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4. Kapitel. Radio.

Der Weihnachtsmonat hatte diesmal nicht den von der Jugend ersehnten Schnee gebracht. Graue Regentücher spannten sich über Berlin, hingen sich triefend an die Dächer und hohen Mäste der elektrischen Bogenlampen und hüllten auch draußen in Lichterfelde Villen und Gärten in feuchtgraue Gaze. Ungemütlich war's da draußen. Regen von morgens bis abends, vom Abend bis zum Morgen. Die Wege aufgeweicht, das Strauchwerk wüst auseinandergerissen. Geheimrats farbenfreudiges Rosenhaus stand seines Schmuckes beraubt, griesgrämig, schemenhaft in all dem Grau.

Drinnen war's um so gemütlicher. Bei der grünverhangenen Lampe saßen die beiden alten Herrschaften in ihrer Sofaecke traulich am Teetisch. Die Spiritusflamme unter dem Messingsamowar flackerte. Das Wasser in dem blitzblanken Kessel begann schon unternehmungslustig zu brodeln. Ein mattrosa Alpenveilchen, Frau Annemaries besonderer Liebling, hauchte ganz feinen, zarten Duft aus, als wäre Farbe Duft geworden.

Frau Annemarie hatte, wie meist des Abends, die Radiohörer an den Ohren. Sie sah damit, den Worten ihres Mannes zufolge, wie ein Karnickel würdigeren Jahrgangs aus. Lächelnd ließ sich Frau Annemarie diese scherzhafte Bezeichnung gefallen. Sie meinte nur: »Ich wünschte, ich könnte noch wie ein Karnickel springen.«

Der Radio spielte jetzt eine große Rolle bei Geheimrats. Nur selten mochten sie noch abends ausgehen. Allenfalls mal zu den Kindern. Zu ihrem Sohn Hans, dem Fabrikbesitzer in Zehlendorf, oder, was noch seltener geschah, zu ihrer ältesten Tochter Vronli, zu Professor Eberts. Wohnten diese doch, um mit Frau Annemarie zu sprechen, nicht viel näher als ihre Ursel in Brasilien. Nur an Geburtstagen wurde die umständliche Landpartie nach dem Norden unternommen. Und da Eberts weiter keine Kinder als Gerda hatten, kam das nicht öfter als dreimal im Jahre vor. »Die Kinder müssen jetzt zu uns kommen. Die Eltern sind lange genug für sie gelaufen«, bestimmte der Geheimrat. Aber nicht nur die Kinder, auch Theater und Konzerte, in die man früher so gern gegangen, ließen die alten Leutchen jetzt zu sich herauskommen. Der Rundfunk vermittelte ihnen all diese Genüsse auf das beste, ohne daß man einen Fuß vor die Tür zu setzen brauchte. Man saß gemütlich in seiner Sofaecke, trank seinen Tee, rauchte seine Abendzigarre, strickte oder häkelte und genoß dabei die »Fledermaus«, den »Barbier« oder auch den »Troubadour«, Orchesterkonzerte, Solisten und Vorträge. Man war mit der Welt verbunden, ohne die Unbequemlichkeiten dabei in den Kauf nehmen zu müssen.

»Der Radio macht einen vor der Zeit alt«, pflegte Frau Annemarie zu bemerken, ließ sich aber nichtsdestoweniger die damit verbundene Bequemlichkeit recht gern gefallen. Nur selten begleitete sie jetzt Marietta in Konzerte und Theater. Und dann eigentlich auch nur aus Besorgnis, daß das »Kind« im Dunkeln nicht so spät allein nach Hause kommen sollte. Sie war dankbar und glücklich, wenn sie abends mit ihren »Karnickelohren« in ihrer Sofaecke saß.

