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Bei Gerda Ebert hatte die Ankunft der brasilianischen Kusinen große Aufregung und Erwartung verursacht. Das stille, ruhige Mädel war wie ausgetauscht. Der Mund stand keinen Augenblick still. Bald wollte sie von der Mutter wissen, wie sie aussähen, bald, ob sie im Rechnen und Französisch wohl schon weiter wären als sie. Ob sie größer seien, ob sie Deutsch verstünden, oder ob man mit ihnen »brasilianisch« reden müsse.
»Mädel, du bist doch das reine Fragezeichen heute«, lachte sie die Mutter aus. »Es ist nur gut, daß morgen schon Sonntag ist, da wird ja deine Neugierde befriedigt werden.« Dabei wünschte Frau Vronli den Sonntag genau so herbei, wie ihr Töchterchen. Sie konnte die Zeit nicht erwarten, wo sie die Kinder ihrer Schwester Ursel zum erstenmal in die Arme schließen sollte.
Gerda hatte noch sehr viel bis dahin zu tun. Die saß über ihren Schulatlas gebeugt und lernte, daß ihr der Kopf rauchte, Geographie von Brasilien. Denn vor den älteren Kusinen mochte sie sich keineswegs blamieren. Sie mußte in deren Heimat gut Bescheid wissen.
Und nun war endlich der ersehnte Sonntag da. So blau, so sonnengolden, wie er nur in die staubigen Berliner Straßen schauen konnte. Zum erstenmal legte Gerda Wert darauf, ein schönes, weißes Kleid anzuziehen. Sonst trug sie lieber praktische Musselinkleider, die nicht schmutzten.
Draußen in Lichterfelde war man weniger erwartungsvoll. Anita und Marietta legten dem Besuch der neuen Verwandten keinen besonderen Wert bei. Sie hatten ja in Brasilien Onkel und Tanten genug. Die europäischen würden auch nicht anders sein. Und daß man Kaffeebesuch erwartete, daß Frau Trudchen einen großen Kuchen gebacken hatte, wie Lottchen strahlend erzählte, machte noch weniger Eindruck auf sie. Daheim in Sao Paulo hatte man täglich Besuche empfangen, war das Tavaressche Haus doch der Mittelpunkt der dortigen Geselligkeit. Die Kinder kannten es gar nicht anders, als daß man Gäste im Hause hatte. Und Kuchen? Den gab's zu allen Tageszeiten dort. Dafür sorgten die Mulattenköchinnen. Nein, das konnte den beiden nicht imponieren.
Und doch, hier war es anders. Ganz anders. Schon am Vormittag unterhielten sich der Großpapa und die Großmama angelegentlich darüber, ob das Wetter wohl beständig sei, ob man es wagen könnte, den Kaffeetisch heute im Garten unter der großen Linde zu decken. Dann schleppte der Großpapa eigenhändig mit Kunze Tische herbei, die zu einer langen Tafel zusammengestellt wurden. Anita rümpfte das Näschen. Das war Bedientenarbeit – warum ließ der Großpapa nicht Homer das machen?
Noch mehr mußte sie sich am Nachmittag wundern. Die Großmama zog sich nicht, wie sonst, gleich nach Tisch zum Ruhestündchen in das Biedermeierzimmer zurück. Sie ging an ihren Wäscheschrank und holte eine lustigbunte Kaffeedecke für die lieben Kinderchen heraus. Die breitete sie eigenhändig über die Gartentafel. Mit großen Augen schauten die beiden Enkelinnen zu. Deckte Frau Trudchen nicht den Kaffeetisch?
