Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9. Kapitel. Nach Weimar.

Der Rosenmonat hatte eine Fülle von Blüten über Jena ausgestreut. Wie eine junge Maid hatte sich die alte Stadt geschmückt – Rosen in allen Farben, wohin man schaute. In dem vergessensten Winkel, selbst in dem kleinsten Hofgärtchen blühte, leuchtete und duftete es.

Im Sternenhaus droben am Berghang hatte die Sonne alle Rosenknospen wachgeküßt. Suses Rosen, die sie im Winter gegen Frost geschützt, die sie zum Frühjahr beschnitten, gestützt und gepflegt hatte, dankten der jungen Gärtnerin ihre Mühe durch üppigste Blüte. Wie ein Dornröschenschlößchen blickte das Sternenhaus aus seinem purpurroten Rankrosenkleid.

Die Großmama hatte ihr Lieblingsplätzchen zwischen den gelben Marschall-Niel-Rosen errichtet. Der süße und dabei doch etwas herbe Duft der sich neigenden Blüten sagte ihren Jahren mehr zu als das jugendliche Ranken und Zum-Himmel-Stürmen anderer Rosenarten. »Ich bin selbst solch eine der Erde zustrebende Blume«, hatte sie mit wehmütigem Lächeln gemeint, »wie lange noch, und die Blume entblättert.«

Suse hatte zuerst den Sinn der ernsten Worte gar nicht erfaßt. Jugend denkt ja nicht an Vergehen. Aber dann hatte sie plötzlich in jähem Begreifen den Arm um ihre kleine Omama geschlungen, fest, ganz fest, als könnte sie sie so gegen alles kommende Ungemach schützen.

Hatte nicht auch der Vater neulich geäußert: »Unsere Omama gefällt mir nicht, sie geht nicht mehr so gern aus und ist lange nicht mehr so elastisch wie im vergangenen Jahre?«

Heute aber war die Großmama ganz die Alte, frisch und lebhaft wie nur je, und das hatte ein einziges Wort zuwege gebracht, das Wort: Weimar.

Am Sonntag nachmittag war's. Die Familie, einschließlich Paul, dem festen Sonntagsgast, saß in der Veranda beim Nachmittagskaffee. Durch die heraufgezogenen Schiebefenster dufteten die Rosen.

»Ich hätte Lust, mich am nächsten Sonnabend im Planetarium vertreten zu lassen und mit euch nach Weimar zu fahren«, äußerte der Professor zu seinen Kindern. »Ihr seid jetzt groß genug, um die von der Erinnerung an unsern größten Dichter geweihte Stätte würdigen zu können.«

»Au ja«, rief Suse begeistert, »Paul muß auch mit.«

»Natürlich kommt Paul mit. Wir fahren am Sonnabend mittag, da seid ihr Kinder ja alle frei.«

»Doktor Dense wollte mal nächstens mit der ganzen Sekunda ins Goethehaus nach Weimar«, erzählte Herbert, ein Stück Kuchen in den Mund stopfend.

»Ja, Professor Martin hat auch neulich davon gesprochen«, fiel Suse ein.

Der Vater schüttelte den Kopf. »Ich habe den Wunsch, meinen Kindern selbst Weimar, die Goethestadt mit ihren Gedenkstätten nahezubringen. Wenn ihr mit der ganzen Klasse einen Ausflug dorthin unternehmt, wird ja doch mehr Unsinn dabei getrieben, geboxt oder Bonbons genascht.«

»Na aber, Vater, wir sind doch Sekundaner!« begehrte Herbert, in seiner Ehre gekränkt, auf.

»Ich finde es viel feiner, wenn du und Mutti mit uns nach Weimar fährst, Vatichen. Aber Inge und Helga hätte ich auch gern dabei«, erklärte Suse.

»Natürlich, ohne die Martinsgänse kann man ja nie was unternehmen«, räsonierte Herbert. Er lebte noch immer mit Helga auf gespanntem Fuße. »Da machen wir gleich eine Familienlandpartie nach Weimar. Nimm doch auch noch unsere Emma mit.«

»Aber vielleicht die Omama – wie ist es denn mit der? Willst du die auch nicht dabei haben, mein Jungchen?« fragte da die alte Dame mit seinem Lächeln.