Anders der alte Herr. Der hatte jetzt ja öfters was zu nörgeln und auszusetzen. Natürlich auch an dem Radio. Na ja, es war ja eine wunderbare Sache damit gewesen, als er vor Jahren aufkam. Ein kolossaler Fortschritt auf dem Wege der Technik. Aber er ließ trotz mancher Verbesserung inzwischen doch noch immer zu wünschen übrig. Der Röhrenapparat, den er selbst mit seinem Faktotum Kunze angelegt hatte, funktionierte tadellos, wenn – der alte Herr nicht daran herumbastelte. Das war aber eigentlich nur der Fall, wenn er nicht zu Hause war. Bald spielte er zu leise – der alte Geheimrat hörte schon etwas schwer – und mußte verstärkt werden. Mit dem Erfolge, daß es schnarrte und knatterte, daß einem das Trommelfell platzte. Oder das Piano in dem Violinsolo war unbedingt zu scharf – er verstand sich doch darauf, das mußte ganz zart herauskommen – und es ward so pianissimo, daß überhaupt nichts mehr zu hören war. Aber fünfundvierzig Jahre hatten Geheimrats nun schon in der harmonischsten, liebevollsten Ehe gelebt, aber jetzt kam es öfters zu Kabbeleien zwischen ihnen. Und nur wegen des Rundfunks. Wenn Frau Annemarie gerade im Lied an den Abendstern schwelgte – bums – da war er erloschen. Lauschte sie andächtig Schuberts Frauenliebe und Leben, so verwandelten sich die zarten Lieder plötzlich in einen ohrenbetäubenden Soldatenmarsch. War es da ein Wunder, daß sie selbst ihre Frauenliebe vergaß, daß sie selbst Funken sprühte? Beim Rundfunk versagte Frau Annemaries Abgeklärtheit und Ruhe, da kam ihr Jugendtemperament wieder zum Vorschein. Himmelhoch beschwor sie ihren Mann, doch bloß die Hände von dem Apparat zu lassen. Kunze verstand das tausendmal besser.

Nun, ehrgeizig war Rudolf Hartenstein sein Leben lang nicht gewesen. Auszeichnungen wie der Professor- und später der Geheimratstitel hatten ihn wohl gefreut, aber er legte ihnen weiter kein Gewicht bei. Jetzt auf seine alten Tage wurde er ehrgeizig. Er nahm es seiner Frau ernstlich übel, daß sie Kunze, seinen Diener, der erst durch ihn in allem angelernt worden war, mehr zutraute als ihm selbst.

Die auswärtigen Stationen wiederum ärgerten Frau Annemarie. Ihr genügte es, von der Berliner Sendstation gute Musik zu empfangen. Wozu brauchte sie aus Rom schlecht zu hören. Dem Geheimrat machte es Spaß, zu experimentieren und auf auswärtige Wellen einzustellen. Hatte seine Frau, die Karnickelohren im Rhythmus wiegend, noch eben das Deutschlandlied mitgesummt, da saß sie mit einemmal auf dem Eifelturm, von dem man natürlich so gut wie nichts verstand. Oder mitten in einem bunten Abend, der ihr viel Vergnügen bereitete, gondelte sie auf einer Welle plötzlich nach London. Ja, wenn es noch nach Brasilien und Sao Paulo gewesen wäre.

Tatsächlich, der Radio untergrub das Familienglück. Wollte Frau Annemarie hören, so hatte ihr Mann sicher gerade Lust zum Plaudern. »Den ganzen Tag hast du deinen Mann nimmer, und abends bist halt jetzt auch nit mehr für ihn da.« Dabei hatten sie meistens den Nachmittag gemeinsam verbracht. Wollte der Geheimrat aber mal irgend etwas, was ihn besonders interessierte, am Rundfunk hören, so kam sicher gerade Marietta nach Hause. Dann riß die Großmama die Karnickelohren herunter und war nur noch Ohr für die Enkelin. Ja, dann hieß es natürlich: »Diese Weibsleut mit ihrem Geschwätz – nit einen Augenblick können's den Mund halten.«

Heute herrschte eitel Friede in dem grünverhangenen Zimmer. Frau Annemarie häkelte an ihrer Schlummerrolle und wackelte dabei ab und zu im Takt mit den Karnickelohren. Der Geheimrat las seine medizinische Zeitung und dachte nicht daran, seine Frau auf irgendeiner Welle davonschwimmen zu lassen.

