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12. Kapitel. Bange Tage.

Ja, die Großmama half. Für alle Nöte wußte sie Rat und Abhilfe. Sie las mit den Enkelinnen die Werke der großen deutschen Dichter. Sie besuchte die Museen und Kunststätten mit ihnen. Ja, sie brachte es zuwege, daß Anita weiter in die Schule ging und sich allmählich der Disziplin fügen lernte, wenn sie sich auch oft genug noch dagegen aufzulehnen versuchte.

Der erste Juli hatte verschiedene Veränderungen im Gefolge. Die Miß saß nicht mehr steil und gerade als dunkle Linie in der Sonne. Sie war in ihre Heimat zurückgekehrt. Zur allgemeinen Freude. Selbst Marietta vermochte kein Gefühl des Bedauerns über ihr Scheiden aufzubringen.

Noch einer hatte seinen Abschied nehmen müssen: Jimmy wurde dem Zoologischen Garten übergeben. Eines Tages hatte die entsetzte Großmama die von zwei Generationen herstammende Glasservante in ihrem Biedermeierzimmer zertrümmert und die gehüteten Goldtäßchen in Scherben vorgefunden. Er selbst, der braunhaarige Missetäter, aber lag warm zugedeckt auf Großmamas grünem Ripssofa. Da war sein Schicksal besiegelt. Alle Bitten und Schmeicheleien Anitas, mit denen diese den Großpapa umzustimmen suchte, fruchteten diesmal nichts. Jimmy wanderte in den Zoo.

Auch Lottchen war auf einige Zeit davongezogen. Der Geheimrat hatte das blasse Kind einer Ferienkolonie zum Landaufenthalt angegliedert.

Noch eine Veränderung hatte der erste Juli mit sich gebracht. Die Zwillinge waren fünfzehn Jahre alt geworden. Über und über hatte sich die große Linde im Garten mit lichten Blüten den Geburtstagskindern zu Ehren behängt. Die Vöglein hatten ihnen den musikalischen Geburtstagsgruß jubilierend schon in aller Herrgottsfrühe dargebracht. Drunten stand die Großmama und baute den beiden Enkelkindern den über und über mit Rosen geschmückten Gabentisch frohen Auges auf. Droben im Mädchenstübchen aber hatte es Tränen gesetzt. Tränen des Zorns und der Enttäuschung. Die brasilianischen Kinder waren gewöhnt, am Geburtstagsmorgen ihre Geschenke beim Erwachen auf den Betten ausgebreitet zu finden. Alle beide waren sie noch unreif genug, über das vermeintliche Ausbleiben derselben Tränen zu vergießen. Sie sollten bald erkennen lernen, wie nichtig ihre Tränen waren, daß es andere Veranlassung dazu gab.

Die Sommerferien standen vor der Tür. Wie alljährlich wollten Geheimrats nach Kissingen zur Kur gehen. Diesmal sollten die Enkelinnen sie begleiten. Wie freute sich Marietta, den Bayrischen Wald kennen zu lernen, während Anita das elegante Badeleben bei weitem mehr lockte. Zur Nachkur pflegte die Großmama dann an die Waterkant nach Lüttgenheide zu fahren, dem Gute ihres Bruders Klaus. Dem einzigen, den sie jetzt noch besaß. Ihr älterer Bruder Hans, der Amtsgerichtsrat, war bald nach dem Tode ihrer Mutter ebenfalls dahingegangen. So bröckelte die Familie nach und nach ab. Um so fester mußten sich die noch Bleibenden zusammenschließen.

Die Koffer waren gepackt. Die Großmama hatte die Morgenstunde, in der die Kinder ihren Frühritt mit dem Onkel Hansi unternahmen, dazu benutzt, um ganz ungestört ihre Reisevorbereitungen zu treffen. Natürlich hatte Anita es durchgesetzt, reiten zu dürfen. Und wenn der Geheimrat auch tat, als ob er darüber brummte, das Herz lachte ihm doch im Leibe, wenn er die beiden schlanken Amazonen dahingaloppieren sah.

Der Morgenritt wurde heute etwas länger ausgedehnt als gewöhnlich, denn der Onkel hielt darauf, daß die beiden Mädel die Schulstunde nicht versäumten. Heute war der erste Ferientag, der mußte ausgenützt werden. Nur schwer war Anita zum Umkehren zu bewegen. Um so erstaunter waren sie, die Großeltern bei ihrer Heimkunft nicht wie sonst auf der Terrasse beim Frühstück anzutreffen. War Großpapa schon in der Praxis?

