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11. Kapitel. Ferienkinder.

Berlin wurde leer. Wer es nur einigermaßen ermöglichen konnte, nahm Reißaus vor der Julihitze und dem glühenden Staub, der Straßen und Plätze einspann. Ans Meer oder in die Berge, aufs Land, irgendwohin, wo grüne Wiesen und rauschende Wälder ihren würzigen Atem ausströmten. Die großen Schulferien hatten bereits begonnen. Autos, mit Koffern und Bettsäcken bepackt, ratterten durch die Straßen zu den Bahnhöfen.

Geheimrats hatten ihre alljährliche Badereise nach Kissingen noch nicht angetreten. Eigentlich hatten sie gar keine Erholung nötig. Konnte es irgendwo schöner sein als in ihrem Rosengarten, in ihrem Rosenhaus, wo sie jede Bequemlichkeit haben konnten? Täglich sagte der alte Geheimrat, wenn er sich seines Gartens freute: »Braucht man da zu reisen?« Aber Frau Annemarie wußte, wie gut ihm die Kissinger Kur alljährlich bekommen. Daß sie geradezu ein Jungbrunnen für ihn war. Sie selbst war auch geistig noch so beweglich, daß ihr eine Abwechslung aus dem täglichen Einerlei in dem schönen Kurort erwünscht war. Und nun erst für Marietta. Das Kind mußte unbedingt in andere Luft, am besten Hochgebirge oder Nordsee. Aber das ließ sich nicht alles vereinigen. An die See sollte die Großmama ihres Rheumas wegen nicht, ins Hochgebirge nicht der Großpapa wegen seines Herzens. Also Kissingen wie immer. Man wartete nur noch darauf, daß Marietta endlich Ferien machte.

Die soziale Frauenschule schloß heute ihren theoretischen Unterricht. Die praktische Arbeit der meisten Schülerinnen ging damit ebenfalls zu Ende, so daß der größte Teil von ihnen seinen Urlaub antreten konnte. Marietta Tavares war noch bis zum fünfzehnten Juli in der Erholungsstätte des Roten Kreuzes draußen im Grunewald verpflichtet. Dann winkte auch ihr die Erholung.

Fräulein Dr. Engelhart hatte ihre Schülerinnen mit den besten Wünschen für eine Körper und Herz erfrischende Ferienzeit entlassen.

»Fräulein Tavares, kann ich Sie noch einen Augenblick sprechen?« Marietta, schon im Begriff, aus der Tür zu gehen, machte sofort kehrt.

»Hören Sie, Fräulein Tavares, wir sind da in einer peinlichen Verlegenheit. Die Ferienkolonien hatten vom fünfzehnten Juli bis zum ersten September drei Jugendleiterinnen von uns angefordert. Die Arbeit ist verantwortlich, wir nehmen meist dazu Schülerinnen des zweiten Jahrganges. Nun bekommen wir gestern die Nachricht, daß Fräulein Matthes, die einen Ferienzug leiten sollte, sich plötzlich einer Blinddarmoperation hat unterziehen müssen. Natürlich ist kein Gedanke, daß sie am Fünfzehnten schon soweit ist. Ich habe sofort an Sie gedacht. Sie sind die einzige, liebes Fräulein Tavares, der ich von den Jüngeren jetzt schon diesen verantwortungsvollen Posten anvertrauen könnte. Sicher komme ich Ihnen damit zwischen Ihre Ferienpläne. Aber, wenn Sie es einrichten können, täten Sie uns einen Gefallen. Sie sind zuverlässig und besonnen, verstehen die Kinder richtig zu nehmen und sich trotz aller Liebe bei ihnen in Respekt zu setzen. So wurde mir auf allen Stellen, wo Sie praktisch gearbeitet haben, berichtet. Ich würde Ihnen die Wahl lassen, zu welchem Ferienzug ich Sie einschreiben soll. Der eine geht nach Schweden – das ist sicher sehr interessant – der zweite in den Thüringer Wald und der dritte irgendwohin an die Waterkant, pommersche Ostsee. Das Schlimme ist nur, daß Sie sich gleich entscheiden sollen, da wir sonst anderweit Ersatz schaffen müssen.«

»Ich bin bereits entschieden, Fräulein Doktor. Selbstverständlich übernehme ich einen Zug Ferienkinder. Ihr Vertrauen macht mich stolz. Ich hoffe, es mir zu verdienen. Ich überlasse es Ihnen, welchem Zug man mich zuerteilt«, sagte Marietta bescheiden. Ihr zartes Gesicht glühte vor Freude über die Auszeichnung, die ihr zuteil wurde.

