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Die erste Sinneswahrnehmung, die Marietta, aus dem Meer der Betäubung auftauchend, wieder machte, war die Stimme der Großmama: »Seelchen, was ist denn nur geschehen? Willst du denn die Augen gar nicht aufmachen, mein Liebling?« Es schwang solche Herzensangst, solch eine sorgende Liebe in diesen wenigen Worten mit, daß Marietta mit aller Gewalt versuchte, die sie mit eisernen Banden umklammernde Willenlosigkeit abzuschütteln. Aber es wollte nicht gelingen.
»Laß das Kind, Annemarie. Schau, es ist total erschöpft. Es braucht vor allem Ruhe. Ruhe und Wärme. Da kommen wir am Ende mit einem Schnupfenfieber davon. S'ist halt zuviel für das Tropenprinzeßle, das Herumlaufen im Schneegestöber. Überarbeitung und Überanstrengung, 's geht halt so lang', wie es eben geht.« Das war der Großvater.
Marietta wollte entgegnen, daß sie weder überarbeitet noch überanstrengt sei. Aber die Sprache gehorchte ihr noch nicht.
»Der Puls ist nit schlecht«, hörte sie den Großvater wieder sagen. » Wollen dem Mädle halt mal einen Löffel Kognak einflößen.« Dann fühlte sie etwas kühl Metallisches an ihren Lippen, darauf etwas Brennendes, Feuriges auf der Zunge, sie schluckte – und plötzlich gingen die Augen wieder auf. Die schweren Lider hoben sich. Nur für eine Sekunde. Sie sah der Großmama liebes Gesicht dicht über sich geneigt, mit einem Marietta fremden Ausdruck. So etwas Schmerzliches, Gespanntes – wann hatte sie diesen Ausdruck nur schon mal gesehen? Sie vermochte sich nicht daran zu erinnern, daß es vor Jahren gewesen, damals, als der Großvater schwer erkrankt war. Ihr Bewußtsein war schon wieder von der Flut des Unbewußten überspült worden. Ihre Glieder lösten sich in wohligem Erschöpfungsschlaf.
Als Marietta daraus erwachte, schaute ein neuer Tag zum Fenster herein. Sie hatte fünfzehn Stunden hintereinander fest geschlafen. An ihrem Bette saß die Großmama, genau wie gestern, mit bangen Augen den Schlaf ihres Lieblings behütend. So hatte sie die ganze Nacht hindurch neben dem Bette gesessen und war nicht zu bewegen gewesen, sich selbst zur Ruhe zu begeben. Weder ihres Mannes Zureden, noch Frau Trudchens gekränktes »Nu, wenn die Fräulein Marietta schlafen tut, is es doch janz jleich für sie, ob ich oder Jroßmamachen bei ihr wachen tu'« – nein, nichts konnte sie dazu bewegen, ihren Wachtposten neben dem Lager ihres Lieblings aufzugeben. Sie wagte nicht die Stricknadeln in Bewegung zu setzen, sich kaum selbst zu bewegen, um die Schlafende nicht zu stören. Ihr Blick ging zum Fenster hinaus, da hatte es endlich aufgehört zu schneien. Weiße, feierliche Stille draußen wie drinnen.
Sie betrachtete das feine Mädchenantlitz, das der Schlaf ganz zart wie ein Rosenblatt gerötet hatte. Das hellbraune Goldhaar umwogte es wie Sonnenflut. Die langen, schwarzen Wimpern lagen seidenweich auf den Wangen. Der Mund war leicht geöffnet und ließ die schimmernden Zahnperlen sehen. Niemals war der Großmutter die liebreizende Schönheit der jungen Enkeltochter so zum Bewußtsein gekommen. Mariettas warmherziges Wesen pflegte sonst einen stärkeren Reiz auszuüben als ihr Äußeres.
»Seelchen ...«, flüsterte Frau Annemarie vor sich hin. All die Liebe, all das Glück, das ihr durch die Enkelin in ihr Alter hineingetragen worden, strömte darin aus. Sie löste den Blick von dem holden Bilde der Schläferin, denn Marietta schien unruhig zu werden. Die fein geschwungenen Wimpern zogen sich zusammen, über der Nasenwurzel erschien eine kleine Falte. Dann ein Seufzer – was hatte das Kind? Träumte es, oder war da noch etwas anderes als Überanstrengung, was die Veranlassung zu dieser Bewußtlosigkeit gegeben? Hatte Marietta irgendwelche Erregung gehabt, der ihr zarter Organismus nicht standgehalten? Die Großmama saß, sann und grübelte. Aus dem Tropenlande war kein Brief in letzter Zeit gekommen, der irgendwelche Aufregung im Gefolge haben konnte. Das war immerhin eine Beruhigung. Wie hatte damals Anitas Verlobung in Mariettas Seelenleben eingegriffen. Das Kind war eben ganz besonders zart besaitet. Vielleicht irgendein trauriger Fall in ihrer sozialen Tätigkeit. Fremdes Elend empfand Marietta ja wie eigenes und litt darunter. Ja, so würde es sicher gewesen sein.
