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Tiefblau träumte der Gardasee, ein leuchtender Saphir, von schroffen Felsriesen bewacht. Der Monte Baldo, der gewaltige Bergkönig, hatte sich eine schlohweiße Neuschneekrone auf die Steinlocken gedrückt. Eitel spiegelte er sich in dem enzianblauen See. Segelboote, weißen Schwänen gleich, zogen still ihre blaue Straße. Aus dem Fischerboot drüben klangen italienische Volksweisen, schwermütig, sehnsuchtsvoll. Leise plätscherten blaue Wasser gegen sonnenweißes Ufer. Dunkle Zypressen ragten ernst und steil in lichtsilberne Luft.
»Wie ein Böcklinsches Bild«, sagte eine Frauenstimme voll Andacht. »Nun sind wir doch schon in der dritten Woche hier in Riva, und immer noch erscheint mir der Gardasee, die ganze Landschaft hier unwirklich, ein Vineta, aus blauen Märchenwassern emporgestiegen. Es sollte mich nicht wundern, wenn die ganze Herrlichkeit eines Tages wieder versinkt.«
»Fraule, du wirst hier zum Dichter. Auf Goethes Spuren – das scheint infizierend zu wirken. Aber lies weiter. Was schreibt Meister Goethe über die Ponalestraße? Soll mich halt wundern, ob es damals auch schon so staubig dort gewesen, oder ob wir das erst dem Fortschritt des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen luftverbessernden Autos verdanken.« Geheimrat Hartenstein war von jeher dem Autoverkehr nicht hold. Und besonders beim Landaufenthalt räsonierte er über jedes vorübersausende, staubaufwirbelnde Gefährt.
Frau Annemarie hatte den Kopf mit dem noch vollen weißen Haar gegen den dunklen Pinienstamm gelehnt, der die Uferbank beschattete. Ihre Augen schienen so blau wie der See. Sie dachte nicht daran, die unterbrochene Lektüre, Goethes »Italienische Reise«, wieder aufzunehmen. »Auf Goethes Spuren ...«, wiederholte sie nachdenklich. »Ich wünschte, wir könnten seinen Spuren folgen, Rudi. Manchmal komme ich mir vor wie Moses, der das gelobte Land nur von weitem schauen darf.«
»Auch Goethe hat das erstemal das gelobte Land Italia nur von weitem geschaut, Weible«, tröstete der alte Herr. »Droben auf dem St. Gotthard hat er kehrtgemacht und ist wieder gen Norden gezogen. Aber du hast das nimmer nötig, Annemarie. Schau', ich bitt' dich halt, begleite das Kind, das Mariele, nach Genua hinunter. Bist doch erst ruhig, wenn du sie dort in Person bei den Verwandten ihres Vaters abgeliefert hast. Und den Jungen, den Horst, kannst gleich dabei feierlich einholen.«
Genua – das Meer – die Riviera – – – lockende Bilder stiegen vor Frau Annemaries freudigem Blicke empor und – versanken sofort wieder. Ihr Auge suchte das schmale, noch immer bleiche Gesicht ihres Mannes mit den vergeistigten Zügen und der blauen Brille – nein, unmöglich, ihn zu verlassen. Nie hatte er mehr ihrer bedurft als jetzt.
»Du scherzest nur, Rudi, denn im Ernst kannst du doch nicht daran denken. Ich sollte dich jetzt allein lassen – dazu waren die letzten Wochen zu schwere. Die ketten mich fester an dich als die Jahrzehnte, die wir gemeinsam durchwandert. Ich hätte nicht einmal volle Freude von all den neuen Natur- und Kunsteindrücken. Mein eigentlicher Mensch bliebe doch bei dir zurück. Du wirst mich nun schon nicht mehr los für den Rest unseres Lebens, mein guter Alter.« Es sollte scherzhaft klingen, und doch – ein heiliger Ernst wehte durch Frau Annemaries Worte, ein festes Gelübde.