»Dann rate ich Ihnen, übernehmen Sie das Kommando an der Ostsee. Schweden ist sicherlich mit Anstrengungen verknüpft, die Luft im Thüringerwald nicht kräftig genug für Sie. An der Ostsee haben Sie neben der Arbeit auch Erholung. Die brauchen Sie dringend. Warten Sie mal, ich schaue gleich mal nach, wo es hingehen soll.« Sie suchte in ihrem Büchlein. »Unbekannte Namen, wohl Privatgüter, auf welche die Kinder verteilt werden. Das eine heißt Grotgenheide und das andere – – –«

»Lüttgenheide?« Marietta rief es mit einer ihr sonst fremden Erregung.

»Ja, woher wissen Sie denn das? Sind Sie dort bekannt?« verwunderte sich die Vorsteherin.

»Freilich, der Gutsherr ist der Bruder meiner Großmutter – das trifft sich ja herrlich!«

»Dann verlange ich also kein zu großes Opfer von Ihnen. Ihre Ferienzeit legen wir später für den Monat September, so daß Sie die Oktoberferien gleich anschließen können. Da müssen Sie dann mal richtig ausruhen.«

»Oh, das ist gar nicht nötig. Ich fühle mich so wohl in meiner Arbeit.«

»Man darf den Bogen auch nicht überspannen, Fräulein Tavares. Also haben Sie Dank für Ihre Bereitwilligkeit und setzen Sie sich mit der Zentrale der Ferienkolonie in Verbindung. Dort erhalten Sie weitere Information. Gute Fahrt und angenehmen Aufenthalt an der Ostsee!« –

Geheimrats saßen unter ihrer Linde. Dort war es am kühlsten an heißen Tagen. Das dichte, weitverzweigte Geäst ließ keinen Sonnenstrahl hindurch. Über ihnen in grünem Blätterhaus schlugen die Finken.

»Noch acht Tage lang muß das arme Kind bei dieser glühenden Hitze in die heiße Stadt zur Kinderlesehalle. Die Arbeit in den Erholungsstätten im Grunewald ist jetzt auch kein Vergnügen. Hundert wilde Kinder dort im Zaum zu halten, das ist keine Kleinigkeit. Am Sechzehnten geht's los, mein Alter, nicht wahr? Sobald Marietta frei ist. Wie freue ich mich darauf, daß wir das Kind mal wieder ein paar Wochen für uns haben werden.«

»Nun schau einer das vergnügungssüchtige Weible an! Kann es irgendwo schöner sein als hier in unserem Rosengarten unter der Linde? Kissingen ist sicherlich viel heißer. Aber dem Mariele, dem Tropenkind, tut ja die Temperatur nix. Das fühlt sich erst wohl bei dieser Siedehitze. Also wenn die Frau sich etwas in den Kopf gesetzt hat, nützt dem Mann all sein Neinsagen nichts. Stimmt's nit, Frau Trudchen?« wandte er sich an die mit dem Kaffeebrett erscheinende Getreue.

Die schmunzelte. »Der Herr Jeheimrat wird schon recht haben. Was 'n vernünftiger Mann is, der hört eben auf seine Frau. Kunze, sag' ich immer, Kunze, du kannst dich ja bei deinem Jeheimrat mehr mit alljemeine und Doktorbildung bemengt haben, aber was'n jesunden Menschenverstand anbelangt, da nehm' ich's mit euch Männern auf.«

»Da hörst du's ja, Fraule, – also ihr seid mir schon eine Gesellschaft!« Der Geheimrat lachte herzlich. Frau Annemarie stimmte mit ein. Sie achteten nicht darauf, daß die Gartentür knarrte, daß die Finken über ihnen einen jubelnden Willkommen schmetterten.

Da stand Marietta auch schon an dem Tisch unter der Linde. »Ei, gerade zurecht zum Kaffeestündchen. Tag, Großmuttchen, guten Tag, Großpapa. Eine Neuigkeit – könnt ihr raten? Wo fahre ich am fünfzehnten Juli hin?« Sie war echauffiert.

