mutter. Dann traten sie an die Tür zum Sterbezimmer des Meisters. Suse hielt sich zurück. Der alte Lehnstuhl, in dem der große Geist ausgehaucht, die letzten Worte, die der Sterbende gesprochen: »Mehr Licht!«, das Bett, auf dem der Tote aufgebahrt, all das bedrückte ihre junge Seele. Sie war glücklich, als der Vater ihnen zum Schluß noch das Enkelzimmer und das Puppentheater von Goethes Enkeln zeigte.

Auch am Nachmittag in der Fürstengruft an den Särgen Goethes, Schillers und der großherzoglichen Familie war es Suse unheimlich. Viel schöner fand sie's draußen im hellen Sonnenlicht, wo die Vögel so lustig musizierten.

Am Abend bei der Aufführung des Don Carlos folgten die Zwillinge mit heißen Wangen der Vorstellung. Sie hatten den Don Carlos noch nicht gelesen. Professor Martin verlangte aber, daß sie es daheim nachholten. Die Anfangsworte: »Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorüber«, unterbrach Herbert: »Mutti, es heißt doch: ›Die schönen Tage von Oranienburg sind nun vorüber‹.«

»Pst – Ruhe –«, klang es ringsum in den Bänken.

»So hat Onkel Ernst aber immer gesagt«, beharrte Herbert, wenn auch etwas leiser.

Suse aber meinte nach einem Aktschluß: »Schiller hat ja lauter bekannte Zitate, wie sie auch in unserm Dichterquartettspiel vorkommen, da reingedichtet. Das ist doch gar keine Kunst.«

»Du dreimal gehörntes Nashorn, die Zitate hat doch Schiller zuerst gedichtet, und dann sind sie erst bekannt geworden«, regte sich ihr Zwilling auf. Auch die andern lachten die dumme Suse aus, selbst ihre Busenfreundin Inge. Es war nur gut, daß gerade der Vorhang wieder aufging und es dunkel wurde, da sah keiner die Tränen in den braunen Mädchenaugen.

Es flossen noch mehr Tränen. Die Mädel beweinten den frühen Tod von Carlos und seinem Freunde Roderich schmerzlich, wenn auch Helga es nicht zugeben wollte, denn Herbert zog sie nicht schlecht damit auf. Alle aber stimmten bei der Heimfahrt in Herberts Kritik mit ein: »Weimar war einfach knorke!« Wenn das auch nicht gerade eine würdige Bezeichnung für die Goethestadt war.


 << zurück weiter >>