Wortlos griff der alte Herr nach der vollen, weichen Frauenhand. Still zog er sie an die Lippen, die ihn gehegt, gepflegt und gestützt hatte, all die schweren, jüngst verflossenen Wochen. Galanterie war niemals Rudolf Hartensteins Art gewesen, und auch jetzt war dieser Handkuß nur der Ausfluß inniger Dankbarkeit. »Du bringst mir Opfer über Opfer, Annemarie«, sagte er leise.
»Ach was – Opfer! Ist das etwa ein Opfer, hier mit dir an dem märchenhaft schönen Gardasee sitzen zu dürfen? Doppelt zu genießen in dem Bewußtsein, daß deinen Augen alles neu geschenkt ist. Wer mir das noch vor einem Monat gesagt hätte. Und da sprichst du von Opfer! Wer weiß, ob die Sehnsucht nach Italien nicht wertvoller und bereichernder ist, als die Erfüllung. Ich will gar nichts anderes, als hier Hand in Hand mit dir, mein Alter, ins gelobte Land schauen.«
Still saßen sie beide, die alten Leutchen, blickten über die tiefblaue Wasserfläche, auf die sich rosenrot färbenden Schneekuppen, bis Frau Annemarie in die Ferne wies: »Der Dampfer – gleich legt er in Torbole an. Hoffentlich benutzt Jetta ihn für den Rückweg. Man merkt, wie die Tage kürzer werden. Daran erkennt man den mit Macht nahenden Herbst. Komm, Rudi, ich führe dich ins Haus. Sobald die Sonne hinunter ist, wird es kühl. Und du sollst dich vor Erkältungen schützen.« Vorsorglich legte Frau Annemarie das auf die Banklehne geglittene Plaid um die Schultern ihres Mannes und griff nach seinem Arm. Die verflossenen Leidenswochen hatten ihn unbeholfen gemacht. Er hatte sich daran gewöhnt, sich führen zu lassen, sich auf den Arm seiner Frau zu stützen. Auch später, als er sein Augenlicht wieder erlangte, war eine Schwäche, eine Unselbständigkeit der Bewegungen zurückgeblieben. Langsam schritten sie unter Palmen, Olivenbäumen, Pinien und Zypressen, unter Orangen- und Zitronenlaubgängen dem Hause zu.
Das Parkhotel, ein ehemaliger Palazzo mit Bogengängen und Steingalerien, empfing sie licht und wohnlich. Aber kaum hatte Frau Annemarie es ihrem Manne im Lehnsessel bequem gemacht und die Berliner Zeitung zum Vorlesen bereit gelegt, als sie auch schon wieder unruhig nach der Tür blickte.
»Weißt du, Rudi, ich möchte ganz schnell zur Dampferanlegestelle hinunter. Die Zeitung läuft uns ja nicht fort. Und das Kind – – –«
»'s Mariele läuft auch nit fort. Das findet den Weg zum Hotel auch ohne dich. Aber nur zu, Fraule! Eher hast ja nimmer Ruh' zur Zeitung. Ich halt' ganz gern für mich Dämmerstündle. Wie soll das nur werden, wenn's Mariele uns in einigen Tagen auf und davon geht nach Genua?«
Ja – wie sollte das nur werden? Das fragte Frau Annemarie sich selbst, als sie jetzt die weiße Landstraße entlang den in der Bucht an steilabfallender Felswand angeklebten Häusern Rivas zuschritt. Es war kein Opfer für sie, auf Italien zu verzichten – o nein – aber das Kind, die Jetta, allein in die Welt hinaus zu schicken, das bedeutete ihr ein Opfer. Und doch – sie mußte lernen, die Enkelin allein ihren Weg gehen zu lassen.
Trotz ihrer Vornahme schloß die Großmama die nur für die Nachmittagsstunden mit einigen Hotelgästen fern gewesene Enkelin so erfreut in die Arme, als ob dieselbe zum zweiten Male aus Brasilien einträfe.