»Nach Kissingen, wir haben's eben besprochen, der Großpapa und ich.«

»Falsch – ganz falsch geraten.« Marietta machte ein verschmitztes Gesicht.

»Ja, also was hat's denn, das Mariele? Wie schaut's denn aus?« Der Großpapa blickte durch seine blaue Brille erstaunt auf die Enkelin. Auch die Finken oben in der Linde reckten die Hälse und äugten erstaunt auf das sonst so ruhige Mädchen herab.

»Ihr könnt's nicht raten. Nach Lüttgenheide geht's oder auch nach Grotgenheide. Was sagt ihr nun?«

»Ausgeschlossen, Kind. Der Großpapa soll wieder die Kissinger Kur gebrauchen. Und mir selbst ist die See das letztemal nicht besonders bekommen. Sicher die Feuchtigkeit – – –«

»Aber Großmuttchen, wer spricht denn von euch? Ich – ich fahre nach Lüttgenheide. Ich bin zur Ferienkolonie als Ersatz für eine erkrankte Dame gewählt worden – es ist eine große Auszeichnung im ersten Jahr, – und denkt nur, der Ferienzug, den ich leiten soll, geht nach Lüttgenheide und Grotgenheide. Ist das nicht merkwürdig?« Marietta sprach so lebhaft, daß sie gar nicht beachtete, wie still die Großmama war.

»Das ist nimmer eine Erholung für dich, Mariele, wenn du der Leithammel von einer ganzen Herde sein sollst, du brauchst auch mal Ruh für dich. Gelt, Fraule?«

»Ja, aber Großmuttchen, du sagst ja gar nichts?« verwunderte sich Marietta. »Freust du dich nicht, daß ich an die Waterkant zu Onkel Klaus und Tante Ilse fahre – ist es dir nicht recht?«

»Nein, Jetta, ehrlich gesagt, ganz und gar nicht! Wir haben uns darauf gefreut, der Großpapa und ich, daß wir dich wieder mal ein paar Wochen in Kissingen für uns haben werden, ohne deine vielen anderen Interessen und Pflichten, die dich hier in Anspruch nehmen. Ja, Kind, alte Leute werden egoistisch!« Das war schon wieder die anmutig heitere Art, mit der die Großmama Selbstkritik übte.

»Ich glaube, die Egoistische bin ich diesmal gewesen, Großmuttchen«, meinte Marietta kleinlaut. »Ich habe nicht an die Enttäuschung gedacht, die euch meine Neuigkeit bereiten mußte. Aber ändern läßt sich nichts daran. Ich muß dem Kommando folgen. Und ich tu's auch gern. Ich liebe das Stückchen Erde besonders. Nun haltet ihr mich gewiß für rücksichtslos.«

»Nein, Jetta, das bist du nicht. Das wissen wir am besten. Es ist mir auch eigentlich mehr um deine eigene Erholung zu tun, mein Herz. Die hast du dort nicht in vollem Maße, der Großpapa hat recht.«

»Ich soll ja im September richtigen Urlaub bekommen, vielleicht können wir dann zusammen nach Kissingen fahren.«

»Das ist zu spät im Jahre für eine Kur. Da käme höchstens der Süden in Betracht. Aber das hat ja noch lange Zeit. Seitdem ich alt bin, habe ich mir das Pläneschmieden abgewöhnt. Es kommt doch immer anders.«

»Schau, Weible, was hast denn heut'? So elegisch kenn' ich dich doch nimmer. Also pack' halt deine Sachen, wir zwei beid' fahren nach Kissingen«, tröstete der alte Herr.

»In unserm Garten ist's ebenso schön.« Frau Annemarie hatte die Lust verloren. Auch die Finken droben in der Linde waren derselben Ansicht. Wozu mußte ihre junge Freundin fortreisen? Konnte es irgendwo schöner sein als hier? – – –

Im Wartesaal des Stettiner Bahnhofes standen die blassen Großstadtkinder, Rucksäcke auf dem Rücken, zu zweien hintereinander. Neben ihnen die Mutter, eine Tante oder auch ein großer Bruder, der ihnen das Kofferchen trug. Mit neugierigen, unternehmungslustigen oder angstvollen Augen standen sie da, die Ferienkinder, je nach Veranlagung. Es schwirrte von Kinderstimmen wie in einem Bienenstock.