»Rudi, das mußt du hören, das ist etwas für dich. Ein Piano hat die Sopranistin – sie erinnert mich an unser Urselchen«, rief Frau Annemarie plötzlich mit erhobener Stimme. Denn wenn man die Hörer an den Ohren hat, pflegt man stets mit den anderen zu schreien, weil man sein eigenes Wort nicht versteht.

Der Geheimrat brummte etwas von »keinen Augenblick nit Ruh«, griff aber doch pflichtschuldigst nach dem Hörer. »Viel zu leise – – –«

»Herrgott, Rudi, das Knattern ist ja gar nicht auszuhalten. Es klang doch so schön«, beschwerte sich Frau Annemarie.

»Geduld – es kommt halt noch viel schöner« – – –

»Rudi, stell' anders ein, Maschinengewehrfeuer ist dagegen Sphärenmusik. Um jeden Genuß bringst du mich durch das unnütze Herumgebastele. Kunze soll kommen – – –«

»Ja, was versteht denn Kunze davon? Ich werd doch wohl meinen Apparat selber richten können. Halt – gleich hab' ich's –«

»Aber das ist ja ganz was anderes – – –«

»Sehr interessant!« Der Geheimrat wiegte erfreut den zwischen den Hörern eingeklemmten Kopf, der sich mit seiner bis zum Hinterkopf reichenden Stirn etwa wie eine Tortenplatte mit Nickelgriffen ausnahm. »Wirklich, sehr interessant – das muß Frankfurt sein.«

»Ja, was geht mich denn Frankfurt an! Die Zerlinchen-Arie aus dem Don Juan wollte ich hören – – –«

»Dann hättst du mich nit stören sollen. Ich hab' ruhig meine Medizinische gelesen und an nix Böses gedacht.«

»Ob du einen wohl mal etwas zu Ende hören läßt. Man verliert wirklich die Lust«, begehrte Frau Annemarie ärgerlich auf.

Helles Lachen von der Tür her unterbrach diese eheliche Auseinandersetzung der beiden alten Herrschaften. Da stand Marietta und schaute belustigt auf die Großeltern. Sie hatten ihren Eintritt bei der lebhaften Debatte überhört.

»Schon wieder der Radio? Wohin hat der Großpapa dich denn eben wieder transportiert, Großmuttchen?« erkundigte sich die Enkelin, noch immer lachend. Die Radioszenen der sonst so friedliebenden Großeltern machten ihr ungeheuren Spaß.

»Nach Frankfurt, mitten aus dem Don Juan heraus.« Auch die Großmama lachte schon wieder und nahm ihren Kopfputz ab. Wenn Marietta heimkam, dann ließ sie Radio Radio sein.

Großpapa aber brummte und bastelte noch immer herum. »Hast du dich auch nicht erkältet, Seelchen? Ein Hundewetter draußen. Sieh erst nach, ob du auch keine nassen Füße hast. Und dann trinke gleich erst eine Tasse heißen Tee, der beugt dem Schnupfen vor. Spät ist's heut' wieder geworden. Hast du heut' mittag auch was Vernünftiges zu essen bekommen, ja? Frau Trudchen hat dir ein Kalbsteak aufgehoben. Sie meint, was die jungen Dinger da in der Frauenschule zusammenkochen, ist ja doch nur Fraß.«

»Es schmeckt uns stets recht gut. Aber Hunger habe ich schon. Ah, da ist ja schon Frau Trudchen. Und unser Lottchen auch noch auf? Wie ihr mich alle verwöhnt!« In dankbarem Behagen ließ sich Marietta das liebevolle Umsorgen gefallen.

»Liebling, tu' mir den Gefallen und sieh erst nach, ob die Strümpfe auch nicht naß sind«, erinnerte die Großmama.

»Ich habe bereits das Schuhzeug gewechselt. Ach, ist das gemütlich hier bei euch!« Marietta ließ den Blick durch das mit altmodischem Behagen ausgestattete Zimmer wandern, in dem die Großmama den Mittelpunkt aller Gemütlichkeit bildete.