Die Tür knarrte. Der alte Geheimrat trat, zum Fortgehen gerüstet, ein. Bevor er in die Klinik ging, mußte er doch beim Mariele nachschauen. Trotzdem er behutsam auf den Zehen zu gehen versuchte, was dem schon etwas steifen, alten Herrn schwer fiel und auch nicht zur Zufriedenheit seiner Frau ausfiel, trotzdem Frau Annemarie mit den Augen und mit der Hand abwinkte, trat er an Mariettas Lager und griff nach ihrem Puls.
»Ganz normal«, flüsterte er beruhigend auf Frau Annemaries stummbange Frage. »Aber du, Fraule, schaust halt drein, wie ein übernächtigter Studio. Leg' dich aufs Ohr, meine Alte. Hole den versäumten Nachtschlaf nach und schnarch' mit dem Mädl' halt ein Duett.«
Trotzdem der Geheimrat seine Stimme auf pianissimo gedämpft hatte, schlug Marietta die Lider auf. Die großen, schwarzen Augensterne schienen höchlichst verwundert, die Großeltern an ihrem Bette zu sehen.
»Jetzt hast du das Kind aufgeweckt, Rudi!« Großmama war ungehalten.
»Nun – nun, wenn's Mariele fünfzehn Stunden hintereinander geschlafen hat, genügt das, sollt' ich meinen. Sonst müßt' man halt annehmen, daß sie von der tropischen Schlafkrankheit befallen sei«, scherzte der Großpapa, ebenso glücklich wie seine Frau, daß ihr Liebling sie mit klaren Augen anblickte.
»Ja, was ist denn – warum seid ihr denn hier an meinem Bett. Ist was passiert?« Marietta konnte sich im Augenblick nicht gleich wieder zurechtfinden.
»Halt nix weiter, als daß uns gestern abend eine ohnmächtige junge Dame ins Haus geschneit ist. Solche Dummheiten machst nimmer wieder, verstehst, Mädle!«
Ein Schleier zerriß, der noch Mariettas Erinnerungsvermögen umwallte. Sie sah sich wieder im Schneesturm zum Autoplatz hinüberwanken und dann – ja, was war dann gewesen? In plötzlicher Erkenntnis streckte sie den Großeltern die Hände entgegen. »O ihr Ärmsten, wie müßt ihr erschrocken gewesen sein. Wie rücksichtslos und egoistisch von mir! Ganz blaß schaut die Großmama noch drein.« Sie streichelte die liebe Hand.
»Wenn man die Besinnung verliert, pflegt man auch nicht mehr an andere zu denken, Seelchen. Das ist selbst deiner liebevollen Rücksichtnahme unmöglich. Wie ist dir denn jetzt zumute, mein Liebling?«
»Hungrig«, lautete die befriedigende Antwort.
»Bravo, Mariele, so ist's g'scheit! Jetzt frühstückst du halt mit dem Großmutterle, und dann bleibst brav liegen, ruhst dich und langweilst dich. Das ist die beste Medizin für rebellierende Nerven«, verordnete der alte Arzt, sich zum Gehen wendend.
»Ausgeschlossen, Großpapa – ganz ausgeschlossen! Ich muß so schnell wie möglich in die Frauenschule. Wir haben heute besonders wichtige Stunden. Sobald man eine versäumt, verliert man den Zusammenhang. Und nachmittags muß ich wieder zum Recherchendienst – – –«
»Na, Weible, was sagst nun zu solch einem Mädle? Hat der liebe Herrgott ihnen nun zu wenig Verstand mitgegeben oder nit? Und das sind schon die gescheiten, die allen möglichen Firlefanz in ihren Kopf hineintrichtern, sich damit die Nerven ruinieren und dann noch immer keine Vernunft annehmen. Also kurz und bündig, daraus wird nimmer was, Mariele. Heut' heißt's halt Order parieren. Liegen bleibst – Punktum! Grüß Gott miteinander!« Polternd verließ der Geheimrat das Zimmer.
Marietta machte ordentlich erschreckte Augen. Aber die Großmama beruhigte sie. »Du kennst ihn doch, unseren Großpapa. Er meint's nicht halb so schlimm. Aber gehorchen mußt du heut' schon, Jetta. Solch Zusammenklappen darf nicht wieder vorkommen. Ich bestelle jetzt bei Frau Trudchen das Frühstück, und du machst dich inzwischen frisch und legst dich nachher wieder brav hin.« Damit war die Großmama auch schon wieder hinaus.
Frau Trudchen – wie ein Stich ging es Marietta durch das sich wieder allmählich zurücktastende Bewußtsein. Da war's, das Schwere, Bedrückende, vor dem sie durch die Straßen davongejagt, und dem sie doch nicht entrinnen konnte, das sie hinunter gezogen hatte in das Dunkel.
Als die Großmama zurückkehrte, lag Marietta noch immer, mit großen, gequälten Augen aus das Rosenmuster der Tapete starrend.