Eine junge Dame, ein Reisehütchen auf dem goldbraunen Haar, schritt von einem zum andern und verteilte kleine Schilder mit Namen, Nummern und dem Reiseziel. Ein Herr der Ferienkolonie verlas die Liste.

»Zwei fehlen noch, Fräulein Tavares. Wir haben noch zehn Minuten Zeit. Auf die Jungen werden Sie besonders achten müssen, daß keiner die Tür öffnet oder gar an die Notbremse geht. Wird Ihnen nicht bange bei fünfzig Gören?«

»Nein, ganz und gar nicht. Wir sind ja auch unserer zwei. Fräulein Wohlgemut hat ja schon öfters Ferienzüge geleitet.«

Trotzdem schien die zweite, schon ältere Dame fast noch aufgeregter als die Kinder. Sie flog vom Eingang zum Wartesaal, und vom Wartesaal zur Bahnhofshalle, ob die Nachzügler denn noch immer nicht kämen.

»Lotte, du bist die älteste, du führst den Zug an«, bestimmte Marietta, Lottchen Müller, die ihre kleine Kusine Lenchen an der Hand hielt, in die erste Reihe stellend.

Lotte nickte stolz. Sie war glückselig, daß Marietta Lenchen und sie mit nach Lüttgenheide nahm. Auf einer Seite der Kinder stand Vater Kunze mit dem Gepäck, auf der andern Lenchens Mutter. Im Hintergrunde in einer Ecke aber saß die Tante Geheimrat. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, den weiten Weg zum Bahnhof mitzukommen.

Frau Annemarie schaute mit gemischten Gefühlen auf die muntere Schar, die ihr ihren Liebling entführen wollte. Oh, sie gönnte es ja den Blaßschnäbelchen allen, daß sie aus dem staubigen Berlin heraus auf die grüne Weide kamen. Seit Jahren nahm Lüttgenheide, das Gut ihres Bruders, Ferienkinder auf. Aber es gab ja so viele Jugendleiterinnen. Warum mußte gerade Marietta diejenige sein. Freilich, sie war ganz besonders dazu befähigt. Sie hatte unbedingtes Organisationstalent und eine freundliche Bestimmtheit den Kindern gegenüber, welche die Großmama gar nicht in ihr vermutet hatte. Sie verlor ihre Ruhe nicht, trotzdem man von allen Seiten auf sie einsprach, mit tausend Wünschen und Anliegen zu ihr kam, ja sie sogar am Mantel festhielt.

»Fräulein, darf ich rasch noch 'ne Stulle essen?«

»Nein, jetzt ist keine Zeit dazu, später, im Zuge.«

»Aber mir hungert.« Marietta konnte sich in keine weitere Debatte einlassen, denn von der andern Seite hatte man sie am Arm.

»Freilein, heren Se mal, Freileinchen,« – das war eine der Mütter – »passen Se doch 'n bißchen auf meinen Karlemann auf, daß ihm unterwegs nich etwa schlimm werden tut. Karussell fahren kann er auch nich vertragen.«

»Es wird für alle Kinder gut gesorgt werden.«

»Fräulein, daß se mer bloß mein Anneken beis Einsteijen nich totdrücken. Se is doch man noch so kleine und spillerig.« Trotz ihrer vielen Obliegenheiten wandte sich Marietta der bittenden Mutter zu. Das war echte Mutterliebe und Sorge, die da bat.

»Wer ist Ihr Töchterchen? Anna Froschschenkel? Die nehme ich selbst an die Hand. Das ist ja unser Nesthäkchen«, beruhigte sie die besorgte Mutter.

»Fräulein, jeht's noch nich los« – »Fräulein, der Junge schubbst mir immer« – »ach, liebes Fräulein, können Sie nicht die Stullen für meinen Walter in Verwahrung nehmen? Der Junge ist so verfressen, der ißt sie sonst alle auf einmal auf.«

Die alte Frau Geheimrat, in ihrer Ecke ein stummer Beobachter, hätte gern temperamentvoll eingegriffen, daß man ihren Liebling nicht so quälen solle. Aber Marietta blieb ruhig und freundlich dabei.