»Wie hübsch, Großmuttchen, daß du am Dampfer bist! Es war ein herrlicher Nachmittag. Der Weg durch die Olivenhaine über St. Giacomo nach Varone war etwas heiß, wenigstens für die anderen. Mir macht ja solch ein bißchen Wärme nichts. Tropensonne brennt anders. Der Wasserfall ist harmlos, ich habe ihn mir gewaltiger vorgestellt. Aber in Torbole haben wir die Goethetafel über dem Säulenbrunnen gesehen. Sie trägt Goethes Worte aus der Italienischen Reise: »Heute habe ich an der Iphigenie gearbeitet. Es ist im Angesicht des Sees gut vonstatten gegangen.«
»Freilich, das habe ich dem Großpapa ja erst gestern vorgelesen«, stimmte Frau Annemarie erfreut bei.
»Ihr müßt es sehen. Wir können ja einen Wagen nehmen, wenn der Weg für Großpapa zu anstrengend ist. Torbole ist sehr malerisch. Es scheint noch genau so zu sein, wie damals am 12. September 1786, als Goethe diese Zeilen dort schrieb. Ein Fischerort, noch nicht von der Hotel- und Fremdenkultur verseucht. Der Durchblick am Goethebrunnen durch den Torbogen auf den blauen See mit seinen Fischerbooten ist entzückend. Und wenn man denkt, daß Goethe vor mehr als einem Jahrhundert das genau so gesehen, dann fühlt man erst, wie geringfügig der Mensch in der großen Zeitenflut ist.« Ganz lebhaft war Marietta bei ihrer Schilderung geworden. Was das Kind für zartrosige Farben bekommen hatte. Tat aber auch not. Der Aufenthalt an der Waterkant hatte trotz der guten Lüttgenheider Milch den seelischen Aufregungen, denen Marietta ausgesetzt gewesen, nicht standhalten können. Erst daheim in Lichterfelde, als sie den Großvater zwar noch geschwächt und hilflos, aber voll innerer Ruhe und Freudigkeit über das wiedererlangte Augenlicht, die Großmama voll glückseliger Dankbarkeit sah, beruhigte sich Mariettas aufgewühltes Nervensystem. Sie genoß jetzt ihren Urlaub, der mit den anschließenden Oktoberferien sechs Erholungswochen bedeutete. Die Hälfte davon war für den Gardasee in Gemeinschaft mit den Großeltern festgelegt. Die zweite Hälfte sollte sie in Genua bei einer Tante väterlicherseits zubringen. Die italienischen Verwandten hatten ihren Sommersitz in dem unweit von Genua gelegenen St. Margherita an der ligurischen Küste. Dort würde sie Meer und Gebirge, südländische Natur sowohl wie die Schönheit und die Kunst Genuas genießen können.
Die Tage flogen. Frau Annemarie hätte sie gern festgehalten. Es schien ihr die schönste Zeit ihres Lebens in Gemeinschaft mit dem genesenden, die herrliche Umgebung neu in sich aufnehmenden Gatten, mit ihrem Herzblatt Marietta.
Aber schließlich rückte der Tag doch heran, da der Dampfer ihr den Liebling entführte. Bis Gardone gaben die Großeltern der Enkelin das Geleit. In Mailand wollte sie Signor Sanini, der Schwager von Mariettas Großmutter Tavares, in Empfang nehmen. Das war immerhin eine Beruhigung.
»Jetta, sobald du in Mailand eingetroffen bist, telegraphierst du. Vergiß es nur nicht, Seelchen. Und jeden Tag eine Postkarte, mehr verlange ich nicht – – –«
»Ist halt schon mehr als zuviel«, lachte ihr Mann sie aus. »Sag' auch dem Jungen, dem Horst, ein herzliches Grüß Gott in der Heimat von uns!« rief der Großvater nach, während Marietta von dem sich vom Ufer entfernenden Schiff Grüße zurückwinkte.
»Besser auf drei Wochen nach Genua, als für ein ganzes Leben nach Brasilien«, tröstete Frau Annemarie sich selbst. Unwillkürlich war wohl die Erinnerung in ihr wach geworden an jene schweren Augenblicke, da ihre Jüngste sich für immer von der Heimat gelöst hatte.
»'s Mariele kommt wieder, das hat halt in Deutschland Wurzel geschlagen.« Ein langes, gemeinsames Leben, das Denken eines für den andern hatte jedem der beiden die Fähigkeit verliehen, in der Seele des andern zu lesen.