»Nanu – noch nicht gewaschen, du Faulpelz?« Aber trotz ihres Scherzens gingen der Großmama leuchtende Augen in stummer Frage zu dem jetzt wieder blassen Mädchenantlitz. »Eile dich, Jetta. Frau Trudchen bringt gleich das Frühstück.«
Als Frau Trudchen dann in ihrer behäbigen Gemütlichkeit erschien und sich teilnehmend erkundigte, ob Fräulein Jetta auch »nu wieder janz bei sich wäre«, ja, da erschien Marietta der Großmama auch nicht wie sonst. Lange nicht so freundlich, wie sie immer zu sein pflegte. Man merkte ihr an, daß ihr Frau Trudchens Anwesenheit störend war. Die brave Frau empfand das selbst, und mit einem Takt, den gerade einfache Leute öfters an den Tag legen, dämmte sie ihren sonstigen Redeschwall und zog sich alsbald zurück. »Jotte doch, wenn einer so'n Schwachmatikus ist und von jedem Windstoß jleich umjepustet wird, denn is einem jewiß nich so zumute«, sagte sie sich.
Oben in dem gemütlichen Zimmer verwunderte sich die Großmama, daß Mariettas großer Hunger schon so rasch gestillt war. Sie mochte das Butterbrötchen kaum aufessen. »Vielleicht rutscht ein Zwiebäckchen besser?« versuchte sie zuzureden. Aber Marietta schüttelte den Kopf. Ihre Eßlust war bei Frau Trudchens Anblick gänzlich verflogen. Ein Alp hatte sich ihr wieder auf die Brust gewälzt. Sie kam sich vor wie ein Dieb, welcher der gutherzigen Frau ihr liebstes Kleinod rauben wollte.
Viel besser wäre es für sie gewesen, sie wäre in die Frauenschule gegangen. Der Unterricht verlangte volle Aufmerksamkeit, nahm alle Gedanken gefangen. Die Arbeit hätte ihr am leichtesten über das sie Beschwerende hinweggeholfen. Aber der Großpapa hatte recht: Sie brauchte Ruhe. Nur die paar Schritte bis zum Waschtisch hatten es ihr gezeigt. Die Beine waren ihr wie gebrochen, und sie war froh, als sie wieder im Bett war.
Inzwischen hatte die Großmama es »gemütlich« gemacht. Das verstand keine andere so wie sie. Auf den Tisch hatte sie ihr schönstes, mattrosa Alpenveilchen gestellt, ihren Liebling unter all ihren Blumen. Sie nannte es Marietta, weil es dieselben zarten Farben zeigte wie die Enkelin.
Ganz leiser, süßer Blumenhauch ihrer Namensschwester grüßte Marietta. Dann saß die Großmama im Peddigrohrsessel neben ihr mit ihrer Arbeit. Und wie Marietta stumm das noch rosige, runzelfreie Gesicht mit den lieben Zügen und den jungen, blauen Augen unter dem schneeweißen Haar betrachtete und dann den Blick hinaussandte in die Schneelandschaft, da war es ihr, als ob die Großmama der Inbegriff aller deutschen Gemütlichkeit wäre. Als ob in ihrer Nähe nichts Schweres, Bedrückendes standhalten könnte.
Großmamas Stricknadeln klapperten, und sie erzählte. Von ihrem Elternhaus, wo sie als kleines, blondlockiges Nesthäkchen der Verzug der ganzen Straße gewesen. Von den Brüdern, mit denen es so manchen Strauß gesetzt. Denn ob Marietta es glauben wollte oder nicht, ein halber Junge war ihre alte Großmama damals gewesen. Ihr ältester Bruder Hans – er ruhe in Frieden! – habe manch liebes Mal Frieden stiften müssen zwischen den jüngeren Geschwistern. Denn der Klaus war ein Raufbold, und sie selbst – na, allzu brav und mädchenhaft war sie ganz gewiß nicht gewesen. Marietta erinnerte sich doch noch auf den Onkel Klaus auf Lüttgenheide? Wenn es auch schon drei Jahre her war, daß man damals an der Waterkant gewesen. Ei, freilich kannte Marietta den alten Großonkel noch mit dem wettergeröteten Gesicht, dem weißen Backenbart und seinen lustigen Späßen. Sein jüngster Sohn Horst erinnerte sehr an den Vater, aber er war ernster, obgleich er auch ganz gern mal einen Scherz machte.
Und während die Großmama weiter erzählte und nun schon bei der nächsten Generation, bei ihren drei Küken, angelangt war, und von jedem etwas Charakteristisches, irgend etwas Drolliges aus der Kinderzeit zu berichten wußte, war Marietta weit fort. Sie löste erst ihre Gedanken von der Ferne, als die Großmama sich bei Mariettas Mutter, ihrem Lieblingsthema, festgeankert hatte und der Tochter von der Verlobung ihrer Eltern erzählte. Wie schwer es gewesen war, den Großpapa herumzukriegen. Und wie es ihr so manches liebe Mal leid gewesen, wenn die Sehnsucht nach ihrer Ursel sie gar zu sehr gepackt. Aber jetzt kamen solche Stunden immer seltener. Nicht etwa, daß sie sich an die Trennung gewöhnt hätte, wie der Großpapa meint. O nein, das kann eine Mutter nicht. Aber sie hatte ja jetzt Ersatz, den allerbesten – ihre Jetta. Und wenn sie nur erst wieder ein bißchen frischer aussehen möchte – halt, jetzt mußte Marietta unbedingt ein Ei mit Wein abgequirlt nehmen. Das würde sie erquicken. Und damit war auch die Großmama schon trotz des etwas steifen Knies wie die Jüngste aus der Stube und ließ Marietta in einer Atmosphäre von alten Erinnerungen und der damit verwebten Behaglichkeit zurück.