Herbert bekam einen roten Kopf. »Doch, Omama, wirklich, wenn du mitkämst, das wäre knorke!« Die Großmama war die einzige, gegen die Herbert stets ritterlich war. Denn selbst seiner Mutter gegenüber hatte er manchmal einen großen Mund.

»Ja, Omama, kommst du mit? Famos!« jubelte Suse.

»Weimar möchte ich wohl noch mal sehen«, meinte die Großmama, und ihre Augen leuchteten ganz jugendlich. »Weimar bedeutet den Mittelpunkt deutschen Geisteslebens im vorigen Jahrhundert. Und ich gehöre ja mehr ins neunzehnte Jahrhundert als ins zwanzigste.«

»Recht so. Mutterchen, du fährst mit uns nach Weimar«, rief der Professor erfreut, seine alte Mutter wieder so frisch und angeregt zu sehen.

»Und wenn uns mal eine der Besichtigungen zuviel wird, dann streiken wir beide, nicht wahr, Omama?« meinte die Schwiegertochter lächelnd.

»Ich streike nicht, Fränzchen, mich macht Weimar wieder jung«, behauptete die alte Dame.

So ward die Fahrt nach Weimar beschlossene Sache.

Auch Martins, die Professor Winter zur Beteiligung aufforderte, schlossen sich mit ihren Zwillingen gern an.

Das Thüringer Land hatte sich mit seinem farbenfreudigsten Sommerkleide geschmückt. Durch lichtgrüne Buchenwälder, buntblumige Auen, sprießende Saatfelder und rotdachige Dörfer dampfte der Zug. Nach kurzer Zeit erreichte man den schmucken Bahnhof, der dem Vorüberfahrenden zuruft: »Weimar! Ruhe für ein paar Sekunden aus in dem Vorwärtshasten des Jahrhunderts der Technik. Weimar! Gedenke der großen Geister, die hier gewandelt.«

Eine schattige Baumstraße führte zur Stadt. Bubi, den Herbert nicht zu Hause gelassen hatte, raste sie mit der Lebhaftigkeit seiner ehemaligen Kinderjahre hinab.

»Auf die Omama und auf Bubi wirkt Weimar wirklich verjüngend«, stellte Herbert fest, denn die alte Dame war nicht zu bewegen, die Elektrische zu benutzen. In den Straßen, in denen Goethe, Schiller, Wieland und Herder, die großen Dichter, gewandert, wollte auch sie zu Fuß einhergehen. »Elektrische ist nicht stilgerecht in der Goethestadt«, meinte sie lächelnd.

Es war gut, daß man vorher Zimmer bestellt hatte, denn es war recht voll in Weimar. Herbert und Suse waren noch kindlich genug, sich auf das Schlafen im Hotel zu freuen. Die Martinschen Zwillinge wohnten bei ihren Großeltern, die in Weimar ansässig waren.

»Nun habe ich die Tagung der Goethegesellschaft in Weimar erst abgewartet, um mit euch nicht in den Fremdentrubel hineinzugeraten, und da kommen wir gerade zu den Nationalfestspielen des Deutschen Schillerbundes nach Weimar«, stellte Professor Winter fest.

»Aha, daher die vielen jungen Menschen, die man allenthalben in Gruppen hier in den Straßen sieht«, sagte seine Frau interessiert.

»Ich glaubte, das wären Wandervögel, all die Jungs und Mädel«, meinte Herbert.

»Nein, mein Junge, das ist die zum Schillerbund gehörende deutsche Jugend, die alljährlich nach Weimar aus allen Teilen Deutschlands wallfahrtet, um an den Stätten, an denen die Geistesfürsten unseres Volkes gewirkt haben, Erbauung und Erhebung zu finden. Verständnisvolle Führungen finden statt, Festspiele im deutschen Nationaltheater. Goethe und Schiller sollen unserer Jugend nicht nur leere Namen sein, die sie in der Schule aus den Büchern lernen, sondern sie sollen ihr Wesen begreifen und den Edelmenschen verstehen lernen. Das kann man nur an der Stätte, wo der Genius gewirkt hat.«

»Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht«, zitierte die Großmama. »Na, ihr Gymnasiasten, wo kommt das vor?«

Eine peinliche Frage, wenn man sie nicht zu beantworten weiß. Die Enkelkinder standen mit nicht sehr klugen Gesichtern da. Herbert aber mochte es nun mal nicht gern eingestehen, daß er etwas nicht wußte.