Laut und geräuschvoll, wie das Anitas Art war, betrat sie das Haus und klingelte nach dem Frühstück. Frau Trudchen erschien mit verstörtem Gesicht.

»Schscht, Fräuleinchen, man bloß nich so laut! Was unser Jroßpapachen is« – – – die Stimme brach der Treuen. Vergeblich versuchte sie die Tränen mit der Schürze zu dämmen.

»Was ist – was ist geschehen?« Anitas sorgloses Gesicht wurde ernst.

»Was unser Herr Jeheimrat is« – – – Frau Trudchen konnte nicht weitersprechen.

Marietta, die im Garten sich an einer neuerblühten Rose erfreut hatte, kam nichtsahnend, eine Melodie vor sich hersummend, näher.

»Hat der Großpapa gesterbt?« hörte sie die Schwester mit angstvollen Augen gerade fragen.

Marietta mußte sich an den Treppenpfosten klammern. Es wogte ihr vor den Augen. Wie durch einen Schleier sah sie Frau Trudchen den Kopf schütteln.

»Noch lebt er – aber ob er's übersteht – – einen dollen Herzkrampf hat er janz plötzlich jekriegt – ach, und unsere arme Frau Jeheimrat, was fängt die bloß ohne ihren Mann an!«

»Er lebt ja, warum weinen heute schon?« Anitas sorglosem Temperament waren Tränen, Krankheit und Aufregung recht zuwider. Dabei hatte sie ein noch nie empfundenes Gefühl der Beklemmung, des Schmerzes – sie empfand plötzlich, daß sie ihn lieb hatte, den alten Herrn, der öfters mal ein wenig polterte und es doch so herzensgut mit ihnen meinte.

Aber mit der resoluten Art der Amerikanerin wollte sie dieses Gefühl nicht aufkommen lassen. »Komm, Jetta, wir wollen nehmen das Frühstück. Bringen Sie das Kakao, Donna Trudchen.«

»Ich kann nicht essen, Nita. Ich will zur Großmama gehen.« Mariettas Stimme klang tonlos. Sie wandte sich dem Schlafzimmer der Großeltern zu. Aber Frau Trudchen vertrat ihr den Weg.

»Frau Jeheimrat will nicht gestört werden, der Doktor is drin. Ach Jotte doch, wer hätte das jedacht.« Damit lief sie in die Küche, das Frühstück zu bereiten.

Anita schlang den Arm um die Schwester. »Wie blaß du bist, Jetta. Du darfst nicht werden auch krank. Nun wir nicht werden fahren morgen nach Kissingen.«

Marietta sah die Schwester groß an. »Wie kannst du nur jetzt daran denken, Nita«, sagte sie vorwurfsvoll. Sie fühlte sich nicht mehr eins mit der Schwester. Alle ihre eigenen Gedanken drehten sich um den kranken Großpapa, die angstvoll sorgende Großmama – und Anita konnte von der Reise sprechen.

Mit Mühe zwang sie einige Bissen des Frühstücks herunter. Da ging eine Tür. Gedämpfte Stimmen – die Großmama gab dem Arzt das Geleit.

»Er hat ja eine Kernnatur, die überwindet die Attacke. Kopf hoch, Frau Geheimrat, und Ruhe – Ruhe – – – wir werden es schon zwingen.«

»Das gebe der Himmel!« War das die helle Stimme der Großmama, die da so mutlos klang?

Frau Annemarie stand und schaute dem davoneilenden Arzt mit leerem Blick nach. Ihr war, als nähme er alle Hoffnungsfreudigkeit mit sich. Sie griff sich an die Stirn, als könne sie es nicht fassen, was die letzte Stunde Furchtbares gebracht hatte. »O mein Gott – mein Gott!« stöhnte sie. Es war ja undenkbar, unmöglich, daß er, der so vielen beigestanden, sie verlassen sollte.

Da fühlte sie eine kleine, kalte Hand in der ihren, eine tränenfeuchte Wange sich zärtlich gegen ihr Gesicht schmiegen. »Der liebe Großpapa wird werden gesund!« Voll felsenfester Zuversicht klang es.