»Und wenn sie dort ihr Glück findet, wenn es sie dort festhält, müssen wir auch zufrieden sein, mein Alter.« Frau Annemaries großmütterliche Gedanken folgten dem mit weißem Wellengischt davonrauschenden Schiff.
Marietta stand an der äußersten Spitze des Dampfers, schaute in das unergründliche blaue Wasser, in den tiefblauen, sich darüber wölbenden Himmel. Es war ihr zumute wie einem Vogel, der die Schwingen ausbreitet in unermeßliche, unbegrenzte Weiten. So stand jetzt auch einer auf dem großen Ozeandampfer und blickte der Heimat entgegen.
Und dann saß sie in einem Abteil erster Klasse des von Venedig kommenden Schnellzuges via Milano, und eine ziemlich eintönige graue Landschaft mit verstaubten Olivenbäumen, ab und zu von einem dunklen Pinienfleck belebt, flog an ihr vorüber. Das also war das gelobte Land Italia. Dem von Farbenfreudigkeit verwöhnten Auge des Tropenkindes erschien es grau und nüchtern. Aber dann Mailand. Der Großonkel, der gerade geschäftlich in Milano zu tun hatte, nahm Marietta in Empfang. Ein eleganter, alter Herr mit schwarzen, noch immer feurigen Augen unter dem weißbuschigen Haar. Das war Signor Enrico Sanini. Er war überrascht und entzückt von der lieblichen Schönheit seiner jungen Verwandten. Er überschüttete sie mit liebenswürdiger Ritterlichkeit und war begeistert, daß sie die italienische Sprache so gut beherrschte. Ja, die nonna, die Großmama, Signora Tavares, war als junges Mädchen eine gefeierte Schönheit in Genua gewesen. Die Augen hatte Marietta sicher von ihr. Nur sprühender, lebhafter hatte er die schwarzen Augen seiner Schwägerin in Erinnerung. Marietta, von der Eisenbahnfahrt ein wenig abgespannt, wurde es bei dem Wortschwall, der sich da in liebenswürdigster Weise über sie ergoß, ganz taumelig zumute. Sie fand erst wieder zu sich selbst zurück, als sie auf der Piazza del Duomo vor dem Mailänder Dom stand. Ah – da war sie mit einem Schlage dem vorüberflutenden Menschengetriebe, den mit lauter Hupe vorbeirasenden Autos, dem Redeschwall ihres Begleiters entrückt. Wie auf einer Insel stand sie allein diesem gewaltigen Bauwerk gegenüber. Märchenhaft, ganz unwirklich geisterten die weißen Steinfiligran-Türme in die Abenddämmerung. Wie ein zartes Spitzenmuster standen sie gegen den lichtgrün-orange zerfließenden Abendhimmel. Höher, immer höher – diese wunderbare Gotik zog einen mit empor, bis in die nadelscharfen Türmchen, bis in die feinsten Spitzen des fabelhaften Kunstwerkes. Marietta fühlte sich erhoben, emporgetragen – zum dritten Male mußte der Großonkel seine Aufforderung, mit ihm hinüberzugehen zur Galleria Vittorio Emanuele, um dort im Caffe Biffi eine Schale gelato zu nehmen, wiederholen. Eis essen – wie konnte man jetzt daran denken, wo ein so überwältigendes Architekturwerk einem Erlebnis für alle Zeiten wurde.
Signor Sanini sagte der Mailänder Dom nichts mehr. Er war ihn gewöhnt wie das davorstehende Reiterstandbild des Königs Vittorio Emanuele II., wie die Säulenhöfe mit umlaufenden Galerien in den altitalienischen Häusern, von denen seine junge Begleiterin auf dem Wege gefesselt worden war. Ihn verlangte es an dem heißen Tage nach einem gelato, nach Musik und vorüberziehenden Menschen.