Erst als Lottchen aus der Schule kam und noch mit der Mappe auf dem Rücken an Mariettas Tür klopfte, um ihr einen Krankenbesuch zu machen und um stolz von einem très-bien unter dem letzten Exerzitium zu berichten, zerriß das Netz von Gemütlichkeit, das Marietta eingesponnen. Da war sie wieder, die krasse Wirklichkeit mit ihrer zur Entscheidung drängenden Forderung. Sie blickte ihr aus Lottchens Blauaugen unter den breiten Augenbrauen, die sie auch gestern zu ihrem Schrecken an der alten Frau in dem bescheidenen Stübchen entdeckt hatte, entgegen. Jedes harmlose Wort aus dem Kindermunde wurde für Marietta zu einer Pein. Und als Lotte sich gar noch anbot, nach Tisch bei Marietta zu bleiben, damit die Tante Geheimrat ihre Mittagsruhe halten könnte, ja, da war Marietta zum erstenmal in ihrem Leben egoistisch.
Nein – nein – sie konnte Lottes Anwesenheit nicht ertragen, Lottchen war ihr zu lebhaft, machte ihr Kopfschmerzen. Sie blieb viel lieber allein. Die Großmama konnte sich ruhig hinlegen.
Aber davon wollte natürlich Frau Annemarie nichts wissen. Trotzdem der Großpapa über Verweichlichung und sentimentale Anwandlungen brummte, sie machte ihr Nickerchen ebenso gut oben im Korbsessel bei ihrem Liebling.
Aber es wurde nicht viel aus dem Nachmittagsschläfchen. Marietta war unruhig. Sie drehte den Kopf, warf sich von einer Seite auf die andere und vermochte doch den blauen Kinderaugen, deren Blick sie verfolgte, nicht zu entrinnen. Wie traurig enttäuscht Lotte sie angeschaut hatte, daß Marietta sie nicht um sich dulden mochte. Und noch etwas hatte in dem Kinderblick gelegen, etwas Anklagendes. Ach Unsinn, das bildete sie sich nur ein. Schnell geschlafen, auf die andere Seite gelegt – so, nun würde sie Ruhe haben vor den quälenden Kinderaugen. Aber nein, da waren sie schon wieder. Diesmal gehörten sie Lenchen, und nun blickten sie ihr gar aus dem verrunzelten Gesicht der alten Frau Liebig entgegen. Ein schwerer Seufzer löste den Druck, der das junge Mädchen beschwerte.
»Seelchen,« – da war die Großmama schon wieder völlig ermuntert – »ist dir was, mein Herz? Tut es dir irgendwo weh?« Marietta schüttelte stumm den Kopf. Aber wenn man bald siebzig Jahre lang mit den Menschen Freud' und Leid geteilt hat, dann weiß man sich auch auf seelische Schmerzen einzustellen. Frau Annemarie gab sich nicht zufrieden. Trotz der Nachtwache kam ihr kein Schlaf. Sie ging in Gedanken den Weg zurück, den Marietta gestern gewandert und hakte bei ihrem Samaritergang ein. Dort mußte etwas geschehen sein, was die Enkelin in ihrem Innersten erschüttert hatte. Und da sie merkte, daß auch Marietta keinen Schlaf fand, schoß sie gerade auf ihr Ziel los.
»Du hast mir gar nichts von Lenchen erzählt, Jetta. Hat sie sich denn gestern über deinen Besuch gefreut?« forschte sie.
»O ja, sehr.« Marietta drehte sich schnell der Tapete mit den Rosenknospen zu, damit die Großmama nicht sehen sollte, daß ihr eine Blutwelle über das Gesicht jagte.
Hm – da schien sie ja ins Schwarze getroffen zu haben. Frau Annemarie verfolgte den Weg weiter. »Und wie sind Lenchens Angehörige, Kind? Waren sie nett zu dir?«
»Das ist doch selbstverständlich.« Mariettas Antwort kam kurz und abweisend. Gar nicht so lieb wie sonst. Sie sprach immer noch gegen die Tapete.
»Du bist so merkwürdig, Jetta. Hast du dort irgendeine Kränkung erfahren?« Wie liebevoll das klang. Marietta vermochte nicht zu antworten. Es war ihr, als ob ihr jemand die Kehle zusammenpreßte. Da fuhr die erfahrene Menschenkennerin fort: »Ich will mich ja nicht in dein Vertrauen drängen, Seelchen. Aber – solche alte Großmama weiß manchmal besser Rat, als ein junges Ding, das noch nicht viel vom Leben gesehen hat.«
Wieder eine lange Pause. Ein schwerer Kampf für Marietta. Wenn sie jetzt sprach, dann war's entschieden. Dann gehörte das Geheimnis nicht mehr ihr allein. Dann hatte sie es der Luft anvertraut, den vier Wänden, dem Ohr und dem Herzen der Großmama. Aber hatte die Großmama nicht schon so oft geholfen? Vielleicht konnte sie ihrer aufgewühlten Seele auch diesmal wieder Ruhe geben?
»Mir ist eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen unserem Lottchen und dem Lenchen aufgefallen.« Mariettas Mund sprach ganz mechanisch, als würde er nicht von ihrem Willen geleitet.
»Nun ja, es sind eben zwei Blondköpfe.« Wollte Marietta von dem ihr unbequemen Gesprächsthema nur ablenken?