»Gelt, Mariele? Darum läufst auch den ganzen Tag davon.« Der Großpapa war inzwischen aus Frankfurt zurückgekehrt und hatte Lottchen, die eigentlich ins Bett gehen sollte, mit den Radiohörern beglückt. »Was meinst, Fraule, ob der Radio wohl ein Scheidungsgrund ist?«

»Freilich, du Brummbär!« Und dann gaben sie sich lachend einen Kuß, die beiden Alten, und waren wieder ein Herz und eine Seele.

»Na, wie schaut's im Kinderhort aus, Jetta? Hat Mausi auch kein anderes deiner Küchlein angesteckt?« Großmama hatte für alles, was Jettas Arbeit betraf, volles Interesse.

»Und Otto der Faule, wie geht's dem? Hat er seinen deutschen Sprachschatz schon um ein weiteres Wort vermehrt?« erkundigte sich der Großvater neckend.

»Ottchen hat leider dran glauben müssen. Der einzige von all den Kindern, der sich angesteckt hat. Ich habe ihn soeben besucht, den armen, kleinen Kerl. Darum ist es später geworden. Es sind traurige Verhältnisse. Eine ungesunde Kellerwohnung – jammervoll! Der Mann ist Invalide, zieht mit dem Leierkasten auf den Höfen herum. Und die Frau, daß Gott erbarm. Sieben Kinder haben sie – es ist ein Elend.« Marietta legte Messer und Gabel hin und sah sich in dem mit behaglichem Komfort ausgestatteten Raum vergleichend um. Der Gegensatz war zu kraß.

»Die Armut kannst nimmer aus der Welt schaffen, Kind. Aber wenn du halt alles so tragisch nimmst, reibst du dich selber auf bei deinem sozialen Beruf. Jetzt ißt du erst einmal dein Essen auf«, verlangte der Großpapa.

Marietta gehorchte mechanisch. Aber ihre Gedanken waren woanders. »Ganz aus der Welt schaffen kann man die Armut freilich nicht«, knüpfte sie an des Großvaters Worte wieder an. »Aber lindern kann man sie schon. Wenn man nur immer wüßte, welches der richtige Weg dazu ist. Solch eine junge Anfängerin im sozialen Dienst, wie ich, macht noch gar so viel falsch. Wenn der Wille auch noch so gut ist. Oder gerade dadurch. Man läßt sich von seinem Herzen zu schnell hinreißen und wird nachher enttäuscht. Da hab' ich der Mutter von der kleinen Mausi neulich Geld gegeben, weil sie ihre Arbeit niederlegen mußte, um das Kind pflegen zu können. Was tut sie? Kauft von dem Geld für das Kind ein Sonntagskleid und eine große Puppe zu Weihnachten. Fräulein Engelhart hat schon recht: Verständige Überlegung ist ein ebenso wichtiger Faktor beim Geben wie das Herz. Eins ohne das andere hat keinen Wert.«

»Hast du noch mehr solche Enttäuschungen bei deiner Arbeit, Seelchen?« Das Großmutterherz war an diesem Wort hängen geblieben.

»Nein, nein, sonst machen sie mir viele Freude, meine Kinder. Heute haben wir Weihnachtslieder zusammen gesungen. Ihr glaubt nicht, was das für ein entzückendes Bild war, all die Kleinen mit den vor Eifer roten Bäckchen und den reinen, strahlenden Kinderaugen. Gustel hat sich heute wieder einen Witz geleistet. Der kleine Kerl ist der gründlichste von allen. Als ich von Knecht Ruprecht erzählte, wie der mit seinem silbernen Schlitten, auf dem der große Sack aufgeladen wird, vom Himmel herunterkommt, meinte er ungläubig: »Bei so'n Regenwetter? Vater sagt, man kann nur, wenn's schneit, Schlitten fahren.«

»Ein frühzeitiger kleiner Skeptiker«, lachte der Großvater.