Caffe Biffi – Verdi-Musik – glutäugige Italienerinnen, lebhaft gestikulierende Jünglinge mit langem, schwarzem Haarschopf, Fremde in Reisekleidern, den roten Bädeker in der Hand, Namen von Geschäftsfreunden des Onkels, die bewundernde Blicke auf die schöne Fremde warfen, alles das zog wie auf einer Bühne, bei der sie selbst nur Zuschauer war, an Marietta vorüber. Dann Ristorante Orologgio mit seinen buntschirmigen, wie schimmernde Riesenschmetterlinge in weiches Nachtdunkel hinausglänzenden Lampen. Aalglatte, immer wieder der Gabel entgleitende spaghetti mit parmigiano – Parmesankäse –, zu deren Vertilgung es erst eines besonderen Studiums zu bedürfen schien. Voll Staunen sah Marietta, wie der Onkel und die Umsitzenden diese ihr so schwerfallende Kunst beherrschten, wie sie mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit die feinen spaghetti um die Gabel wickelten und Unmengen davon mit dem beliebten Parmesankäse oder vielmehr » parmigiano« verzehrten.
» Bene – benissimo –, sehr geschickt!« ermunterte der Onkel Marietta zu ihren noch zum Teil mißglückenden Versuchen, es den Italienern bei ihrem Nationalessen gleich zu tun.
Dann noch einmal den jetzt in Silberflut des Vollmondes getauchten Dom, Autofahrt zum Hotel, und dann ein wohliges Hineingleiten in einen festem Schlaf vorangehenden Dämmerzustand.
Der nächste Tag war der zwanzigste September, ein historischer Nationalfesttag für Italien. Mailand hatte sich geschmückt. Blumengewinde umkränzten Häuser, Säulen, Bildwerke, Fahnen und Teppiche aus jedem Hause. Weiß, grün, rot, die Nationalfarben, wohin man blickte.
»Du hast es gut getroffen, Marietta«, sagte der Onkel beim Frühstück. »Milano zeigt sich im Festschmuck nicht jedem Fremden. Solch einen Festzug hast du sicher noch nicht gesehen.«
Marietta dachte, daß ihr viel mehr an der Innenbesichtigung des Domes gelegen sei, an der Brera, der berühmten Kunststätte Mailands, an der Kirche Maria delle Grazie mit dem Abendmahlbild des Leonardo da Vinci. Hatte sie doch in den Ferientagen am Gardasee in Gemeinschaft mit der Großmama die Kunstgenüsse, die ihrer in Mailand und Genua warteten, verständnisvoll studiert. Aber sie mochte den liebenswürdigen alten Herrn nicht verletzen. Sicher war es auch interessant, ein typisches Volksbild in einem fremden Lande zu bekommen.
Der Domplatz, der heute im grellen Sonnenlicht nichts geisterhaft Unwirkliches mehr hatte, zeigte filmartig malerische Bilder, echt italienischen Volkscharakter. Die den Festzug erwartende Menge befand sich in großer Aufregung. Auch der alte Signor Sanini war von jugendlicher Lebhaftigkeit.
»Sie kommen – sie kommen!« Die Erregung erreichte ihren Höhepunkt. Voran die Musikkapelle, die Nationalhymne blasend, welche das Publikum mitsang, dann jubelnde Zurufe des Volkes: » Evviva – evviva – die Garibaldi – hoch – hoch – – –« Zwei blumengeschmückte Wagen mit greisen Veteranen in roten Jacken, die mit blühenden Zweigen die Menge grüßten, zogen vorüber. Es hatte etwas Rührendes, diese verwitterten, weißhaarigen alten Männer unter blühenden Blumen. Befremdet sah Marietta, wie das Volk die Vorüberziehenden durch begeistertes Händeklatschen und Emporheben des rechten Armes ehrte. Jedes Land hat seine besonderen Sitten, dachte sie.
» O bella – bella!« Ein rotjackiger Weißkopf grüßte mit unglaublicher Grazie begeistert zu Marietta herüber.
»Du bist gemeint, Marietta.« Der Onkel war stolz auf seine schöne Begleiterin. Signor Sanini war trotz seiner zweiundsiebzig Jahre nicht weniger feurig, als die jungen Leute. Wenn Marietta an ihren Großpapa dachte, an die abgeklärte Ruhe des alten Geheimrats, war es kaum denkbar, daß die beiden Altersgenossen waren. Auch die noch heute lebhafte und für alles Schöne begeisterte Großmama wirkte anders. Sie bewahrte bei aller Lebhaftigkeit doch stets eine gewisse Würde.