»Auch die alte Großmutter, die Frau Liebig, hat dieselben eigenartig gezeichneten Augenbrauen.« Da war's dem Mädchenmunde entschlüpft.
Frau Annemaries seelischer Blick verschärfte sich. Trotzdem tat sie unbefangen. »Warum soll die Enkelin nicht dieselben Augenbrauen haben wie die Großmutter? Du siehst mir auch ähnlich. Seelchen – – –.«
»Ja, aber Lottchen, unser Lottchen, Großmama!« Und als die alte Dame immer noch nicht zu verstehen schien, fügte sie erregt hinzu: »Die alte Frau Liebig hat früher in Schlesien gelebt. Und – ihre Tochter Lotte ist nach Südamerika – nach Brasilien ausgewandert. Sie hatte ein Kind, ein Töchterchen, das wie die Mutter hieß. Seit Jahren ist sie verschollen. Begreifst du denn nicht, Großmama?« Die Worte überstürzten sich. Da war kein Halten mehr. Wie ein Sturzbach, der alle Bedenken davonschwemmte, flutete es dahin.
Still saß die Großmama. Sie sprach nicht. Alle Aufregungen, denen Marietta gestern ausgesetzt gewesen, empfand sie ihr nach. Dann sagte sie mit möglichst ruhiger Stimme: »Also wieder ein Fingerzeig. Wieder eine Handhabe. Hoffentlich verläuft die Spur nicht im Sande wie schon öfters.«
»Nein, Großmama. Diesmal ist es gewiß. Auch der Familienname stimmt. Lottchen ist die Enkelin der alten Frau Liebig.« Das klang tonlos geflüstert. Trotzdem hatte Marietta das Gefühl, als ob die Wände ihr das Geheimnis zurückschrien.
»Nun, Kind, wenn du deiner Sache so sicher bist, dann weiß ich wirklich nicht, warum dich diese doch immerhin erfreuliche Tatsache so in den Fugen erschüttern konnte. Hast du der alten Frau Liebig Mitteilung von deiner Entdeckung gemacht?«
»Nein, Großmuttchen. Es ahnt weiter noch keine Menschenseele, als du und ich. Und ich weiß auch nicht, ob es je noch ein anderer erfahren soll. Das ist es ja, was mich so elend macht, das Hin und Her, dieses Für und Gegen. Tue ich Lottchen und ihren Angehörigen etwas Gutes damit, wenn ich den Schleier über die Herkunft des Kindes lüfte? Wälze ich nicht neue Sorgen auf die ohnehin schon mit der Not des Lebens Kämpfenden? Und Lotte selbst, werden die einfachen, ja, ärmlichen Familienverhältnisse sie nicht zurückschrecken? Und dann Frau Trudchen und Vater Kunze, denen Lottchen zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden ist! Je mehr ich überlege, Großmama, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, daß ich schweigen muß, daß – ich auch dir gegenüber hätte schweigen sollen.«
»Da bist du auf einem Holzwege, Kind. Du bist verpflichtet zu sprechen. Du hast kein Recht, der Vorsehung einen Damm aufzutürmen, bis hierher und nicht weiter. Was sich zum Licht durchringt, kommt doch an den Tag. Du bist nur das Werkzeug in der Hand des Schicksals. Du mußt der alten Mutter die letzten Grüße ihrer Tochter überbringen, du mußt deren Vermächtnis in ihre Hände zurücklegen. Das ist deine Pflicht. Alles andere können wir nur dem da droben überlassen.« Beruhigend strich die alte, warme Hand über die junge, vor Erregung eiskalte der Enkelin. Und da war es Marietta, als ob die Hand der Großmama das selbstquälerische Wogen in ihr glättete, als ob eine wunderbare Ruhe von dieser liebkosenden Hand ausginge.
Aber so ruhig, wie es den Anschein hatte, sah es in Frau Annemarie doch nicht aus. Jahre können dämpfen, mildern, aber den Kernpunkt des Wesens vermögen sie nicht zu verändern. Und der vibrierte mit der jungen Enkelin mit, ob sich Frau Annemarie auch noch solche Mühe gab, würdige Beschaulichkeit an den Tag zu legen.
Das Hauptaugenmerk war jetzt erst mal darauf zu richten, daß das Kind, die Jetta, innerlich zur Ruhe kam. Das zarte Nervensystem des jungen Mädchens hatte dem Wirbelsturm, der ihr Inneres ergriffen, nicht standhalten können. Weder Frau Trudchen noch Lottchen durften vorläufig Mariettas Zimmer betreten. Jede neue Aufregung mußte vermieden werden. Aber diese Vorsicht schien gar nicht vonnöten. Sobald Marietta die sie bedrückende Last auf die Seele der Großmama abgeladen hatte, fühlte sie nicht mehr die schwere Verantwortung, das Hin- und Hergerissenwerden zwischen Wollen und Müssen. Sie hatte die Angelegenheit in Großmamas Hände gelegt, und sie wußte, daß diese gütigen Hände die verworrenen Fäden aufs beste entwirren würden. Das gab ihr eine erlösende Beruhigung.
