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In lichten Flocken fiel der Schnee. Sonntäglich still. Leise, leise glitt er hernieder. Ein Silbersternchen nach dem anderen. Weich deckte er Rasen, Baum und Strauch. Die große Linde schaute aus ihrem Flockenpelz wie ein Schneeriese heraus. Das Gartenstaket trug eine weiße Hermelinmütze. Vor dem Erkerfenster des Biedermeierzimmers draußen in Lichterfelde türmte es sich zu einem weißen Samtpolster. Frauenaugen schauen sinnend in das weiche, stetige Silbergleiten hinaus. Frauenhände ruhten auf der im Schoß liegenden Arbeit.
Es waren keine jungen Augen, die da in das Schneetreiben hinaussannen. Es waren Augen, die schon viel im Leben gesehen hatten, Freud und Leid. Augen, die gelacht und geweint hatten, wie das Leben es so mit sich bringt. Und doch etwas Strahlendes lag noch heute in diesen blauen Frauenaugen. Nicht mehr der lustige Übermut der Jugend, nicht der Glücksausdruck des erfüllten Frauendaseins. Etwas Gütiges hatten die einst lachenden Augen bekommen, warmes Verständnis für alles. Das strahlte aus ihnen wider, gab ihnen etwas ewig Junges.
Leise, leise glitt der Schnee hernieder.
Wie lange diesmal der Winter anhielt. Sonst hatte Frau Annemarie im Februar bereits die ersten Schneeglöckchen gepflückt. Damals – sechzehn Jahre war es heute gerade her – als ihre Jüngste, ihre Ursel, das Elternhaus verließ, da blühten schon Veilchen und Krokus im Garten. Niemals hatte sie den Frühling so ersehnt wie in diesem Jahre. Und nie hatte er länger gesäumt. Würde er ihr doch endlich ein Wiedersehen bringen mit ihrem Kinde. Sechzehn Jahre – war es denn denkbar, war es möglich, daß sie die lachenden Augen ihrer Ursel so lange hatte entbehren müssen? Jedes Jahr, wenn der Schnee schmolz, hatte sie gehofft und gewartet – Jahr für Jahr. Stets war sie enttäuscht worden. Würde es diesmal wieder so sein?
Leise, leise fiel der Schnee.
Oft hatte sie den Entschluß gefaßt, den Bitten und Einladungen ihrer Kinder nach Brasilien zu folgen, die weite Reise ins Tropenland zu wagen, selbst nach ihrer Ursel zu sehen, sich von ihrem Glücke, von dem Briefe und Bilder erzählten, zu überzeugen. Damals, vor etwa sieben Jahren, als ihr Sohn besuchsweise nach Brasilien hinüberfuhr. O Gott, wie war es ihr damals schwer geworden, zurückbleiben zu müssen. Wie hatte sie geschwankt – überlegt – Entschlüsse gefaßt – wieder verworfen. Ihr Mann hatte es ihr in selbstloser Weise freigestellt, mit Hans hinüberzugehen. Frau Trudchen, ihr Faktotum, die schon an die zwanzig Jahre im Hartensteinschen Hause war, würde ihn gut versorgen. Auch Vronli, ihre Älteste, hätte in ihrer pflichttreuen, zuverlässigen Art oft nach dem Vater gesehen. Gar nichts würde er entbehren, hatte Rudi ihr oft genug, halb im Scherz, halb im Ernst versichert. Und doch – Frau Annemarie wußte das besser. Die wußte, wie eng verwebt sein Leben mit dem ihrigen war. Daß sein erster Blick morgens ihr galt, sein letztes Wort des Abends. Daß er ihr jeden Morgen mitteilen mußte, wieviel Grad das Thermometer draußen am Fenster anzeigte. Daß ihm der Kaffee nicht schmeckte, wenn sie ihn nicht eingoß, und nicht die Frühstücksbrötchen, die sie nicht bereitet. Ja, selbst die Zigarre mundete ihm nicht so richtig, schob sie ihm den Aschbecher nicht zu, sah er durch den kräuselnden Dampf nicht ihre Züge. Zu allem diesen war Frau Annemarie ihrem Manne unentbehrlich. Vor allem aber, um sich das Schwere, was sein ärztlicher Beruf so mit sich brachte, nach des Tages Mühen von der Seele sprechen zu können. Nein, sie konnte nicht fort von ihm. Ein gemeinsames, langes Leben hatte sie zu fest miteinander verknüpft.
Leise, still glitt Flocke um Flocke hernieder.