Und schließlich war's soweit. Die aufgeregte Kinderschar, die noch aufgeregteren Mütter, alles schlängelte sich hinaus auf den Bahnsteig. Das Verladen vollzog sich in bewunderungswürdiger Ordnung. An den Fenstern standen sie, die Berliner Ferienkinder, und winkten und riefen hinaus: »Grüß' auch 'n Vater« – »kommt mit dicken, roten Backen wieder, Kinder« – »Jrete, wenn du nich hören tust, denn schicken se dich wieder retour« – »Mutta – Mutta – nee, ich will nich mit, ich will lieber bei dir und Hektorn bleiben« – – – Tücher wehten – Kinder winkten und jauchzten – Tränen flossen. Und zwischen all den Gören stand Marietta, das hinauswinkende Froschschenkelchen auf dem Arm. So entschwand sie den grüßenden Blicken der Großmama.

Nun, ganz einfach war es nicht, die vielen erregten Kinder während der langen Bahnfahrt am Bändel zu halten. Der Herr von der Ferienkolonie hatte recht. Sie zankten sich um die Plätze. Sie ließen die Fenster hinauf- und herunterrasseln. Sie stellten den Heizungshebel von kalt auf warm. Sie untersuchten – o Schrecken – sogar den Mechanismus der Türschlösser. Aber umsonst hatte man nicht seit Wochen draußen im Grunewald die wilden Horden im Schach gehalten. Marietta griff zu einer Kriegslist. Sie rief zur Fütterung. Nichts besänftigt so die Gemüter wie ein belegtes Butterbrot. Plötzlich waren sie alle wieder zahm und brav. Und als man erst jedes glücklich auf seinem Platz hatte, da war es nicht allzu schwer, sie durch gemeinsame Spiele zu fesseln. Fräulein Wohlgemut sah erstaunt, wie die jüngere Kollegin, ohne Strafen, ja ohne ein ernsteres Wort mit den Kindern fertig wurde. Ohne daß die Notbremse gezogen oder eins hinausgestürzt wäre, kam man in Greifswald, der Umsteigestation, an. Hier bestieg man das bereitstehende Bimmelbähnchen nach Lüttgenheide. Die letzte Stunde war, wie immer, die längste. Die Kinder wurden müde und ungeduldig. Sie verlangten durchaus von Marietta, nun endlich das Meer zu sehen. Aber schließlich hat auch die längste Stunde nicht mehr als sechzig Minuten. Mit pünktlicher Verspätung lief das Bähnchen ein.

Ein großer, vierschrötiger Herr, ein blonder Riese, dem man den Landwirt schon von weitem ansah, trat auf die Damen zu. »Braun ist mein Name«, stellte er sich vor. Dann wandte er sich zu den Kindern. »Also Willkommen, ihr Gören. Wir wollen euch hier schon rausfuttern. Welche der Damen hat das Kommando für die Lüttgenheider Ferienkinder?«

»Ich«, sagte Marietta mit einem spitzbübischen Lächeln. Sie hatte es nicht an die Verwandten geschrieben, daß sie die Ferienkinder nach Lüttgenheide begleitete. Ihre gesellschaftliche Pflicht erfüllend, fuhr sie fort: »Mein Name ist – – –«

Aber sie kam nicht weiter. »Jetta!« rief der Gutsherr ebenso erstaunt wie erfreut aus. Wenn sie auch seit mehreren Jahren nicht an der Waterkant gewesen und inzwischen zu einer Dame herangewachsen war, solche tiefschwarzen Augen, dieses goldigflimmernde Braunhaar, das hatte nur das Tropenprinzeßchen.

»Jetta, lütte Dirn, das ist ja eine famose Überraschung!« Vetter Peter versetzte ihr ohne alle Umstände einen verwandtschaftlichen Kuß. »Wo hast du deine alten Herrschaften? Nicht mitgebracht? Schade! Was werden sich meine Alten freuen! Also rein mit euch, ihr Lütten, auf den Lüttgenheider Leiterwagen. Die Grotgenheider Wagen halten drüben auf der andern Seite.«

Die beiden ältesten Sprößlinge Peters, zwei handfeste Blondköpfe von sieben und neun Jahren, thronten stolz auf den mit Tannengirlanden umkränzten Leiterwagen. Der eine hielt die Peitsche, der andere die Gäule.

»Kennst die Slingel noch, Jetta? Das ist hier der Hansing und dies unser Fritzing. Du kannst sie mit in deine Herde einreihen. Kann ihnen nur von Nutzen sein. Den Burschen ist kein Baum zu hoch und kein Graben zu breit.«

Während Marietta in ihrer herzgewinnenden Art die Bekanntschaft mit den beiden kleinen Burschen erneuerte, verlud Peter Braun die »Lütten«. Die großen Leiterwagen waren mit Stroh belegt. Vorn war eine gepolsterte Bank für die »Damens«. Stück für Stück wurde das Berliner Kleinzeug »verladen«. Das gab ein Juchhei da oben im Stroh.