Auf Rat ihres besten Freundes, ihres Mannes, mit dem sie sogleich Kriegsrat gehalten, berührte Frau Annemarie die ganze, ihren kleinen Kreis umwälzende Angelegenheit vorläufig überhaupt nicht. Das alles hatte Zeit, bis Marietta wieder gesund war.
Aber dann, als die Enkelin einige Tage später zum erstenmal wieder erfrischt ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, glaubte Frau Annemarie das sie Tag und Nacht beschäftigende Geheimnis den Beteiligten nicht länger vorenthalten zu dürfen. Zuerst nahm sie sich Frau Trudchen vor, während Lotte in der Schule weilte. Beim Fensterputzen war es.
»Sagen Sie, Frau Trudchen, unser Lottchen hat Ihnen doch eigentlich viel Freude gemacht«, begann die alte Dame etwas beklommen.
»Klar«, sagte Frau Trudchen und rieb auf ihren Scheiben herum.
»Und Sie wollen doch gewiß ihr Allerbestes.« Frau Annemarie atmete hörbar. Es war wirklich nicht so einfach.
»Na, wenn Frau Jeheimrat das noch nicht wissen tun, denn – – – –« Der Nachsatz wurde, als nicht respektvoll genug, hinuntergeschluckt.
»Dann müßten Sie sich auch in Lottchens Interesse freuen, Frau Trudchen, wenn sich ihre Angehörigen am Ende doch noch melden sollten.« Das war ein kühner Vorstoß.
Frau Trudchen ließ den Lederlappen sinken und stand auf ihrer Leiter starr wie eine Bildsäule. »Is ja Mumpitz – is ja allens man Mumpitz!« beruhigte sie sich dann selber. »Haben se sich bis jetzt nich jemeldet, dann werden se woll auch jar nich mehr am Leben sein. Kunze sagt das auch.« Das Fensterleder fuhr quietschend über das Glas. Eine gewisse unbehagliche Erregung hatte doch von Frau Trudchen Besitz ergriffen.
»Es könnte doch irgendein Zufall die Verwandten ausfindig machen. Aber wenn Sie Lottchen lieb haben, müssen Sie sich auch darüber freuen, Frau Trudchen«, verlangte Frau Annemarie.
»Das hat ja Zeit, wenn's mal soweit kommen sollte.« Frau Trudchen rieb so heftig auf ihrer Scheibe herum, als könnte sie damit auch jedes ihre Ruhe trübende Fleckchen tilgen.
»Es ist schon so weit gekommen, Frau Trudchen.« Für alle Fälle hielt die alte Dame die zusammenfahrende Dienerin stützend fest. »Kommen Sie lieber von der Leiter herunter.«
»Ih, woher denn! Das hat ja schon oft so jeheißen und is nachher allens man dummes Zeug jewesen. Ich jlaube nu mal nich dran und basta!« Die Fensterscheibe kam in Gefahr, so energisch fuhr Frau Trudchen darüber.
»Frau Trudchen – diesmal ist es Ernst.« In der Seele weh tat der alten Dame die treue Dienerin, der sie Schmerz zufügen mußte. »Fräulein Marietta hat zufällig die Großmutter und Tante von unserem Lottchen entdeckt. Sie ist von der Aufregung krank geworden.«
»Da hätt' unser Fräulein Marietta auch etwas Jescheiteres tun können. Jewiß so'ne noblichte Leute, daß unser Lotteken uns nachher jar nich mehr wird kenne wollen und – – –« Die brave Frau konnte nicht weiter sprechen. Sie griff nach dem Lederlappen, um die hervorstürzenden Tränen zurückzuhalten.
Liebevoll half ihr Frau Geheimrat von dem hohen Postament herab und redete ihr dabei tröstend zu. »Nein, ganz einfache, bescheidene, aber brave Leute sind es, Frau Trudchen, die sich sehr quälen müssen, um durchzukommen. Die Kleine ist bei Fräulein Marietta im Kinderhort und – – –«
»Denn jeben wa unser Lotteken erst recht nich her. Wenn se da etwa noch Hungerpoten saugen muß, das arme Ding! Dazu hat Frau Jeheimrat se doch nich auf de hohe Schule jeschickt und Bildung lernen lassen. Nee – nee – und was mein Kunze is, der jibt sein Lotteken erst recht nich raus.«
»Nun, Frau Trudchen, am Ende läßt sich das einrichten, daß Lottchen ruhig bei Ihnen im Hause bleibt. Ich würde es für das Vernünftigste halten. Denn den Verwandten wird nichts daran liegen, noch für eins mehr sorgen zu müssen. Trotzdem dürfen wir dem Kinde seine einzigen Anverwandten nicht vorenthalten. Lottchen darf vorläufig noch nichts davon erfahren. Sie wird ihre Liebe zwischen Mutter und Vater Kunze und den neuen Angehörigen teilen.« So sprach Frau Annemarie gütig und klug.
Ihre Worte verfehlten nicht ihren Eindruck. Frau Trudchen stieg die Leiter hinauf und nahm die unterbrochene Arbeit wieder auf, als ob nichts geschehen sei. Sie sagte nur noch: »Jotte doch, wenn das so is, denn jönn' ich dem Lotteken ihre Jroßmutter und Tante.« Dann hörte man nur noch das Fensterleder quietschen.