»Nun, meine Mädel, wollt ihr eurer alten Großmama nicht ein wenig zur Hand gehen?« fragte die Großmama. Und ohne erst eine Antwort abzuwarten, fuhr sie munter fort: »Stelle die Tassen herum, Jetta. Für fünfzehn Personen wollen wir decken. Lottchen soll heute am Sonntag auch mit uns Kaffee trinken. Die bunten Täßchen mit den Blümchen und Püppchen nach unten, die sind für die Kleinen. Nun Kuchenteller hinter jede Tasse gesetzt. Siehst du, das machst du ganz nett. Nita, lege Teelöffel auf jedes Gedeck und Servietten. Und dann könnt ihr beide den Tisch recht hübsch mit Blumen schmücken, das macht euch doch gewiß Spaß.«
Anita sah nicht danach aus, als ob ihr die ihr zugedachte Beschäftigung Spaß bereiten würde. Die lag in der Prallsonne im Liegestuhl und kraute Jimmy, der ebenso faulenzend in die Sonne blinzelte wie seine Herrin. Dabei streifte ihr Blick unmutig die Schwester, die sich bemühte, den Wünschen der Großmama nachzukommen. Jetzt richtete sie sich ein wenig aus ihrem Faulenzerstuhl auf und rief Marietta in verweisendem Tone auf portugiesisch etwas zu. Sofort ließ die Schwester den Gartenstuhl, den sie gerade vor ein Gedeck setzen wollte, stehen, wurde rot und blickte unschlüssig auf die Großmama.
Die tat, als hätte sie das Zwischenspiel nicht bemerkt. »Nun, ist mein Jettachen müde?« fragte sie lächelnd. »Alte Hände leisten doch noch mehr als junge.« Damit schickte sie sich an, eigenhändig die Stühle von der Terrasse herabzuholen.
Wie der Wind war Marietta neben ihr. »Nicht die liebe Großmama, ist zu schwer. Nita und Jetta werden tun es.«
»Ja, wenn ihr es mir abnehmen wollt, lege ich mich noch ein halbes Stündchen aufs Ohr. Aber Nita scheint ja keine Lust zu haben, ihrer Großmama zu helfen.« Sie blickte mit ihren gütigen, klaren Augen fragend auf die Faulenzende.
»Ist Arbeit für Homer. Soll kommen, tun es«, gab diese mit unbehaglichem Achselzucken zur Antwort.
»Homer hilft Frau Trudchen das Mittagsgeschirr überseite bringen. Fünfzehn Personen zum Kaffee und Abendbrot, das ist keine Kleinigkeit, Kind. Da muß ein jeder mit Hand anlegen. Die Gute weiß ja sonst gar nicht, daß Sonntag ist.«
Anita sah die alte Dame groß an. In Brasilien hatte man nie daran gedacht, irgend etwas selbst zu tun, damit die Dienerschaft auch wisse, daß Sonntag sei. Das war ihr ganz neu.
»Donna Trudchen ist da für arbeiten – – – –.«
»Und du zum Faulenzen, was, Anita? Glaubst du wirklich, daß der liebe Gott die einen Menschen zum Arbeiten und die andern zum Nichtstun erschaffen hat? Jeder Mensch hat den Platz auszufüllen, der ihm im Leben angewiesen ist. Jeder hat die Verpflichtung, selbst mitzutun auf der Bühne des Lebens und nicht nur müßig als Zuschauer danebenzusitzen.« Dabei trug die alte Frau Stuhl um Stuhl herbei.
Marietta nahm ihr dieselben ab. Sie schämte sich vor der Großmama ihres Nichtstuns und vor Anita der untergeordneten Arbeit, zu der im Tropenlande Farbige verwendet wurden. Es war ein Zwiespalt in der Seele des jungen Mädchens, wie schon öfters hier in Europa. Erst als der letzte Stuhl an der Tafel stand, zog sich die Großmama zurück. »Marietta, nun kannst du dem Prinzeßchen sagen, daß einem kein Stein aus seiner Krone fällt, wenn man auch die Hände regt. Jetzt überlasse ich euch noch den Blumenschmuck. Überrascht mich mal mit eurem guten Geschmack.« Die Großmama nickte den beiden freundlich zu, als ob Anita nicht soeben erst wieder aufsässig gewesen wäre. Die kluge Frau hielt es für richtig, derartige Vorkommnisse nach Möglichkeit zu ignorieren.
»Was meinst du, Nita, soll ich Flieder in die Vasen füllen oder Goldlack? Vergißmeinnicht paßt eigentlich noch besser zu der Kaffeedecke?« überlegte Marietta in ihrer Heimatssprache.
»Bunte Anemonen, von dem Beet dort, ganz bunt durcheinander, das ist beinahe so schön wie bei uns in Brasilien.« Anita war auch in bezug auf Geschmack ausschlaggebend für die Zwillingsschwester. Sie wußte ganz genau, was jeder von ihnen stand und was nicht.