Es war nicht immer leicht gewesen, das Leben. Es hatte Sonnenschein und Regen gebracht, Sturm und Dunkelheit. Schwere wirtschaftliche Jahre waren zu überwinden gewesen. Die Zeiten der Millionen, Milliarden, ja des Billionentaumels, in denen die Nullen von Tag zu Tag wuchsen wie die Köpfe der Hydra. Wo man für ein Brot fast eine Billion zahlen mußte. Da waren auch über das Häuschen in Lichterfelde Sorgentage aufgezogen. Und doch – Frau Annemarie hatte den Mut niemals sinken lassen. Mit unverwüstlicher Zuversicht hatte sie auf bessere Tage gehofft. Unerschütterlich war ihre Lebensfreudigkeit, mit der sie das versorgte Grübeln ihres Mannes, seine Niedergeschlagenheit über Deutschlands wirtschaftlichen Verfall zu zerstreuen gewußt. Stets hatte sie noch etwas für andere übrig gehabt in den Tagen der allgemeinen Not, so wenig sie auch selbst manchmal besaß. In den Notstandsküchen hatte sie das Essen an die Hungernden verteilen helfen; unterernährte Kinder hatte sie an ihren Tisch genommen. Suchte ihr Mann etwas von seinen nicht mehr tadellosen Sachen, so konnte er sicher sein, daß Frau Annemarie es an irgendeinen Frierenden verschenkt hatte. »Laß mir nur das Hemd, das ich auf dem Leibe trage, Frauli«, hatte Rudolf oft genug halb im Scherz, halb im Ernst geäußert. Ihre Zuversicht, ihr hoffnungsvolles Vertrauen hatte nicht getrogen. Die schweren Zeiten waren vorübergezogen wie ein böses Unwetter, das wohl seine zerstörenden Spuren hinterläßt, aber nach dem man doppelt wohlig geordnetere Zustände empfindet.
Immer noch fiel draußen Flocke um Flocke, still, leise. Frau Annemaries Hände griffen nach der im Schoße ruhenden Strickarbeit von leuchtendem Grün. Ein Rodelanzug für den jüngsten Enkel sollte es werden. Für eine stattliche Enkelschar hatte sie die fleißigen Hände zu regen. Hansis Quartett, zwei Mädel, zwei Jungen, brauchten bald Strümpfchen, bald Gamaschen oder gar Rodelanzüge. Auch Vronlis Gerda, obgleich sie schon größer war, hatte allerlei Anliegen an das stets gütige Herz der Großmama und an ihre fleißigen Finger. War es nun eine warme Strickbluse oder eine Geburtstagsarbeit für die Mutter, die keiner so hübsch und praktisch einzurichten wußte wie Großmuttchen. Die kleinen Mädchen lernten den ersten Seiflappen bei ihr stricken, während die schönsten, lustigsten Märchen zur Belohnung erzählt wurden. Oft mußte Frau Annemarie daran denken, wie sie selbst als kleines Nesthäkchen die schwierige Kunst des Strickens im Schweiße ihres Angesichtes an der Seite ihrer Großmama nie zu erlernen geglaubt hatte. Nun war sie Meisterin. Ihr zu Füßen saßen die kleinen Enkelinnen und lernten von ihr. Silberfäden schlangen sich durch ihr Blondhaar. Ein Kommen und Gehen der Generationen – endlos. Und ein jeder hielt sich selbst für das wichtigste Glied der langen Kette.
Draußen sank Flocke um Flocke. Drinnen schlang sich Masche an Masche – Gedanke an Gedanke. Alle hatte sie an ihr zärtliches Großmutterherz nehmen können, all die Enkelchen. Auf ein jedes nach seiner Art machte sie ihren liebevollen Einfluß geltend. Gerda war mit ihren dreizehn Jahren schon heute ein kleiner Schulmeister und Pedant. Die schweren wirtschaftlichen Jahre, die das Kind mit durchlebt, hatten es frühreif und vorzeitig verständig gemacht. Da galt es holden leichtbeschwingten Jugendfrohsinn einzublasen, von dem die Großmutter heute noch mehr besaß als die junge Enkelin. Hansis Älteste, die neunjährige Lilli, war gerade das Gegenteil davon. Verspielt und vorläufig noch ohne jeglichen Ernst für die Schule. Der Hansi, ihr Vater, hatte es ja auch niemals allzuschwer mit den Anforderungen der Schule genommen. Lillis noch gänzlich schlummerndes Pflichtgefühl zu wecken, hatte sich die Großmama als Aufgabe gestellt. Evchen, die sechsjährige, war ein kleiner Eigensinn, mit dem keiner was anzufangen wußte, selbst die eigene Mutter nicht. Nur die Großmutter verstand es, das Trotzköpfchen zu brechen. Und die beiden Kleinen, die Buben, so süß sie waren, ihr redliches Teil Ungezogenheit und Rangenhaftigkeit hatten sie schon heute. Ein etwas ernsteres Wort von der stets gütigen Großmama wirkte da tausendmal mehr, als eine ganze Strafpredigt der Eltern.