Marietta hatte heute ihren freien Nachmittag. Man war übereingekommen, den folgenschweren Besuch bei Lottes Verwandten nicht länger aufzuschieben. Aber allein setzte Frau Annemarie Marietta nicht noch einmal den gewiß nicht ausbleibenden Aufregungen aus. »Nachher wirst du mir wieder bewußtlos ins Haus gebracht.« Nein, die Großmama ging selber mit. Das bedeutete für Marietta eine große Erleichterung.
Auch die nichtsahnende Lotte strahlte, daß sie das kleine Lenchen besuchen durfte. Spielsachen und Märchenbücher suchte sie für das kranke Kind zusammen. Lottchen war recht froh, daß Fräulein Marietta sie heute mitnahm. Denn Kunzes waren mittags so merkwürdig gewesen. Vater Kunze war ja meist wortkarg, aber mit seinem »Lotteken« hatte er doch immer seinen Spaß. Heute saß er mit einem so bärbeißigen Gesicht da, als ob er Wermut getrunken.
Und Frau Trudchen wiederum war, im Gegensatz, von einer bedrückenden, sentimentalen Zärtlichkeit. »Was, Lotteken, du behältst Mutter und Vater Kunze lieb?« fragte sie mit Tränen in den Augen. Worauf Lottchen ganz erschreckt gefragt hatte, ob denn einer von ihnen sterben müsse. »Na, so ähnlich, viel anders is es auch nich!« Mit dieser rätselhaften Antwort mußte sich Lotte begnügen.
Wieder erklomm Marietta die vier Treppen in dem ihr schon bekannten Hinterhause. Es war ihr, als ob sie Gewichte an den Füßen hätte. Da stieg die Großmama mit ihrem steifen Bein ja beinahe noch elastischer hinauf. Lotte schnüffelte neugierig überall an den Schildern herum.
»Ach Gott, das arme Lenchen, wie häßlich es hier in dem dunklen Hause wohnt«, meinte sie mitleidig, mit ihrem schönen Daheim bei Geheimrats im Rosenhaus vergleichend. Die Großmama und Marietta sahen sich vielsagend an.
»Lenchen hat hier ein liebes Mütterchen und eine Großmutter, die es lieb haben. Da sieht es gewiß gar nicht, daß das Haus häßlich ist«, erwiderte die Tante Geheimrat.
»Ich wünschte, ich könnte auch in einem häßlichen Hause wohnen!«
Wieder sahen sich die beiden Damen an. Alle Kindessehnsucht lag in Lottes Worten.
Diesmal brauchte Marietta nicht so lange nach dem Klingeln zu warten. Frau Neumann öffnete, wohl ein wenig erstaunt über den zahlreichen Besuch, aber trotzdem erfreut.
»Ach, liebes Fräulein, wenn Sie wüßten, wie unser Lenchen an Ihnen hängt. Es vergeht kein Tag, wo sie nicht von ihrer Tante Jetta spricht. Und nun bemüht sich die Frau Großmama auch noch die vielen Treppen herauf. Und das Schwesterchen kenne ich ja schon von Weihnachten her.« Sie reichte Lotte, die sie für Mariettas jüngere Schwester hielt, die Hand.
Auch drinnen wurde der Besuch freudestrahlend empfangen. Lenchen lag noch immer, sie streckte der Tante Jetta beide Arme entgegen. Die alte Frau Liebig erschöpfte sich in Entschuldigungen, daß es gerade so unordentlich aussähe, und war bemüht, das Weißzeug, an dem sie und ihre Tochter arbeiteten, zur Seite zu räumen.
»Ach, du mein, haben mer denn ieberhaupt Stiehle genug für die Herrschaften? So, die Frau Großmuttel setzt sich aufs Kanapee zu unserem Lenel. Und die Tante Jetta halt danäben. Und das Schwesterle – – –« Da verstummte die alte Frau plötzlich. Als ob sie eine Vision sähe, starrte sie auf das fremde Mädchen. Sie rieb sich die Augen, aber die Erscheinung blieb. Kamen alte, längst vergangene Zeiten wieder? Gerade so hatte sie ausgesehen, ihr Lottel, damals vor Jahren, als sie konfirmiert wurde.
»Ist Ihnen etwas, liebe Frau Liebig?« erkundigte sich Frau Geheimrat Hartenstein, welche die alte Frau mit schwer verhaltener Erregung betrachtete.
»Nu nee, halt nur eine Ähnlichkeit. Ihr kleines Enkeltöchterle da ist halt meinem Lottel, meiner Ältesten, wie aus dem Gesicht geschnitten. Entschuldigen Se nur, liebe Dame, aber manchmal übermannt einen die Sähnsucht nach seinem Kind in der Ferne.«
»Das will ich Ihnen glauben, liebe Frau Liebig, geht es mir doch gerade so. Ich habe auch eine Tochter nach Brasilien fortgegeben – – –«
»Aber sie läßt halt von sich heeren, es gäht ihr gutt? Ja, dann dirfen Se nicht klagen, liebe Dame, dann wollt' ich Gott danken und zufrieden sein. Wenn man nur wißt, wenn man nur wißt, ob se ieberhaupt noch am Läben ist.«
»Vielleicht kann Ihnen meine Enkelin darüber nähere Auskunft geben. Sie ist vor sechs Jahren von Sao Paulo nach Europa herübergekommen. Es wäre ja möglich, daß sie dort etwas von Ihrer Tochter gehört hätte.« Aufmunternd nickte Frau Annemarie der bis in die Lippen erblaßten Marietta zu. So schnell wie möglich wollte sie der alten, braven Frau Gewißheit geben.