Das ganze Militär, in malerischen Farben, war inzwischen an der begeisterten Volksmenge mit Musik, Fahnen und Zurufen vorübermarschiert. Marietta begann der Zug allmählich zu ermüden.
» Le madre – die Mütter!« Schwarzgekleidete, tiefverschleierte Frauen – ein langer Zug – das waren die Mütter der fürs Vaterland Gefallenen. Die Menge entblößte ehrfürchtig das Haupt. Schweigend ließen sie die Heldenmütter vorüber. Aber der nun folgende Zug griff noch stärker an Mariettas Herz. Die Krüppel folgten, die fürs Vaterland ihre gesunden Glieder eingebüßt. Im Rollwagen wurden sie gefahren, Blinde wurden geführt. Und die Menge hob den Arm oder klatschte. Dieses krasse Bild tat Marietta weh. Unter italienischer Sonne, mitten aus Blumen, Musik und Festtumult mußte sie an das elende Dasein ihres blinden Patenkindes in Lichterfelde denken. Ob auch Lottchen in ihrer Vertretung gut für den blinden Maler sorgen würde?
Schulkinder, Knaben und Mädchen, alle gleich blauweiß gekleidet, machten blumengeschmückt den Schluß des Zuges.
»Nun essen wir Mittagbrot«, sagte Signor Sanini, wie nach einer Arbeit aufatmend.
»Jetzt schon – ist denn schon Zeit zum Mittagessen?« Marietta war enttäuscht. »Ich wollte doch noch in die Gemäldegalerie der Brera und vor allem das Abendmahl von Leonardo sehen.«
»Da hättest du dir nicht le venti Settembre – den zwanzigsten September – dazu aussuchen sollen. Heute, am Nationaltag, ist alles geschlossen, tutto. Du wirst ja noch öfter nach Milano kommen. Das bleibt dir per la volta prossima – für das nächstemal. Avanti!« Er steuerte auf ein ristorante zu.
»Nein, Onkel Enrico, das ist nicht dein Ernst. Ich sollte in Mailand gewesen sein und dort die größten Kunstgenüsse versäumt haben? Das wäre banausenhaft.« Mariettas zarte Wangen hatten sich vor Erregung gerötet.
Der Onkel schien augenblicklich leibliche Genüsse den Kunstfreuden vorzuziehen. Er studierte eifrig la lista – die Speisekarte. » Risotto alla Milanese oder spaghetti?« erkundigte er sich angelegentlich bei der jungen Signorina. Ohne diese Vorspeise, Reis oder Makkaroni war ein italienisches » pranzo« – Mittagessen – nicht denkbar.
»So muß ich mich bis auf morgen mit der Brera und dem Abendmahl gedulden.« Marietta war mit ihren Gedanken noch bei der Enttäuschung.
»Marietta, der Kellner wartet. Das Mittagsmahl ist augenblicklich wichtiger.« Und nachdem die junge Dame sich für risotto entschlossen hatte, fuhr er fort: »Das Cenacolo – das heilige Abendmahl Leonardos – ist überhaupt nur eine Modetorheit der Fremden. Das Bild ist arg von der Zeit mitgenommen. In einer Kopie kannst du das viel besser sehen. Und in Genova sollst du in den alten Palazzi genug Bilder bewundern.« Damit machte sich der alte Herr an seine spaghetti.
»Interessierst du dich nicht für Malerei, Onkel?« fragte Marietta ganz verblüfft. Wie hatte die Großmama und auch der Großpapa schon vorher mit ihr in dem Meisterbild Leonardos geschwelgt, sie auf alle Schönheiten, auf die sie achten mußte, aufmerksam gemacht. Marietta hatte angenommen, alle Italiener seien kunstfreudig, in dem Lande der Kunst mache keiner eine Ausnahme.