»Ja, Anemonen – bunte Anemonen sind lustig.« Eifrig brachte Marietta Vasen und eine Schere herbei und machte sich daran, die schönsten Exemplare zu schneiden. Ihr zartes Gesichtchen färbte sich vor Eifer.
Anita sah ihr abfällig zu. »Das ist keine Arbeit für uns. Dazu gehören Gärtner, wie bei uns in Sao Paulo.«
»Aber es macht Freude, Nita, wirklich! Versuche es nur mal«, redete Marietta ihr zu.
»Ich tue keine Bedientenarbeit. Ich denke überall, auch im fremden Lande daran, daß ich eine Tavares bin.« Anita warf stolz ihre schwarzen Locken zurück.
Still tat Marietta ihre Arbeit weiter. Sie hatte plötzlich die Freude an der lustigen Beschäftigung verloren. Wie kam es nur, daß sie hier in Europa viel öfter als daheim entgegengesetzter Meinung war als Anita? Daß ihr deren Aussprüche hochmütig und herzlos, ja, oft sogar dumm erschienen? Sie waren doch in Brasilien ein Herz und eine Seele gewesen. Ja, wenn die Mammi dagewesen wäre! Die würde ihr sicher aus dem Zwiespalt der Gefühle, in dem sie sich nicht zurechtfand, den Weg weisen. Sollte sie sich damit an die Großmama wenden? Die Gütige würde helfen. Aber Marietta mochte Anita nicht anklagen.
»Jetta, du machst ja ein Gesicht wie unsere holdselige Miß, wenn sie Migräne hat«, lachte Anita plötzlich laut auf. »Jimmy, sieh dir doch mal die Jetta an. Komm, streichle sie!« Mit einem geschickten Schwunge warf sie das Äffchen über ihre Schulter hinweg, Marietta zu. Die schrie laut auf vor Schreck. Sie hatte noch immer keine besonderen Sympathien für den kleinen Vierhänder, wenn sie sich auch an ihn gewöhnt hatte. Die Vase, die sie in den Händen hielt, kippte um. Das Wasser ergoß sich über Großmamas hübsche Kaffeedecke. Marietta, starr vor Schreck, fing an zu weinen, während Jimmy mit flinkem Züngelchen die Überschwemmung aufzulecken begann. Anita hielt sich die Seiten vor Lachen.
»Brav, Jimmy, brav!« rief sie übermütig.
Die beiden hatten in dem Tumult das Knarren der Gartentür vollständig überhört. Erst als Schritte näherkamen, als eine Männerstimme rief: »Da hätten wir ja die beiden Tropenpflänzchen«, als eine schlanke Dame die lachende Anita in ihre Arme zog und herzlich küßte, sahen sie, daß der erwartete Besuch bereits da war.
Anita wandte unbehaglich den Kopf zur Seite. »Bitte, nicht küssen die Mund, nur Wangen«, sagte sie, denn so war sie es von Brasilien her gewöhnt.
»Nun, mein Mädel, ich bin die Schwester eurer lieben Mutter, Tante Vronli, der werdet ihr schon einen richtigen Kuß gestatten müssen«, sagte die Dame und zog jetzt ohne weiteres die weinende Marietta in die Arme. Der wurde es warm ums Herz bei der herzlichen Begrüßung, während Anita den einfachen Anzug der Tante ziemlich geringschätzig musterte. Da sah ihre schöne Mutter doch ganz anders aus. Kaum denkbar, daß die beiden Schwestern waren. Auch der Onkel mit seinem langen, schwarzen Rock und der goldenen Brille sah merkwürdig aus. Die junge Amerikanerin fand ihn durchaus nicht gentlemanlike. Und einen Bart trug er! In Amerika trug kein Herr einen Bart. Seine Haltung war nach vornüber geneigt, sicher trieb er keinen Sport.
Gerda hatte sich während der ersten Begrüßung schüchtern hinter den Vater gehalten. So war sie. Sie hatte die Minuten bis zu dem ersten Zusammensein mit den brasilianischen Kusinen gezählt – und nun, da sie leibhaftig vor ihr standen, hätte sie sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Sie waren auch ganz anders, als sie sich dieselben vorgestellt hatte. Die eine so groß, so überlegen, und allebeide so schön und so elegant. Die mit den schwarzen Locken in dem orangefarbenen Seidenkleid schaute aus wie eine Prinzessin. Die andere Goldbraune in mattblauer Seide gefiel Gerda eigentlich noch besser. In stummer Bewunderung stand sie da. Da schob sie ihr Vater einen Schritt vorwärts.