»Mein Herzenskind – das gebe Gott!« Fest klammerte sich die Verzagte an die junge Enkelin, als müsse die Hoffnungsfreudigkeit der Jugend auf sie überströmen.

Dann löste sie sich jäh aus Mariettas Arm. In ihr sonst so helles Auge trat wieder der verstört angstvolle Zug.

»Ich muß hinein, Kind, zu ihm – wer weiß, wie lange ich ihn noch habe – –.« Das war mehr zu sich selbst als zu der Enkelin gesagt.

»Nimm mich mit, ich will bei der lieben Großmama bleiben. Ich will helfen gesund pflegen den Großpapa.« Mehr noch als Mariettas Mund baten ihre schwarzen Augen.

Aber die Großmama schüttelte den Kopf. »Du meinst es gut, Seelchen, aber es geht nicht. Der Großpapa braucht Ruhe – – –.«

Damit schlich sie auch schon behutsam in das Krankenzimmer zurück.

Marietta ließ sich in einen Korbsessel auf der Diele sinken. Sie heftete ihre Augen auf die geschlossene Schlafstubentür. Dabei sah sie ein ganz anderes Bild. Die Sterbende, die Mutter Lottchens, damals auf ihrem Blätterlager im Tropenlande. Hatte der unerbittliche Gast auch bereits diese Schwelle hier überschritten?

Portugiesische Laute entrissen sie dieser Vorstellung. Anita sprach hell und ungedämpft. »Willst du hier sitzen und warten, Jetta, bis der Großpapa gesund wird? Krankheit ist traurig und langweilig. Komm, wir wollen überlegen, was wir unternehmen können. Wollen wir voranfahren nach Kissingen?« Der amerikanische Unternehmungsgeist meldete sich.

Marietta starrte die Schwester an, als spräche sie eine ihr fremde Sprache. »Fort willst du jetzt, Nita, wo wir in bangster Sorge um den Großpapa sind? Da kannst du an eine Vergnügungsreise denken?« Nie hatte Marietta bisher so vorwurfsvoll zu der Schwester gesprochen.

Dieser Ton ärgerte Anita. »Wenn du hier sitzt und traurig bist, davon wird der Großpapa auch nicht eher gesund. Du bist schon von deutscher Sentimentalität angesteckt, Jetta.«

»Wenn herzlos und amerikanisch dasselbe ist, verzichte ich darauf, Amerikanerin zu sein.« Es klang in der Erregung schärfer, als Marietta sonst zu sprechen pflegte.

»Du bist heute ungenießbar, Jetta. Ich werde mir andere Gesellschaft suchen. Schade, daß Jimmy fort ist. Das beste ist, ich nehme mir ein Auto und fahre zum Onkel Juan nach Zehlendorf. Da ist es lustiger als hier. Kommst du mit?«

Marietta schüttelte stumm den Kopf. Das Herz tat ihr weh. Wie war es nur möglich, daß die Zwillingsschwester so ganz anders empfand als sie?

So saß Marietta an diesem hellen Sonnentage allein in der dämmerigen Diele – stundenlang. Mit ihren Gedanken, ihrem Hoffen, ihren Gebeten jenseits der trennenden Tür im Krankenzimmer. Sobald sich dieselbe öffnete und die Großmama sichtbar wurde, die Umschläge zu erneuern oder irgend etwas für den Kranken zu holen, war sie neben ihr, um ihr jeden Schritt abzunehmen. Glücklich war sie, wenn sie irgendeine Handreichung für den Großpapa tun konnte.

»Er ist ruhiger geworden – er schläft. Er scheint keine Schmerzen mehr zu haben.« Marietta las der Großmama die Worte von den Lippen. »Wenn nur nicht wieder solch ein Anfall wie heute morgen einsetzt. Ich kann es nicht ertragen, ihn so leiden zu sehen.« Die leuchtendblauen Augen der alten Frau trübte ein Tränenschleier. Gleich darauf aber dachte sie an die junge Enkelin. »Du hättest mit Anita mitgehen sollen, mein Herz. Das ist hier heute ein trauriger Aufenthalt für ein junges Menschenkind.«

»Ich gehöre zu euch«, erwiderte Marietta mit schlichter Selbstverständlichkeit.

»Ja, du gehörst zu uns – so komm, mein Seelchen.« Die Großmama zog die herzklopfende Marietta mit sich an das Krankenlager des Großpapas.