Und dann ging's los. Durch heuduftendes Dämmerland die Kirschchaussee entlang. Die Lupinenfelder senden süße Grüße herüber. Heimkehrende Schnitter und Schnitterinnen in bunten Kopftüchern, Harke und Sense auf der Schulter, rufen ihr treuherziges: »Gu'n Abend ok, Herring«. Hochbeladene Wagen mit dem würzigen Heu rollen schwerfällig dem Hofe zu. Windmühlen breiten den Ankömmlingen ihre Arme entgegen. Durch die Wiesen stolziert der Storch. Es geigt und summt im Grabenrand. Gedämpftes Rauschen – das nahe Meer. Das ist die Waterkant mit ihren fruchtbaren Feldern, ihrer breiten Gemütlichkeit und ihren biederen Bewohnern. Oh, Marietta kann es verstehen, daß einem in den Tropen drüben die Sehnsucht kommt nach diesem Stück kraftvoller Heimaterde.

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin«, erklang es in etwas plärrendem Kinderchor hinter der in die Dämmerlandschaft hinausträumenden Marietta. Die Berliner Kinder verleugneten ihre Abstammung nicht. Wenn der Berliner am heitersten ist, singt er die sentimentalsten Lieder.

Das massive Herrenhaus zu Lüttgenheide hatte im Laufe der Jahre wenig Änderungen erfahren. Altersgrau und anspruchslos lag es wie ein Riesenkoloß, umgeben von neuen Scheunen und Stallungen, denn was ein echter, rechter Gutsherr ist, der baut für sein Vieh und nicht für die Menschen. »Das Schloß« hieß es im Munde der Dorfleute. Daran erinnerte aber nur noch der verwitterte, schwalbenumflatterte Turm. Wilde Kletterrosen gaben sich redlich Mühe, die Fassade des Hauses freundlicher und einladender zu gestalten.

Der Lüttgenheider Wagen hielt; während das zweite Gefährt mit winkenden Abschiedsgrüßen dem zwanzig Minuten entfernten Grotgenheide zurollte. An dem runden Tisch, der um den Stamm des alten Nußbaumes gezimmert war, hielt man Feierabend. Da saßen Großvating und Großmutting, oder wie Marietta sie nannte, »Onkel Klaus und Tante Ilse«. Der alte Herr mit den noch immer verschmitzten braunen Augen hatte ein von Luft, Sonne und Meer gerötetes, wenn auch ziemlich verwittertes Gesicht. Krauses, weißes Haar unter einem schwarzen Samtkäppchen umstand es wie ein merkwürdiger Heiligenschein. Das war aber auch alles, was Klaus Braun von seinem einstigen Krauskopf geblieben. Unter dem Käppchen gähnte eine betrübliche Leere. Großvating rauchte wie immer seine Pip Tobak. Die gehörte zu ihm wie sein Samtkäppchen, wie das Strickzeug zu Großmutting. Frau Ilse war im Laufe der Zeit tüchtig in die Breite gegangen, etwas rundlich war sie ja schon immer gewesen. Aber, daß ihr Mann behauptete, sie wäre nun bald so breit wie lang, das war entschieden Übertreibung. Ihre dicken Blondzöpfe hatten sich gelichtet; glatt und schlicht lag das graue Haar um das behäbige freundliche Frauengesicht. Die Schwiegertochter, eine helläugige Hollsteinerin, ordnete das soeben vom Spalier abgenommene Obst in eine Glasschale. Während Annemie, das dreijährige Nesthäkchen, mit dem großen Hofhund Pluto dem Ball nachjagte.

»Da sind ja die Lütten schon.« Großmutting ließ das Strickzeug auf den Tisch gleiten und war mit einer bei ihrer Fülle erstaunlichen Behendigkeit schon am Hoftor. Langsamer folgte die Schwiegertochter, während Großvating sich nicht von seiner Bank rührte. Nur etwas dickere Rauchwolken stieß er zur Begrüßung der kleinen Gäste aus seiner kurzen Pfeife. Eigentlich war er gar nicht so sehr einverstanden mit der Aufnahme der Ferienkinder. Er liebte seine Ruhe, und die Enkel sorgten schon gerade genug für Abwechslung.