»Na, die Sprache verloren, Gerda? Komm, mach dich mit deinen Kusinen bekannt. Du konntest die Zeit ja gar nicht erwarten.«
Gerda wurde rot, weil der Vater dies so unverhohlen mitteilte. Dann trat sie mit schnellem Entschluß auf Marietta zu, denn diese flößte ihr mehr Zutrauen ein. »Guten Tag,« sagte sie, »ich bin Gerda Ebert. Wir sind Kusinen«, fügte sie noch hinzu, da Marietta sowohl wie Anita stumm blieben.
Frau Vronli sah den Zug der Enttäuschung um Gerdas Mundwinkel. Das Kind, das mit all seinen warmen Gefühlen keinen Widerhall in der Brust der fremden Kusinen zu wecken vermochte, tat ihr leid. Sie kam ihm zu Hilfe. »Nun, Kinder, wie gefällt es euch denn bei uns in Europa?« vermittelte sie die Unterhaltung.
»Gar nicht«, hätte Anita am liebsten geantwortet. Aber gesellschaftlich liebenswürdig, wie sie Fremden gegenüber war, neigte sie das Köpfchen und sagte nur: »Oh, danke, ein bißchen gut.«
»Nun, das klingt nicht sehr verheißungsvoll, darauf kann Europa nicht stolz sein.« Der Oberlehrer lachte dröhnend. Anita fand sein lautes Lachen unfein. »Und du, Marietta?« wandte er sich fragend an Nummer zwei.
»Oh, ich finde Europa gut, sehr gut. Ich liebe deutsche Land und kleines Haus und liebe Großeltern«, sagte Marietta warm. Dabei kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie schon wieder mit ihrer Ansicht im Gegensatz zu Anita stand. Aber sie hatte nicht Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen. Denn Tante Vronli hatte sie noch einmal an ihr Herz gezogen. »Mein Kind, mein liebes – du gleichst doch meiner Ursel!« sagte sie leise. Und dann fuhr sie in ihrem gewöhnlichen Ton fort, denn derartige weiche Regungen pflegte die tatkräftige Frau nicht oft zu zeigen: »Mir war schon recht bange nach euch, Kinder. Ich wäre gern schon in der Woche mal herausgekommen. Aber ich hatte gerade besonders viel mit meinen Armen zu tun. Wir haben eine neue Küche zur Speisung von notleidenden Kindern eingerichtet.«
»Brav, Marietta, das ist eine gute Vornahme für dein zukünftiges Leben.« Freundlich strich Tante Vronlis kräftige Hand über das weiche goldbraune Haargelock der jungen Nichte. »Ihr besucht mich in der nächsten Woche, und dann nehme ich euch und Gerda mit zur Kinderspeisung.«
»Aber wir wohnen weit, sehr weit«, fügte Gerda hinzu. »Fennstraße, am Weddingplatz, das ist über eine Stunde Weg.«
»Eine Stunde Weg ist nicht weit – ist sehr nah«, sagte Anita, die an amerikanische Entfernungen gewöhnt war. »Kann man nehmen Auto oder reiten.«
»Auto fahren – reiten?« Gerda schaute die Kusine an, als ob sie ein Wundertier vor sich sähe. Eines erschien ihr so undenkbar wie das andere. Das an größte Sparsamkeit gewöhnte Kind war niemals in seinem Leben Auto gefahren, und reiten – »hahaha« –, Gerda lachte plötzlich hell auf. »Anita will zu uns nach dem Weddingplatz reiten – hahaha«, sie konnte sich gar nicht beruhigen.
»Was gibt es da zu lachen?« fragte Anita stirnrunzelnd. Aber als sie sah, daß auch der Onkel und die Tante lachten, fügte sie bekräftigend hinzu: »Ich werde kommen angereitet bestimmt. Man kann reiten in Weddingplatz ebenso wie in Sao Paulo.«
»Es ist nicht Sitte, Kind, daß junge Mädchen dort zu Pferde sind. Du würdest in unserer Gegend Aufsehen erregen«, erklärte ihr der Onkel, immer noch mit dem Lachen kämpfend.