Und nun saßen sie beide Hand in Hand, die Großmama und die ihr noch vor kurzem fremde Enkelin. Sie fühlten und sorgten dasselbe, und sie schöpften Kraft aus dem Gefühl ihrer festen Zusammengehörigkeit.

Ernste Stunden mit schwerem, beklemmendem Flügelschlag rauschten an den beiden vorüber. Hatte sich noch eben zage Hoffnung hervorgewagt, so verkroch sich dieselbe im nächsten Augenblick schon wieder vor dem verfallenen, graubleichen Aussehen des Schwerkranken, vor seinen ruhelos auf der Decke tastenden Händen.

Hans Hartenstein kam, um zu hören, wie es mit dem Vater stände. Gegen Abend erschien Tante Vronli. Ihre Ruhe, ihr stilles Wesen tat der Mutter wohl. Sie wollte eines der Mädel mit sich nehmen. Aber Anita hatte man in Zehlendorf nicht wieder fortgelassen, und Marietta war nicht dazu zu bewegen, die Großmutter zu verlassen. Auch Frau Annemarie meinte: »Laß mir das Kind da, Vronli, es ist mir ein Halt und ein Trost.« Diese Worte erfüllten Marietta trotz des Druckes, der ihr auf der Brust lag, mit freudiger Genugtuung. Vronlis Anerbieten, die Nacht bei dem Vater zu wachen, damit die Mutter sich niederlegen könne, wies Frau Annemarie zurück. Sie rührte sich nicht fort von dem Krankenlager ihres Mannes.

»Sorge für die Großmama, Marietta,« hatte Tante Vronli beim Abschied gesagt, »daß sie uns gesund bleibt.«

Es hätte nicht erst dieser Aufforderung bedurft. Marietta umgab die Großmama mit einer rührenden Zartheit und Fürsorge. Dem Kinde zuliebe nahm die Großmama einige Schnittchen zum Abendbrot. Auf Mariettas Bitten legte sie sich ein Stündchen, da der Großvater ruhiger atmete, auf die Chaiselongue, während Marietta sich an sein Lager setzte.

Was war das für eine Nacht. So heiß, so gewitterschwül und bedrückend. Marietta kannte die Tropennächte mit ihrer Siedetemperatur. Niemals waren ihr diese so atembeklemmend, so unheilschwer erschienen. Sie faltete die Hände und blickte in das unbewegliche Dunkel hinaus. Kein Stern glitzerte da oben, der einem tröstliche Antwort auf sein stummes Gebet gab. Da – ein Windstoß, Blätterrauschen, Blitz und Donner zugleich. Marietta fuhr erschreckt zusammen. Wie durfte die Natur draußen toben, wo der Großpapa Ruhe haben mußte.

Der Kranke hatte die Augen geöffnet. Sein Blick traf die junge Enkelin. »Ursele«, sagte er kaum hörbar. Aber Marietta hatte verstanden. Sie verstand, daß der erfahrene Arzt sich seines bedenklichen Zustandes bewußt war, daß die Sehnsucht nach seinem fernen Kinde ihn quälte. »Die Mammi kommt – sie ist bald hier«, flüsterte sie beruhigend zurück, die äderige Hand des Großpapas streichelnd.

Auch die Großmama hatte das sich entfesselnde Unwetter draußen aus der schweren Abspannung, die der starken Aufregung gefolgt war, emporgeschreckt. Marietta war bange vor dem Gewitter. Aber sie mochte ihre kindische Furcht nicht zeigen. Anita hatte sie deshalb oft genug ausgelacht. Allen Mut nahm sie zusammen, als sie zur Küche ging, etwas Milch für den Kranken zu wärmen.

Frau Trudchen hatte die halbe Nacht aufgesessen, um zur Hand zu sein. Nun hatte auch sie sich niedergelegt. Marietta war auf sich selbst angewiesen. Sie dachte an jenen Tag in den Tropen, da sie vergeblich versucht hatte, für Lottchens Mutter ein Feuer zu entzünden. Nun, hier mit dem Gasherd war die Sache einfacher. Aber merkwürdig – das Gas wollte nicht brennen, trotz Gasanzünders, trotzdem Marietta mehr als ein Dutzend Streichhölzer daran verschwendete. O Gott, wie ungeschickt und unbrauchbar sie war; nicht einmal etwas Milch konnte sie wärmen.