Alle hatte sie, fast von dem ersten Atemzug an, in ihre treue großmütterliche Obhut nehmen können, die Enkel. Nur die Kinder ihrer Jüngsten, Ursels drei, die waren ihr fern. Fern und fremd. Zwar erzählten Ursels Briefe hauptsächlich von ihnen und von der Eigenart eines jeden Kindes. Zwar kamen oft Bilder, die zeigten, wie sie sich körperlich entwickelten, was für kleine Schönheiten die Zwillinge zu werden versprachen. Aber innerlich blieben sie ihr fremd, die zwei, die ihren Namen trugen. Anita fügte nur selten einen Gruß an die fremden Großeltern an. Ihre Schreibweise war fehlerhaft, ihre deutschen Worte klangen kühl und eingelernt. Mariettas Zeilen verrieten mehr Wärme. Sie sprach den Wunsch aus, die Großeltern und die deutsche Heimat der Mutter kennenzulernen. Aber auch hier berührte die Großmutter, die zwischen den Zeilen nach einem Zusammenhang mit den Kindern ihrer Ursel suchte, vieles fremd. Da war alles so anders, da drüben im Tropenland. Wovon Marietta berichtete, und was ihr wichtig war, erschien der deutschen Großmutter nichtig und äußerlich. Zwei Seiten des Schreibens handelten von dem Sportpreis, den Anita beim Fußballwettspiel errungen. Fußball war gut für die Jungen, nicht für die Mädchen. Von Vergnügungen, Einladungen, von Tennisturnieren und Autofahrten erzählten die Briefe. Luxus und Eleganz atmeten sie. Die Schule wurde, wenn überhaupt erwähnt, so nebenbei abgetan. »Der Ernst der Arbeit und der Verantwortung, den auch junge Menschen schon haben müssen, fehlt den Kindern. Das scheint halt ein Gewächs zu sein, das in den Tropen nimmer gedeiht«, hatte sich ihr Mann in seiner geraden Weise, die keine Umschweife kannte, über die Briefe der fernen Enkelkinder geäußert. Und was hatte Frau Annemarie getan? Sie hatte sie in Schutz genommen, die Kinder ihrer Ursel. Ihr beredter Anwalt war sie geworden. Sprach nicht aus Mariettas Zeilen die innige Liebe für die Mutter? Hatte Anita nicht bei dem letzten Musikabend schon die zweite Geige gespielt? Das erforderte doch ernstes Studium. Und waren sie nicht die Kinder ihres Kindes? Fleisch und Blut von ihrem Blute? Wenn sie nur erst nach Berlin kämen, dann würde man schon die Auswüchse, die das exotische Leben in den Tropen hatte emporwuchern lassen, mit liebevoller Einsicht zurechtstutzen. Wenn sie nur erst hier wären!
Wenn sie nur erst hier wären! Kaum verging ein Tag, wo Frau Annemarie das nicht ausgesprochen, gewünscht, oder auch nur unbewußt empfunden hatte.
Nein, es war noch lange nicht so weit. Draußen schneite es noch immer, Flocke um Flocke. Ehe die großen Frühlingsstürme im Ozean nicht vorüber waren, konnten sie nicht an die Überfahrt denken.