»So, Mutting, da hätten wir das Berliner Lüttzeug. Von Jahr zu Jahr fällt's mieseriger aus, man nich?« Der Gutsbesitzer sprang vom Wagen und half einer neben ihm sitzenden jungen Dame mit bärenhafter Ritterlichkeit herab.

»Die Leiterin der Ferienkolonie, Fräulein – – – –« aber er kam mit seiner Vorstellung nicht weiter. Schon war die junge Dame der verdutzten alten Dame an den Hals geflogen: »Tante Ilse – tausend Grüße von der Großmama.«

Großmutting wußte nicht, wie ihr geschah. »Jetta, Dirn, bist du's denn wirklich? Nein, was bist du groß und schön – – –«

»Is man immer noch ne lütte, smucke Dirn. Viermal kann man sie in dich hineindividieren, Mutting«, neckte Peter. »Lising, was sagst du zu der Überraschung? Du kennst doch das Hartensteinsche Tropenprinzeßchen, Donna Marietta Tavares, noch?«

»Freilich kenn' ich die Jetta.« Mit ruhiger, aber warmer Freundlichkeit begrüßte die Frau des Hauses den unerwarteten Gast. Dann kamen die vom Großknecht inzwischen abgeladenen Gören an die Reihe.

»'n Hümpel Gören und wiegt nicht mal so viel wie 'n paar fette Sweine«, meinte Krischan, der Großknecht, mitleidig geringschätzig.

Die Jungen hatten sich bereits mit den Braunschen Sprößlingen Hansing und Fritzing angefreundet. Sie klopften die Pferde und prüften das Geschirr. Sie liefen dem die Gäule ausspannenden Knecht bis in die Ställe nach. Dort war für die Großstadtkinder der schönste Ferienaufenthalt.

Die kleinen Mädchen scharten sich ein wenig schüchtern um die Tante Jetta. Aber als die alte Dame ihnen so freundlich die Hand bot: »Ich bin die Großmutting von Fritzing und Hansing, ihr sollt mal sehen, wie schön das hier bei uns an der Waterkant ist«, und als die Gutsherrin zur Erdbeermilch unter dem Nußbaum einlud, da tauten auch die blödesten auf.

Großvating saß hinter einer dicken Rauchwolke und ahnte nichts von der Überraschung, die der Leiterwagen abgeladen. Er paffte wie ein Fabrikschornstein. Da stand plötzlich seine Frau vor ihm, ein bildhübsches, junges Mädel am Arm.

Für schöne Frauen war Klaus Braun noch heute eingenommen. Er erhob sich mit einer bei seiner Gichtsteifheit rührenden Ritterlichkeit und verneigte sich. Da aber fühlte er sich plötzlich um den Hals genommen – ih, der Tausend, das konnte man sich gefallen lassen – und ehe er sich's versah, hatte er einen Kuß von jungen Lippen auf seiner runzligen Wange.

»Na, Mutting, was sagst nu? So'n nettes Frölen haben wir noch bei keiner Ferienkolonie gehabt!« schmunzelte der alte Herr begeistert.

»Aber Mann, Klaus – kennst du denn das Fräulein nicht? Sieh sie dir doch mal genau an, Vating.«

Dies geschah eingehend unter dem Jubel der Kinder und dem Lachen der Großen. »Bekannt kommt sie mir vor, die lütte Dirn – weiß der Düwel, das muß 'n Ableger von Hartensteins Jüngster sein.«

»Freilich – geraten, Onkel Klaus. Die Marietta bin ich – Marietta Tavares aus Brasilien. Die Tochter von Ursel Hartenstein«, setzte das junge Mädchen erklärend hinzu, in der richtigen Annahme, daß sich der alte Herr nicht mehr so recht in den verschiedenen Generationen zurechtfand. Sie war auf die Wirkung, die ihre Worte auf den Onkel machten, nicht vorbereitet.