Draußen tobte das Wetter. Blitz auf Blitz. Schlag auf Schlag. Prasselnd ging der Regen hernieder. Drinnen weinte Marietta mit dem Himmel um die Wette, teils aus Angst vor dem Leuchten, Flammen und Knattern da draußen, teils über ihre eigene Unzulänglichkeit.

So fand sie die Großmama. Wie stets brachte sie Hilfe. Das Gas brannte jetzt, denn Marietta hatte nicht daran gedacht, den Haupthahn zu öffnen. Die Tränen trocknete ihr gütiger Zuspruch. Ja, selbst das Unwetter schien sich bei ihrem Kommen zu besänftigen.

»Du brauchst Ruhe, Kind, du bist übermüdet, von der Sorge und Aufregung überreizt.« Wie wohlig empfand das junge Mädchen ihre Fürsorge, als die Großmama sie nun liebevoll auf die Chaiselongue legte. Fest hatte sie sich vorgenommen, die Nacht durchzuwachen, aber kaum lag sie, da schlief sie auch schon. Die Jugend forderte ihr Recht.

Am nächsten Morgen, als Marietta erwachte, strahlte wieder Sonne am Himmel. Sonne strahlte ihr aus den Augen der neben ihrem Lager stehenden Großmama entgegen. »Es geht besser, mein Herz. Er selbst hat es mir gesagt. Und er versteht mehr als alle anderen Ärzte. Die große Mattigkeit ist ja nach dem schweren Anfall verständlich. Wir wollen uns den Großpapa schon wieder gesund pflegen, nicht, mein Seelchen?«

Wortlos zog Marietta die Hände der Großmama an die Lippen. Sie vermochte nicht zu sprechen in dem Überschwang des Gefühls.

Freilich, als Marietta den Großpapa dann später so bleich, mit vor Schwäche geschlossenen Augen in den Kissen ruhen sah, erschien ihr die Freude verfrüht. Das sah doch noch gar nicht nach Genesung aus. War es nicht ihre Pflicht, die Mutter von der Erkrankung des Großvaters in Kenntnis zu setzen? Der Großpapa sehnte sich nach seinem fernen Kinde. Und sie selbst, die Mammi, wenn sie zu spät käme, wenn sie ihren Vater nie mehr wiedersah? Ein schweres Verantwortlichkeitsgefühl legte sich auf die Seele der jungen Marietta. Mit der Großmama durfte sie die ihr am Herzen liegende Frage nicht überlegen, um ihre Hoffnungsfreudigkeit nicht wieder herabzustimmen. Ach, wenn Anita doch nur dagewesen wäre. Die war praktisch, die würde sicher ein Telegramm nach Sao Paulo senden. Aber was hinderte sie denn dasselbe zu tun? Nicht einen Tag durfte sie damit warten. Jede Stunde Verzögerung konnte das Wiedersehen gefährden.

Während drin im Krankenzimmer der Geheimrat seiner Frau mit schwachem Lächeln die Hand hinstreckte: »Meine gute Alte, solch arge Sorge hab' ich dir halt gemacht. Aber bis zum Herbst muß das widerspenstige Herz parieren. Ehe ich mein Ursele nit wiedergesehen hab', mach' ich nimmer Schluß!« – Währenddessen ging bereits ein Kabeltelegramm über das große Wasser, das die ferne Tochter an das Krankenlager des Vaters rief.

Hans Hartenstein hatte die Ferienreise mit seiner Familie um eine Woche verschoben, bis der Vater außer Gefahr war. Nun wollte er Anita und Marietta, da aus der geplanten Kissinger Reise vorläufig nichts werden konnte, in das Ostseebad Warnemünde mitnehmen. Anita kam strahlend, um der Schwester diese wichtige Mitteilung zu machen. Wenn die Großmama einverstanden wäre, sollten sie gleich ihre Koffer packen.

Die Großmama war durchaus einverstanden mit dieser Lösung der Ferienfrage. Ja, es war ihr ein Stein vom Herzen, die Kinder so gut versorgt zu wissen. Für die blasse Marietta war der Aufenthalt am Meer nach den schweren Tagen besonders wünschenswert. Überdies sollten sie einen Abstecher nach dem Gut ihres Bruders in Lüttgenheide machen. Vielleicht konnte man sich sogar später, wenn sich ihr Mann erst wieder erholt hatte, dort treffen. So war nun das Menschenherz. Wie eine Blume, die ein Unwetter eben noch zu entwurzeln drohte: beim ersten Sonnenstrahl hebt sie wieder das Haupt empor.