Mit leisem, unterdrücktem Seufzer griff Frau Annemarie nach dem großen Familienrahmen auf dem weißen Häkeldeckchen des Nähtisches. Die letzten Bilder aus Brasilien zeigte er. Da war zuerst der Kleinste, der Hansel. Ihn Juan zu nennen, dazu konnte sich auch Frau Annemarie nicht entschließen. Ihr Mann hatte schon zu sehr auf sie abgefärbt. Ein liebes Kerlchen, allerdings etwas zart schien er. Hansis beide Buben waren aus derberem Stoff. Aber blond und blauäugig wie seine Mutter. Das war ihre Art. Hier die Zwillinge nach einem Tennisturnier. Anita mit blitzenden Augen. Bei all ihrer lebensprühenden, jugendkräftigen Schönheit fremd – nichts, gar nichts Bekanntes grüßte die Großmutter aus dem blühendschönen Gesicht der Enkelin. In jedem Zuge war sie eine Tavares. Und Marietta? Weichere, zartere Züge, der Mund erinnerte vielleicht an die Mutter. Aber das Auge, das der Spiegel der Seele war, dunkel, tiefschwarz. Unergründlich blickte es Frau Annemarie entgegen. Auch hier suchte die Großmutter vergeblich das Kind ihres Kindes. Über Miltons kühn geschnittenes Gesicht, das gereift und männlicher erschien, als wie sie es in der Erinnerung hatte, glitt ihr Blick schneller hinweg. Er war ihr Sohn, er machte ja ihr Kind glücklich – und doch nicht ihr Sohn. Fern und fremd war er ihr geblieben, trotzdem er keinen Brief Ursels ohne seine Grüße abgehen ließ. Trotzdem Frau Annemarie sich redlich Mühe gab, mit ihrem warmen Herzen mütterlich für ihn zu empfinden. Hatte sie recht getan, daß sie damals vor sechzehn Jahren, mit all ihrer Energie, mit all ihrem liebevollen Einfluß bei ihrem Manne für die Wahl ihrer Tochter eingetreten war? Oh, es gab Stunden, wo Frau Annemarie ganz und gar nicht davon überzeugt war. Wenn die Sehnsucht nach ihrer Jüngsten sie gar zu arg übermannte, dann hatte sie sich manches Mal gefragt, ob sie nicht hätte abreden sollen, versuchen, auf Ursel einzuwirken. Sie war ja noch so jung, sie hätte diese erste Enttäuschung überwunden und vergessen, sie hatte ja ihre Kunst. Aber nein – eine Mutter durfte nicht egoistisch sein. Ursel war glücklich geworden; ja, es waren die Züge einer glücklichen Frau, die Frau Annemarie jetzt wohl schon zum hundertsten, zum tausendsten Male studierte. In jedem Zuge um die Mundwinkel, in jedem Ausdruck der Augen der verschiedenen Bilder forschte die Mutter – nein, ihre Ursel hatte das Glück in der Ferne gefunden.
Die Tür knarrte. Ihr Mann betrat das Zimmer. »Ei freilich, dacht ich mir's doch, daß du mir wieder mal nach Brasilien entschlüpft bist, Fraule. Dein armer Mann kann sehen, wo er inzwischen bleibt.«
Frau Annemaries Lachen klang noch immer hell und von Herzen kommend. Es war ein junges Lachen, das die Silberfäden in ihrem Haare Lügen strafte.
»Rudi, wenn ich dir heute nicht nach Brasilien entwischen sollte – weißt du gar nicht, was heute ist? Der 12. Februar – heute vor sechzehn Jahren – – –.« Ihre Stimme wurde leiser.
»Hättest dir's halt damals überlegen sollen, Alte. Aber ich mein', die längste Zeit hat's jetzt gedauert, die Trennung. Unser Herr Schwiegersohn muß nachgrade daran denken, daß die Leute jenseits des großen Wassers auch nicht ewig leben. Wer weiß, wie lange dieser Kadaver noch zusammenhält.«
»Nun – nun, es ist solide Arbeit, Rudi«, tröstete seine Frau lächelnd.
»Meinst, Fraule? Es wird einem doch jetzt nimmer mehr so leicht wie früher. Da hat man die Arbeit spielend bewältigt. Aber jetzt – bald zuckt's und zwickt's in den Beinen, bald in den Armen. Die Augen fangen an zu streiken und das Cor will auch nicht mehr so recht.«
»So ein Hypochonder!« begann Annemarie zu schelten. »Was hast du dich um dein ›Cor‹ zu kümmern? Dein Herz gehört deiner Frau. Und wenn's der noch gut genug ist, wirst du ja wohl auch damit zufrieden sein müssen.« Trotz ihrer munteren Rede sandte Frau Annemarie heimlich einen besorgten Blick zu dem im Zimmer Auf- und Abschreitenden hin. Er war entschieden in den letzten Jahren gealtert. Das Haar war ergraut, es hatte sich gelichtet. Seit seiner Ernennung zum Geheimrat hatte er sich die dazu gehörenden Geheimratsecken angeschafft. Sein Gang war nicht mehr so forsch wie früher. Er war langsamer, ja, wie er so im Zimmer mit den Händen auf dem Rücken einherging, sogar etwas schleppend geworden. Der Kopf war nach vorn geneigt, wie bei Menschen, die viel denken oder an starker Kurzsichtigkeit leiden. Die schweren Jahre, die man durchlebt, sein aufopferungsvoller Beruf, dem er mit Leib und Seele ergeben, hatten ihre Spuren zurückgelassen. Und doch, er sollte nicht alt werden, ihr Mann, ihr Rudi. Er, der so vielen geholfen, er sollte dem Tribut fordernden Alter nicht ausgeliefert sein. Er durfte nicht morsch werden, ihr nicht abbröckeln.