»Reitet ihr denn überhaupt hier in Deutschland?« verwunderte sich Tante Vronli.
»Wir werden reiten. Großpapa muß erlauben es. Wir haben telegraphiert nach Sao Paulo an Eltern«, sagte Anita mit Bestimmtheit und warf zum Überfluß die schwarzen Locken in den bräunlichen Nacken.
»Ei,« dachte die erfahrene Frau, »ei, so ganz einfach scheint ja der Verkehr und noch viel weniger die Erziehung bei diesen exotischen jungen Damen nicht zu sein. Ob die alten Eltern, die an ihr stilles, beschauliches Leben gewöhnt sind, dem überhaupt gewachsen sind?«
Inzwischen hatte sich Gerda an Marietta, die ihr besonders gefiel, gewandt. »Warum hast du vorhin geweint?« fragte sie. »Hattest du Heimweh?«
»Heimweh?« Die junge Brasilianerin wußte augenscheinlich mit diesem Wort nichts anzufangen. »Weh heim?«, sie schaute fragend auf Anita.
»Amerikanerinnen haben kein Weh heim«, sagte diese kühl. »Amerikaner sind in ganzer Welt daheim. Nicht wahr, Jimmy?« Sie fragte es irgendwo in das Lichtgrün der Linde hinein. Da kam es mit einem Satz daraus hervor, etwas Bräunliches, Haariges, Springendes – auf die Schulter der gerade unter dem Ast stehenden, laut aufkreischenden Gerda setzte es, und von dort mit einem weiteren Schwung auf den Schoß seiner jungen Herrin. Diese nahm den braunhaarigen kleinen Gesellen liebevoll in die Arme und lachte – lachte das arme Kusinchen, das vor Schreck zu weinen begann, übermütig aus. Die Schwester aber schlang mitleidig ihren Arm um die Weinende.
»Der abscheuliche Jimmy – ich nicht liebe ihn auch – er tut dir nichts, weine nicht, arme Gerda – Anita wird tun Jimmy in Gefängnis – ja, Nita?« Bittend wandte sich Marietta an die Schwester.
»Weil deutsche Mädchen ist angst, mein armer Jimmy soll in Gefängnis? Das nicht wir tun, nicht wahr, Jimmy?« lachte Anita sie aus und streichelte Jimmy. Der warf tückische Blicke auf Gerda, als wüßte er, daß sie die unschuldige Ursache zu seiner geplanten Freiheitsberaubung sei.
Gerda faßte Mariettas Hand und drückte sie dankbar. »Du bist gut!« sagte sie leise. In diesen drei Worten lag ein vernichtendes Urteil für die andere Kusine.
Die feinfühlende Marietta empfand das. Und gleichzeitig kam ihr ein beklemmendes Gefühl der Treulosigkeit, daß sie hier Hand in Hand mit der fremden Kusine stand, im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester. Und doch konnte sie Anitas Verhalten nicht gutheißen. Sie war wieder in dem Zwiespalt, in dem sie sich heute schon einmal befunden.
Helle Kinderstimmen rissen sie aus ihrer Überlegung und kündigten die Zehlendorfer an. Da waren sie auch schon. Allen voran Edchen.
»Wo ist er – wo ist der Affe? Heini will den bendigen Affen sehen. Wo ist der Mohr aus dem Struwwelpeter?« Edchen und Klein-Heini überschrien sich.
»Da ist Affe.« Anita machte sich den Spaß, Jimmy von ihrem Schoß auf den Rasen gleiten zu lassen. Aber schreiend nahmen die kleinen Helden Reißaus, ähnlich wie ihre große Kusine Gerda. Die kleinen Mädchen Lilli und Evchen wagten sich überhaupt nicht näher. Die versuchten die Eltern rückwärts zu ziehen.
»Wir wollen heut nicht zu Omama gehen, wir wollen nach Haus, wir wollen lieber kommen, wenn der Affe wieder in Amerika ist.« Auch sie weinten vor Angst.
»Aber Kinder, seid doch nicht solche Hasenfüße. Das Äffchen tut doch nichts«, versuchten die Eltern sie zu beruhigen.
Keiner hatte in dem Radau bemerkt, daß die Großeltern bereits auf der Terrasse standen.