»Tavares – Brasilien?« Das noch eben so freundliche Gesicht unter dem schwarzen Samtkäppchen verfinsterte sich. »Ihr habt mir meinen Jungen fortgenommen, meinen besten. Wo habt ihr mein Jünging? Was wollt ihr von ihm? Erst lockt ihr ihn mit falschen Versprechungen über das große Wasser, von der Heimat und den alten Eltern fort, und dann – dann gebt ihr ihm den Laufpaß!« Der alte Herr rief es so wütend, daß die Kinder sich wieder ängstlich hinter Marietta verkrochen. Die war ebenfalls erschreckt zurückgewichen. Sie war bis in die Lippen erbleicht. Ehe sie noch den Mund zu einer Erwiderung öffnen konnte, hatte Tante Ilse schon beschwichtigend ihrem Mann auf die Schulter geklopft.

»Aber Vating, was machst du für Sachen! Gleich in der ersten Stunde fängst du an zu krakeelen. Die Dirn, die Marietta, die kann doch nix dafür, wenn unserem Jungen die Heimat zu eng geworden ist. Willst du uns etwa unsere jungen Gäste gleich wieder rausgraulen?«

»Ich will nichts von eurem Horst«, sagte Marietta leise mit zuckendem Munde. Der Schmerz des alten Vaters traf sie tief. Sie empfand die ganze Verantwortung für die Handlungsweise der Zwillingsschwester.

Mehr als die Worte seiner Frau beschwichtigte den alten Herrn die rührende junge Stimme. Er tätschelte der Großnichte begütigend die Wangen. »War ja nicht so gemeint – du bist 'ne brave lütte Dirn!« Damit war für ihn die Sache erledigt. So 'ne kleine Explosion ab und zu, das gehörte nun mal zu seinem Wohlbehagen. Danach schmeckte die Pip Tobak noch mal so gut.

Marietta aber, der mimosenhaft zart Empfindenden, ging die Sache noch lange nach. Als die Gören an den langen Holztischen, die sonst nur beim Erntefest aufgestellt wurden, längst schon in Erdbeermilch und großen Schinkenbroten schwelgten, war sie mit ihren Gedanken noch bei des alten Mannes anklagenden Worten. Hatte er recht – hatten die Tavares etwas gutzumachen an Horst Braun?

Frau Lising nahm den Arm ihres nachdenklichen, jungen Gastes und schritt mit ihr die resedaduftenden Gartenwege auf und nieder. »Du mußt dir Vatings Poltern nicht so zu Herzen nehmen. So'n beten Räsonieren, das gehört nu mal zu ihm. Er meint's man halb so slimm. Aber das Wort »Brasilien«, das vermeidest du besser, Jetta. Das wirkt auf ihn, wie's rote Tuch auf'n Stier.«

Die Lütten lagen in den für sie hergerichteten Räumen in den sauberen, nach Wiesenbleiche frisch duftenden Betten. Marietta saß am Lager des kleinen Froschschenkelchens, das nicht einschlafen wollte.

Das Kind war aufgeregt, weinte nach der Mutter und fürchtete sich. Daran waren nur die Braunschen Schlingel Hansing und Fritzing schuld, die der Kleinen vorgeredet hatten, es spuke in dem alten Schwalbenturm. Schließlich aber war doch die Reiseabspannung größer als die Gespensterfurcht. Das Froschschenkelchen schloß endlich die müden Augen.

War wirklich alles ganz geheuer in dem altersgrauen Schloß? Auch zu der nebenan schlafenden Marietta kamen seltsame Traumgebilde. Einen stämmigen, blonden Jungen zeigten sie ihr – war es der Hansing oder der Fritzing? Nein, Horst rief man ihn, das Nestküken war es von dem Lüttgenheider Jungenquartett. Sie sah ihn im Heu und bei den Pferden, den frischen Blondkopf. Jetzt über den großen Schulatlas gebeugt, die Geographie Brasiliens studierend. Und da war plötzlich wieder das böse Gesicht des alten Mannes. Eine drohend erhobene Faust sah Marietta dicht vor ihren Augen herumfuchteln, sie hörte die laute Stimme des Großonkels: »Was wollt ihr von meinem Jungen, ihr Tavares?« Und dann die beruhigende Stimme der Tante Ilse: »Laß man sining, Vating, was die eine Schwester schlecht gemacht hat, wird die andere wieder gut machen. Man nich, mein Dirn?«

Erschreckt fuhr Marietta empor. Zum Fenster blinzelte die Lüttgenheider Morgensonne herein. Blökend zog das Vieh auf die Weide. Wagen ratterten aus dem Hof. Da war der nächtliche Spuk zerstoben.


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