Frau Annemaries Blick, der dem Gatten folgte, mußte wohl ihre Gedanken verraten. Noch immer hatte sie es nicht gelernt, ihr Denken und Fühlen zu verbergen. Und vor ihm, der sie besser kannte, als sie sich selbst, am wenigsten.
»Nun, du schaust ja drein wie eine trauernde Wittib, Herzle. Kannst dir's halt noch ein bißle aufsparen, noch ist's nimmer so weit. Eh' ich das Ursele nit nochmal wiedergesehen hab', geh' ich halt nit. Den Kontrakt hab' ich mit unserem Herrgott abgeschlossen.« Und dann, als ob er sich der weichen Regung schämte, begann er ganz unvermittelt zu poltern: »Ja, gibt's denn heut' keinen Kaffee nit? Halb fünf ist's. Nachgrade könnten sie hier sein, mein' ich. Es gehört sich, daß die Kinder sich nach den Gewohnheiten der Eltern richten, nit umgekehrt. Dann müssen's halt den Kaffee kalt trinken.«
»Alter Brummbär! Das kommt davon, wenn eine junge Frau einen alten Mann heiratet!« Auch Frau Annemarie hatte ihre sentimentale Anwandlung überwunden. »Frau Trudchen kann dir eine Tasse Kaffee hereinbringen. Obgleich Eberts pünktlich sind mit dem Glockenschlage. Oder sie müßten gerade im Schnee steckengeblieben sein. Halt – klingelt's da nicht? Das sind sie sicher.«
Kurz darauf klopfte es. Frau Trudchen erschien, sauber, rundlich und appetitlich, »'s Telephon: Herr Geheimrat möchten doch gleich nach der Schloßstraße kommen zu Reißmüllers, der Kleine ist krank. Dolle Schmerzen im Leib hat er – wird woll Blinddarm sein.« Frau Trudchen, die vor mehr als zwanzig Jahren ihre Laufbahn als junges Stubenmädel im Hartensteinschen Hause begonnen, war selbst schon ein halber Doktor. Sie hatte später den Klinikdiener Kunze, der eigentlich gelernter Gärtner war, geheiratet. Nun besorgte das Kunzesche Ehepaar Wirtschaft, Garten und Klinik in der Hartensteinschen Familie.
»Ach, Rudi, mußt du denn wirklich bei diesem Schneewetter fort? Und gerade am Sonntagnachmittag, wo die Kinder den weiten Weg herauskommen. Können sie sich denn nicht einen Arzt aus der Nähe holen?«
Ihr Mann gab keine Antwort, denn er war bereits am Telephon.
»Lassen Se man, Frau Jeheimrat, was unser Jeheimrat is, der hört ja doch nich. Der nimmt ja doch keine Vernunft nich an. Jrade so wie mein Kunze. ›Kunze,‹ sag ich oft zu ihm, ›du bist ja doller als unser Jeheimrat.‹ Ich werde ihm man noch fix 'ne Tasse heißen Kaffee reinholen.« Ehe noch Frau Trudchen mit ihrem Kaffee zurückkam, steckte der Geheimrat eiligst den Kopf zur Tür herein. Er war bereits im Pelz.
»Grüß die Kinder, Annemie. Kunze soll sich bereit halten. Möglich, daß ich heute abend noch operieren muß.« Fort war er.
Frau Annemarie sah ihm nach, wie er eiligst durch die Schneewege stapfte. Da war nichts mehr von Müdigkeit, von irgendwelchen Anzeichen des herannahenden Alters. Forsch wie der Jüngste eilte er davon. Sobald die Pflicht rief, wußte Rudolf Hartenstein nichts mehr von eigenen Beschwerden.
Und Frau Annemarie, die oft eifersüchtig auf die Praxis gewesen, dachte jetzt: »Es ist doch gut, daß er so mit Leib und Seele seinem schweren Beruf hingegeben ist. Das erhält ihn frisch.« Ihre liebevollen Gedanken gaben ihm durch das Schneewetter das Geleit, als ob sie ihn wärmen könnten.