Die Großmama hatte die Rechnung ohne den Wirt oder vielmehr ohne ihre Enkelin gemacht. Marietta war nicht dazu zu bewegen, mitzufahren. Allem Bitten und Drängen Anitas entgegen. Zum erstenmal zeigte sie selbständigen, festen Willen.

»Ich habe nicht Lust, zu reisen. Ich habe jetzt gar nicht Ruhe, zu sein an anderes Ort. Die liebe Großmama und der Großpapa haben mich hier notwendig.«

»Der Großpapa wird werden gesund ohne dir. Du bist Egoist, Jetta, du denkst nur an dich selber, nicht an deine Schwester. Es macht mir kein Vergnügen, zu gehen auf Reise ohne dir.« Anita sprach laut und heftig. Sie war empört, daß die sonst so fügsame Schwester eigene Wünsche äußerte.

»Pst, Kinder, Ruhe – der Großpapa schläft!« Beschwichtigend steckte die Großmama in die lebhafte Debatte der beiden den Kopf zur Tür hinein.

»Siehst du, es ist viel mehr gut für den Großpapa, wenn wir sind fort; dann hat er Ruhe«, versuchte Anita die Schwester aufs neue zu überreden.

»Man muß auch leise und rücksichtsvoll sein, wenn man hier ist, Nita. Was hat dich denn so in Harnisch gebracht, Kind?«

»Jetta will nicht gehen mit nach Warnemünde. Sie will bleiben hier, zu pflegen gesund den Großpapa. Aber du bist ja dafür da, Großmama, und Frau Trudchen und Homer. Jetta hat zu kommen mit mir. Wir sind Zwillings, wir gehören beisammen.« Es klang in befehlendem Tone.

Marietta, deren Denken bei Anitas Wort »Egoist« haften geblieben war, die sich inzwischen Rechenschaft darüber abzulegen versuchte, auf welcher Seite ihre Pflicht lag, ob sie wirklich der Schwester gegenüber egoistisch handele, wandte sich jetzt bittend an die Großmama: »Ich will bleiben hier. Ich will sorgen, daß die liebe Großmama nicht wird krank auch. Es macht mir nicht Freude, zu gehen jetzt fort für Vergnügen, wenn du bist in Sorge, Großmama.«

»Du gehst nicht zum Vergnügen, sondern zu deiner Erholung fort, mein Liebling«, stellte die Großmama ihr vor.

»Siehst du, die Großmama will gar nicht haben dich hier«, triumphierte Anita. »Komm schnell, Homer soll packen die Koffer.«

»Ist es wahr? Will die liebe Großmama nicht haben mich?« Bang hingen die tiefschwarzen Mädchenaugen an den strahlendblauen der Großmama.

»Seelchen, es wird mir schwer genug, dich fortzulassen. Nur deiner Erholung wegen – – –.«

»Dann ich bleibe hier!« Nie zuvor hatte Marietta der Schwester gegenüber so energisch ihre Selbständigkeit vertreten.

Freilich, als es dann am nächsten Tage zum Abschied kam, fühlte Marietta doch ein leises Weh im Herzen, daß sie sich zum ersten Male im Leben von der Zwillingsschwester auf längere Zeit trennte.

»Wenn du hast Sehnsucht, du fährst mit Eisenbahn hinterher«, hatte Anita ihr noch lachend aus dem Abteilfenster zugerufen.

O ja, manchmal hatte Marietta Sehnsucht nach der schönen, übermütigen Schwester. Manchmal fehlte ihr die lustige Genossin. Denn es war jetzt recht still in dem Lichterfelder Rosenhaus geworden. Nur schwer erholte sich der Großpapa. Zwei Schritte ging es vorwärts und drei zurück, wie er niedergedrückt zu sagen pflegte. Aber wenn Marietta zu ihm trat und ihm mit scheuer Zärtlichkeit über die Hand strich, klärte sich seine mißmutige Miene auf. »Das Annele ist strahlend wie Sonnenschein, aber's Mariele hat dafür die Wärme der lieben Sonne. Die tut einem wohl«, äußerte er sich gegen Frau Annemarie.