»Musik ist mir lieber als Farbenkleckserei«, meinte der Onkel gemütlich und ließ es sich schmecken. »Schade, daß die Scala, die große Mailänder Oper, noch nicht wieder eröffnet ist. Da hättest du heute abend einen Genuß haben sollen – superbo!«
»Nun, mir wird die Farbenkleckserei von Leonardo da Vinci morgen einen nicht geringeren Genuß bereiten«, lächelte seine junge Begleiterin.
» Domani – morgen, was denkst du, Marietta! Um diese Zeit sind wir morgen bereits in Genua.«
»Ich nicht, Onkel Enrico.« Marietta lachte schelmisch. »Ich fahre nicht aus Mailand fort, ohne das Abendmahl und die Brera gesehen zu haben.« Das klang bei aller Bescheidenheit fest und energisch.
» Non c'è possibile, Marietta. Es ist wirklich unmöglich. Ich muß den Morgenzug nehmen, da ich am Nachmittag eine geschäftliche Unterredung habe. So gern ich einer so schönen Signorina den Gefallen – – –.«
»Aber Onkel, ich brauche doch noch nicht morgen mittag in Genua zu sein«, unterbrach ihn Marietta. »Ich komme dir nach – – –.«
Der Onkel blätterte im Kursbuch. »Du könntest den Mittagszug nach Genua benutzen. Dann hast du den Vormittag noch für deine Kunst«, räumte er nachgiebig ein. » C'è bene? «
» Bene – benissimo! « Marietta war einverstanden.
Als der Onkel am andern Morgen davongedampft war, durchflutete Marietta ein nie gekanntes Gefühl der Selbständigkeit. Allein in einer fremden Stadt – ihre sonstige Scheu und Schüchternheit war fröhlichem Unternehmungsgeist gewichen. Also zuerst zur Kirche Maria delle Grazie, einem frühromanischen Bau mit schönem Klosterhof, die das Wandgemälde des großen Meisters Leonardo barg. Wie lange Marietta vor dem teilweise durch die Jahrhunderte gelittenen Bilde gestanden, wußte sie nicht. Das, was man sah, war von so überwältigender, erhabener Schönheit, in Gestaltung, Ausdruck und Farben, daß sie ganz hineintauchte, sich vollständig versenkte in das wunderbare Werk. Losgelöst war sie von Zeit und Umgebung.
» Beg your pardon. « Englische Laute rissen sie aus ihrer Versunkenheit. »Ist dies das berühmte Bild von Mister Leonardo da Vinci?« Ein großer blonder Engländer konnte sich nicht denken, daß man um dieses verblichene, teilweise schon schadhafte Gemälde solch ein Aufhebens machte.
Marietta bejahte kurz und wandte sich zum Gehen. Da durchzuckte es sie – dieser blonde Hüne erinnerte an Horst Braun. Eine plötzliche Unruhe ergriff sie. Ob Horst bereits in Genua war? Der Onkel wußte nur, daß die Patria, das Schiff, das er benutzte, in den nächsten Tagen erwartet wurde. Marietta sah seiner Ankunft mit gemischten Gefühlen entgegen. Beklemmung und Freude hielten sich die Wagschale. Ob er noch immer unter Anitas Handlungsweise litt? Würde er sie wieder gleichgültig übersehen wie vor Jahren? Und doch, sie wollte die Erste sein, die ihn auf europäischem Boden begrüßte, die ihm die Heimatsgrüße von der Waterkant brachte. Verlor sie hier nicht kostbare Minuten, während er vielleicht schon in Genua landete?
Die Brera mit ihren Kunstschätzen, den Bildern von Luini, dem herrlichen Raffaelschen Gemälde »Die Vermählung der Maria« und vor allem eine Pieta von Bellini, eine Beweinung Christi, gaben ihr Ruhe und Andacht zurück. Der Schmerz der ganzen Welt sprach aus diesem Mutterantlitz – was bedeutete ihr kleines Einzelschicksal dagegen.
Noch einmal in den Dom hinein, hinauf durch das Spitzengewirr bis zur höchsten Turmgalerie, ein Blick nordwärts, wo die Schneehäupter der Alpen grüßten, dann flog Auge und Sinn gen Süden.
Eine Stunde später saß Marietta im Zuge nach Genua.