»Natürlich muß ich nun für alle Fälle – denn wer weiß, ob wir bis Weihnachten überhaupt noch Schnee kriegen – Knecht Ruprecht bei Regenwetter mit dem Sack auf dem Rücken zu Fuß kommen lassen. Aber auch damit war Gustel nicht einverstanden. »Wie soll er denn da bloß seinen Regenschirm halten, wenn er den großen Sack festhalten muß. Und überhaupt, wenn er so'n weiten Weg vom Himmel runter hat, verliert er ja die Hälfte unterwegs aus seinem Sack.« Mariettas silbernes Lachen mischte sich mit dem der Großeltern. Die Großmama lachte so herzlich, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Und der Großvater dachte nicht mehr daran, daß es in seinem linken Zeh zwickte, daß er wieder ein wenig Druck in der Herzgegend verspürte, und daß die Augen gar nicht mehr so wollten. Sobald Marietta nach Hause kam, wurden sie alle beide jung und vergnügt, die Großeltern.

»Noch immer kein Brief?« fragte Marietta, den Blick zu Großmamas Schlüsselkörbchen wandern lassend, in dem stets der neueste überseeische Brief zu liegen pflegte. »Was das nur bedeutet? Seit vierzehn Tagen ist Mamis Brief fällig. Es sind Schiffe aus Südamerika inzwischen eingetroffen. Und daß auch Anita gar nicht schreibt.«

Diesmal war es die Großmama, die beruhigte, trotzdem sie selber sich schon Gedanken machte. »Sie sind jetzt sicher schon wieder draußen auf der Fazenda, Seelchen. Die Übersiedlung in ihr Sommerhaus nimmt sie gewiß in Anspruch.«

»Ach, dabei haben unsere Damen nichts zu tun. Das machen alles die farbigen Diener. Herrgott, wenn ich denke, wie abhängig von andern man mal gewesen ist. Ich schäme mich noch in der Erinnerung. Anita hat genug Zeit zum Schreiben, wenn sie nur will.«

»Wer weiß auch,« – die Großmama machte ein merkwürdig verschmitztes Gesicht dabei – »vielleicht halten sie andere Pflichten davon ab.«

»Andere Pflichten – nun ja, ihr Violinspiel, der Sport und ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, aber – – –«

»Nein, Kind, verstehst du mich denn nicht? Mal muß die Sache doch da drüben nun endlich zum Klappen kommen. Aber ein Jahr ist der Horst nun schon in Sao Paulo. Wie Mutter schreibt, hat er sich gut in den Kaffee-Export eingearbeitet. Dein Vater ist außerordentlich zufrieden mit dem strebsamen – – –«

»Freilich, deutscher Fleiß und deutsche Pflichttreue, der Artikel ist selbst in Amerika begehrt, made in Germany«, knurrte der Geheimrat dazwischen. Er konnte es nicht verwinden, daß sein Neffe Horst Braun dem Vaterlande untreu geworden war.

»Daß er der Anita gut war, das sah ja ein Blinder ohne Laterne«, fuhr die Großmama schnell fort, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. »Beinahe jeden zweiten Sonntag kam er damals aus Hamburg nach Berlin herüber, als Anita hier Violine studierte. Und es sind doch immer über drei Stunden Fahrt von Hamburg hierher. Ich glaubte, sie wären damals schon miteinander einig. Und als er dann wirklich hinüber ging, da war's doch nur noch eine Frage der Zeit. Ich weiß nicht, worauf sie noch warten. Anita ist zwanzig Jahre alt. Drüben bei euch heiraten die Mädchen im allgemeinen früher. Vielleicht gibt's zu Weihnachten eine Verlobung.« Die Großmama war so lebhaft geworden, daß sie es gar nicht beachtete, daß Marietta sehr still, sehr bleich ihren Worten gefolgt war.

»Wenn Anita ihn nur ebenfalls lieb hat«, sagte sie leise, als spräche sie zu sich selbst.