Diese Sommertage der langsamen, von Hoffnung und Zagen unterbrochenen Genesung schmiedeten ein festes Band um Großeltern und Enkelin. Marietta wuchs mit ihrem selbstlos an andere denkenden Herzen hinein in einen neuen Pflichtenkreis. Das verwöhnte Kind der Tropen nahm der Großmama bald eine Obliegenheit nach der andern aus den Händen. Ihr Wunsch zu helfen, gab ihr auch die Geschicklichkeit dazu. Sie versuchte dem Patienten die Erfrischungen ebenso nett und zierlich darzureichen, wie das die Großmama tat. Sie las ihm die Zeitung vor und brachte ihn durch ihr noch nicht fehlerfreies Deutsch gar oft zur Heiterkeit. Sie sang ihm ihre Lieder, deutsch, italienisch und portugiesisch, französische Chansons und amerikanische Nigger-songs, bunt durcheinander. Alle Scheu, alle Schüchternheit fiel von ihr ab, da es galt, den Genesenden zu zerstreuen.

»Ich bin abgesetzt«, sagte die Großmama manchmal mit ihrem gütigen Lächeln. Aber sie ließ sich diese Absetzung nur zu gern gefallen. Ja, die Fürsorge, welche die junge Enkelin ihr persönlich angedeihen ließ, sei es durch eine Fußbank oder durch ein Tuch bei Abendkühle, tat ihrem Herzen wohler als ihrem Körper. Seitdem Frau Annemarie das kleine, verwöhnte Nesthäkchen im Elternhause gewesen war – o Gott, wie lange, lange Jahre lagen dazwischen! – seitdem hatte sie als Gattin und Mutter stets für andere da sein müssen. Nun empfand sie die liebevolle Sorgsamkeit der jungen Enkelin doppelt wohltuend.

»Unser Kind«, nannten sie die beiden. Es kam ihnen nicht zum Bewußtsein, daß die Zwillingsschwester, die blühendschöne Anita, die trotz ihrer Jugend in dem Ostseebade in einer Schönheitskonkurrenz bereits den ersten Preis davongetragen, ihnen ebenso nahestand. Marietta war ihr Kind, die Erfüllung ihres Lebens.

An den linden Juliabenden saßen sie unter der blühenden Linde beisammen und machten »ihr Kind« mit den Werken der großen deutschen Meister bekannt. Da glühten Mariettas bleiche Wangen vor Begeisterung. Da vergaß der Großpapa das leise Ziehen in der Brust, das sich noch immer nicht ganz beruhigen wollte, die Großmama ihre bangen sich um den teuren Lebensgefährten drehenden Gedanken. Von früher erzählte die Großmama der lauschenden Enkelin, von dem gemütlichen Doktorhaus in Charlottenburg, in dem sie als kleines Nesthäkchen mit den Brüdern herumgetobt. Von dem eigenen Nest mit den munteren Küken. Nein, das konnte sich Marietta gar nicht vorstellen, daß der Onkel Hans, und vor allem die respekteinflößende Tante Vronli solche ausgelassenen Wildfänge gewesen waren. Von ihrer eigenen Mammi vermochte sie sich das noch am ersten zu denken, war diese doch stets die heitere, lachende Kameradin ihrer Kinder. Großmama erzählte ... Rosen und Linde dufteten. Ja, das war Deutschland, nach dem sie sich in den Tropen gesehnt.

Aber auch Marietta mußte erzählen. Von der Mammi mußte sie berichten. Immer wieder dasselbe. Nicht oft genug konnten die Großeltern es hören. Und dann pflegte die Großmama wohl mit unterdrücktem Seufzer zu sagen: »Man soll sich keine Zeit fort wünschen. Aber ich wollte doch, es wäre erst Herbst.«

Oft hatte Marietta es auf der Zunge, zu sagen, daß sie ein Telegramm nach Brasilien geschickt habe. Ganz schlecht kam sie sich vor, daß sie es vor den Großeltern verheimlichte. Aber sie wollte nicht eine Hoffnung entzünden, die sich vielleicht nicht verwirklichte. War das Telegramm doch ohne Antwort geblieben.