»Das kommt in Goethes Faust vor«, riet er auf gut Glück, denn er hatte mal sagen hören, daß die meisten bekannten Zitate von Goethe aus dem Faust wären.

»Falsch geraten!« rief die vorangehende Inge Martin, sich zurückwendend, »das kommt in Goethes Torquato Tasso vor.«

»Bravo!« rief Frau Professor Winter. »Die Inge ist doch die gebildetste von euch.«

»Haben wir ja noch gar nicht in der Schule gelesen, den Tasso«, brummte Herbert, ärgerlich darüber, daß die Martinsgans gebildeter war als er.

»Die Schule soll euch nur die Anregung geben, Herbert. Man muß sich auch zu Hause öfters mal ein Werk der großen Dichter vornehmen«, sagte Professor Martin, der auch an Herberts Gymnasium deutschen Unterricht erteilte.

»Nicht nur Interesse haben für alles, was da kreucht und fleucht, mein Junge, oder allenfalls noch fürs Boxen«, stimmte der Vater dem Universitätskollegen lachend zu.

»Unser Herbert wird jetzt gewiß denken: ›Weh dir, daß du ein Enkel bist!‹, vorausgesetzt, daß er dieses Goethewort kennt. Da hat die Großmama den Enkel tüchtig reingelegt, nicht wahr?« scherzte die alte Dame. Die Omama war ganz verändert in der Goethestadt, wieder frisch und humorvoll wie in früheren Zeiten.

An dem Doppelstandbild Goethes und Schillers, das vor dem Theater seinen Platz hat, wurde haltgemacht.

»Ein würdiges Denkmal der Freundschaft der beiden großen Meister«, sagte Frau Professor Winter, das schöne Kunstwerk betrachtend.

»Ich hätte es richtiger gefunden, wenn man Goethe nicht mit Schiller, sondern mit seinem Freunde, dem Herzog Karl August, hier in Weimar dargestellt hätte.« Selbst an dieses Kunstwerk wagte sich Herberts vierzehnjährige Kritik.

»Das verstehst du nicht, mein Junge«, wies ihn denn auch der Vater zurecht. »Der Platz hier vor dem Nationaltheater gehört Goethe und Schiller, den Schöpfern der Dramen, die das Theater zur Aufführung bringt. Morgen abend wird Don Carlos gegeben. Was meint ihr, hättet ihr Lust dazu? Wir können allerdings dann erst den letzten Zug nach Jena zurück nehmen.«

»Au ja – famos – au knorke!« riefen sowohl die Winterschen wie die Martinschen Zwillinge begeistert. Auch die Erwachsenen erklärten sich mit dem Plan einverstanden.

»Auf diese Weise lernen Suse und Herbert gleich das deutsche Nationaltheater kennen«, mischte sich Professor Martin, der in Weimar zu Hause war, ein. »Meine beiden waren ja schon öfters hier im Theater. Na, Herbert, was hat dort im Jahre 1919 stattgefunden?«

Herbert machte ein unwirsches Gesicht. Ekelhaft, daß man nicht mal hier in Weimar Ruhe vor den Lehrern hatte. Immer dieses langwellige Examinieren.

»Aber, Herbert, das mußt du doch wissen. Was hat denn dem deutschen Nationaltheater den Namen gegeben?« regte sich die Mutter auf.

»Die Deutsche Nationalversammlung«, kam Suse ihrem Zwilling zuvor.

»Habe ich natürlich auch gewußt.« In den Schatten stellen ließ sich Herbert nicht. »Da ist doch unsere deutsche Republik gemacht worden.«

»Das ist eine etwas komische Ausdrucksweise, Herbert«, meinte der Vater belustigt. »Die republikanische Verfassung ist unserm Volke 1919 hier in Weimar gegeben worden. So vereinigt Weimar in sich große Vergangenheit, große Gegenwart und hoffnungsfrohe Zukunft!«


 << zurück weiter >>