»Na, erlaube mal, mein Herz, solch einem Prachtmenschen, solchem ernsten, gewissenhaften Menschen mit einem wahren Kindergemüt, dem muß man doch gut sein«, ereiferte sich die Großmama.

»Viel zu schade ist er halt fürs Annele«, brummte der Geheimrat wieder dazwischen.

»Ich weiß nicht, ob Anita seinen Wert voll erfaßt hat. Es schmeichelt ihr wohl, daß er nur Augen für sie hat. Aber die Janqueiros und die Orlandos spielen in ihren Briefen mindestens die gleiche Rolle. Ja, vielleicht noch eine wichtigere, weil sie tüchtigere Sportsleute sind. Ob sie seine Neigung wirklich ernsthaft erwidert ...«

»Da sieht man halt wieder die Weibsleut. Schwätzen und schwätzen um des Kaisers Bart. Das werden die zwei schon ohne euch miteinander ausmachen. Mir ist's halt jetzt wichtiger, die neuesten Pressenachrichten zu hören.« Der Geheimrat griff wieder zu den Radiohörern. »Natürlich zu spät, bereits vorüber. Jetzt kommt die Zeitansage, stellt eure Uhren, Kinderle. Zehn Uhr einundzwanzig, vier, fünf, sechs Sekunden. Gute Nacht – vergessen Sie nicht, Ihre Antenne zu erden. Ist bereits geschehen. Und nun ist halt Schlafenszeit.« Die Aufforderung der Berliner Funkstunde an ihre Rundfunkteilnehmer, die Antenne zu erden, bedeutete gleichzeitig für Geheimrats das Signal zum Schlafengehen. Den »Zapfenstreich« nannte Frau Annemarie es humoristisch.

Bald schloß das Haus seine hellen Fensteraugen. Auch drunten im Erdgeschoß, in dem die Großeltern ihre Schlafzimmer hatten, schlossen sich alsbald die alten Augen. Zwar pflegte der Großpapa zu behaupten, gar nicht einschlafen zu können, die halbe Nacht munter zu liegen. Die Großmama dagegen beklagte sich, daß sie vor seinem Schnarchkonzert keine Ruhe finden könne. Meistens aber schliefen sie beide recht gut.

Droben pladderte der Regen auf den Balkon. Wie ausgeschüttete Erbsen sprangen die Tropfen gegen die Glastür. Es hörte sich eigentlich recht behaglich an, wenn man im Bette lag. Es schlief sich gut dabei. Wieso fand Marietta nur heute keinen Schlummer? Ihre Gedanken wanderten ruhelos. Jetzt irrten sie um den elenden Keller, in dem der kleine Otto sein trauriges Dasein lebte. Und nun waren sie auch schon jenseits des Äquators, auf der andern Halbkugel der Erde. Wie hatte die Großmama Vetter Horst charakterisiert? Ein ernster Mensch mit einem Kindergemüt – ja, das war er. Sie konnte mit dem zukünftigen Schwager zufrieden sein. Warum zögerte er bloß, sich mit der Schwester zu verloben? Das Klima und das Leben in den Tropen hatte ihm im Anfang wenig behagt. Aber aus den letzten Briefen ging hervor, daß er sich jetzt besser dort eingelebt hatte. Sicher würde er drüben festen Fuß fassen. Der Vater hatte mit ihm eine tüchtige Kraft für sein weitverzweigtes Kaffee-Exporthaus gewonnen. Und Anita würde glücklich mit ihm werden. Aber würde sie auch glücklich machen? Bei aller Liebe zu der Zwillingsschwester, Marietta war nicht blind gegen deren Fehler. Anita war liebenswürdig und gutherzig, aber oberflächlich und gefallsüchtig, sie ging in Sport und Luxus auf. Nur die Musik vertiefte ihr Wesen. War sie imstande, Horst für immer die Heimat zu ersetzen? So lag Marietta, sann, grübelte und lauschte dem Rauschen des Regens. Bis das Fluten da draußen leiser und sanfter wurde, bis die Flut ihrer Gedanken allmählich abebbte und auch ihre Augen sich schlossen.


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