Marietta, die sich bisher angelegentlich mit Lenchen beschäftigt hatte, um ihre Aufregung zu verbergen, krampfte die Hände ineinander. Sie mußte sich zusammennehmen.
»Ich habe auf einer Plantage eine Deutsche, eine Frau Müller aus Schlesien, kennengelernt.« Es klang tonlos. Sie kam nicht weiter, denn die alte Frau Liebig hatte ungestüm ihre Hände ergriffen.
»Erzählen Se ooch, nu, erzählen Se, ob es ihr gutt ging. Das war mein Lottel, das muß mein Lottel gewäsen sein.«
»Nu, laß auch das Fräulein erst auserzählen, Muttel«, beschwichtigte Frau Neumann die zitternde alte Frau, trotzdem auch sie erregt lauschte.
Aber ehe Marietta noch ihr laut pochendes Herz wieder so weit in der Gewalt hatte, um weitersprechen zu können, kam etwas Unvorhergesehenes. Ein Jubellaut klang aus der Ecke, wo der Vertiko mit den Familienbildern stand. Lottchen, die im Zimmer Umschau gehalten, hatte eins der Bilder heruntergerissen und an ihr Herz gepreßt. »Muttel, meine liebe Muttel! Wie kommt denn meine Muttel hierher?« Die Tränen stürzten dem Kinde aus den Augen.
Stille trat ein. Keiner sprach, wo die Natur gesprochen. Frau Annemarie streichelte, selbst Tränen in den Augen, beruhigend die alte, verarbeitete Frauenhand. »Meine Enkelin Marietta bringt Ihnen die letzten Grüße Ihrer dort verstorbenen Tochter, liebe Frau Liebig.«
Die alte Frau schlug die Hände vors Gesicht. »Ich hab's ja gewußt, es war ja nicht andersch meeglich, als sie gar nischte mehr von sich heeren ließ, mein Lottel, aber – – –« Der Schmerz der Mutter übermannte sie.
Da schob sich eine heiße Kinderhand zwischen ihre von Tränen überrieselte Finger. Es hatte nicht erst Mariettas liebevoller Aufklärung bedurft, Lottchen hatte begriffen. Sie fühlte, daß sie hier Blutsverwandte gefunden hatte.
»Bist du die Großmuttel aus dem Schlesierland, die ich von meiner Muttel grüßen soll?« fragte sie zutraulich.
Die Finger sanken herab. Aus tränenverschleierten Augen sah die alte Frau wieder ihre kleine Lotte von früher vor sich. Fest zog sie das Vermächtnis der teuren Verstorbenen an ihr Herz.
Inzwischen hatte Marietta Lottes Tante, Frau Neumann, die notwendigen Aufklärungen gegeben. Sie hatte ihr von dem letzten Schmerzenslager ihrer Schwester berichtet, wie ihre letzten Worte den Lieben in der fernen Heimat gegolten. Daß sie der Sterbenden das Wort gegeben, für ihr Kind zu sorgen und es zu seinen Verwandten zurückzuschicken. Wie man Jahr für Jahr ohne Erfolg gesucht und geforscht. Und wie nun ein Zufall das Geheimnis gelüftet habe.
»Kein Zufall, liebes Fräulein, Ihre Menschenliebe, mit der Sie sich unserer Lotte ebenso wie meines Lenchens angenommen haben, hat uns zusammengeführt. Wie sollen wir Ihnen für alles, was Sie an uns getan haben, danken.«
»Indem Sie Lotte in unserem Hause bei ihren Pflegeeltern, dem braven Kunzeschen Ehepaare, das Lottchen wie ein eigenes Kind liebt, lassen, Frau Neumann. Daß sie trotzdem gern zu Ihnen kommen wird, das sehen Sie ja – – –« Marietta wies auf Lotte, die abwechselnd der Großmutter runzelige Wange in stummem Glück streichelte und ihre kleine Kusine Lenchen liebkoste.
»Es wird wohl zum Besten des Kindes sein. Es soll nicht auch noch an unserer Not teilnehmen. Aber wir müssen Ihnen dankbar sein, liebes Fräulein, daß Sie die Lotte in einfachen Verhältnissen aufgezogen haben, daß sie sich nicht ihrer armen Verwandten schämt.«
»Ihre verstorbene Schwester hat mir dies für ihre Mutter in Deutschland übergeben«, sagte Marietta und wurde rot, in dem Bewußtsein, um des guten Zweckes willen nicht die Wahrheit zu sagen. Sie händigte Frau Neumann eine ansehnliche Summe, den letzten brasilianischen Monatsscheck, ein. Der bannte auf lange Zeit die Not aus diesem Stübchen.
Als man dann mit warmen Worten geschieden war, – jeden Sonntag sollte Lottchen künftig bei ihren Verwandten zubringen – fiel das Kind auf der dunklen Treppe Marietta um den Hals.
»Fräulein Marietta, nun habe ich auch eine liebe Großmuttel wie Sie!«
Und das häßliche, düstere Haus ward hell und licht.