Die Großmama sorgte dafür, daß Marietta auch mit Altersgenossinnen zusammenkam, trotzdem die Enkelin ihr immer wieder versicherte, am schönsten sei es bei der lieben Großmama. Nein, ein junges Mädchen mußte herauskommen, das durfte nicht Tag für Tag bei alten Leuten sitzen. Noch dazu in den Ferien. Anita schrieb von der Waterkant, wo sie jetzt in Lüttgenheide beim Großonkel Klaus war, drollige Briefe über das Gutsleben. Im Mittelpunkt derselben stand Vetter Horst, zu dem sie eigentlich »Onkel« sagen sollte. Aber das fiel ihr gar nicht ein. Er war erst zwanzig Jahre alt, der jüngste von Onkel Klaus' vier Söhnen. Mit Vetter Horst, der seinen Urlaub gerade daheim verbrachte, ritt und segelte sie, spielte sie Tennis und Golf. Auch die Enkelkinder des Großonkels, die Kinder seines Sohnes Peter, der das Gut jetzt bewirtschaftete, nahmen daran teil. Ebenso die auf Grotgenheide aufwachsende jüngere Generation. Es war ein lustiges Leben an der Waterkant, nur Marietta fehlte Anita. Ob sie denn noch immer nicht Lust hätte, nachzukommen.

Auch die Großmama stellte diese Frage öfters. O ja, Lust hatte Marietta schon. Große Lust. Aber sie fühlte, wie froh ihre Gesellschaft die Großmama machte, daß der Großpapa viel weniger Grillen fing wegen seiner Krankheit, und daß er seine Praxis nicht ausüben konnte, wenn sie neben ihm saß. Nein, sie wurde nicht fahnenflüchtig. Sie blieb bei den Großeltern.

Mit Eberts, die in diesem Sommer nicht gereist waren, machte sie häufig Wanderungen in die märkischen Wälder mit ihren schwermütigen Seen. Da lernte Marietta den deutschen Wald in seiner geheimnisvollen Schönheit kennen und lieben. Onkel Georg war ein trefflicher Führer, der seine Begleiterinnen als begeisterter Wanderer auf alle Wunder der Natur aufmerksam machte. Mit Gerda verband sie bald eine warme Freundschaft. Gerda, das stille, zurückhaltende Kind, liebte die brasilianische Kusine, ohne daß sie davon viel Worte machen konnte. Während sie vor Anita eine geheime Scheu nicht überwinden konnte, da deren Schönheit und Eleganz, ihr selbstbewußtes Wesen sie stets bedrückte. Auch an Regentagen saß Marietta öfters in dem gemütlichen, aber einfachen Lehrerheim am Wedding. Drei Zimmer bewohnten die Verwandten nur, aber sie waren voller Behagen, sie trugen den Stempel ihrer vollwertigen Bewohner. Freilich, Anita hatte die Nase gerümpft über die Einfachheit bei Tante Vronli, daß sie sich nicht mal ein Mädchen hielten. Aber Marietta fand es dort urgemütlich. Besonders die großen, weißen Kachelöfen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, denn bei den Großeltern hatte man im Winter Zentralheizung. Es machte ihr Spaß, mit Gerda gemeinsam beim Onkel das ihr fehlende Schulwissen zu ergänzen, noch mehr, der Tante Vronli in der Wirtschaft zu helfen. Marietta, das verwöhnte Prinzeßchen aus dem Tropenlande, lernte bei der praktischen Tante spielend im Verein mit der Kusine den deutschen Haushalt und das Abc der Küche. Denn bei den Großeltern in Lichterfelde kam Marietta nicht recht zur Betätigung im Haushalt. Allenfalls half sie der Großmama Obst und Gemüse ernten und vorrichten. Sobald sie Frau Trudchen zur Hand gehen wollte, kam sicher Homer dazwischen und beteuerte, er werde das machen, Donna Marietta dürfe die zarten, weißen Hände nicht zur Arbeit gebrauchen.

Aber noch mehr lernte Marietta von Tante Vronli. Diese nahm sie mit in ihre Kleinkinderkrippen, in die Kinderhorte und Volksküchen. All die Wohltätigkeitseinrichtungen, in denen Tante Vronli unermüdlich wirkte, lernte die junge Brasilianerin kennen, und mehr als je regte sich in ihr der Wunsch, sich später einmal auf sozialem Boden zu betätigen, ihren Mitmenschen zum Segen zu werden.


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