»Was ist denn hier los? Meine Kinderchen wollen nicht zu ihrer Omama?« Zum erstenmal stürzten die Enkelchen der Omama nicht entgegen, sondern hielten sich angstvoll zurück.
»Guten Tag, Vater, – Tag, Mutterchen, – euer Zoologischer Garten scheint bei der kleinen Gesellschaft wenig Anklang zu finden«, rief Hans Hartenstein, hinter dessen Hosenbein sein Jüngster sich verkroch, den Eltern belustigt zu.
»Meine armen Kinderchen – Nita, gleich bringst du den Affen fort«, verlangte die Großmama.
Anita lachte und machte keine Anstalten, Jimmy wieder einzufangen.
Da hatte Hans Hartenstein den Ausreißer mit dem Nackengriff, mit dem er seinen Dackel zu fassen pflegte, beim Schlafittchen. »So – da habt ihr ihn, den braunen Herrn aus Brasilien!« Lachend hielt er Jimmy hoch.
Aber dieser war nicht sanftmütig wie Waldmann, der Dackel. Der war temperamentvoll wie seine junge Herrin. Er bekam den Tropenkoller und schnappte nach dem Arm, der ihn fesselte.
»Bestie!« Hans Hartenstein ließ das Äffchen fahren. Schreiend entwichen die ihn umdrängenden Kinder. »So ein rabiater Kerl – gebissen hat er.«
»Gebissen – um Gottes willen, zeig' den Arm her, Hansi,« rief Frau Ruth aufgeregt.
»Ach was, der Arm, das wäre das wenigste. Aber mein neuer Sonntagsanzug! Ein Loch hat er hier in den Ärmel gebissen, der infame Kerl!«
Jimmy hatte inzwischen einen Apfelbaum erwischt. Während alles teilnehmend den gebissenen Hans Hartenstein umdrängte, lugte er mit aller Gemütsruhe auf den Schaden herab, den er angerichtet hatte.
Der alte Geheimrat wandte sich jetzt an die immer noch höchst belustigte Anita.
»Mordsmädel, jetzt wird dein Freund halt in Acht und Bann getan. Ruf den Affen, Annele, und bring' ihn in sein Lattenhäusel. Meinen Sonntagnachmittag soll mir der Vierhänder nimmer verstören.« Das war bei aller Freundlichkeit doch in so bestimmtem Tone verlangt, daß Anita sich bewogen fühlte, Jimmy von seinem luftigen Sitz herabzurufen. Die Kinder wichen scheu zurück und sahen aus respektvoller Entfernung der Weiterentwicklung der Dinge zu.
Aber so zärtlich Anita auch rief und lockte, so energisch sie auch befahl, Jimmy hatte keine Lust, seinen Höhenaufenthalt aufzugeben. Er war schlau. Ihm schwante nichts Gutes.
Frau Trudchen erschien mit der Kaffeekanne, die an Umfang dem ihrigen nur wenig nachstand. Aber keiner dachte daran, sich an den Tisch zu setzen.
»Jetzt wird uns unser Sonntagskaffee kalt wegen dieses abscheulichen Biestes«, räsonierte die Großmama temperamentvoll. Ihre Abneigung gegen Jimmy wuchs.
»Ich werde rufen Homer«, schlug Marietta vor. »Homer kann klettern wie Affe. Er wird fangen ihn.«
Homer erschien, von lauten Zurufen der Hartensteinschen Sprößlinge begrüßt: »Der Mohr – der Mohr aus dem Struwwelpeter! Wo hat er denn seinen Sonnenschirm? Ist er wirklich ganz bendig?« Heini glaubte nicht recht an seine Lebendigkeit.
Aber als Homer jetzt die weißen Zähne fletschte und an dem Apfelbaum emporzuklettern begann, klatschten sie begeistert Beifall.
Jimmy dachte nicht daran, sich von Homer greifen zu lassen. Eine wilde Jagd begann von Baum zu Baum, die mit zerrissenen Hosen des Negerjungen und mit kalt gewordenem Kaffee endigte. Jimmy aber saß triumphierend hoch oben im Wipfel der Linde, als sei sie eine Palme seiner Tropenheimat.
»Wir wollen lassen ihn in Ruhe. Er kommt herunter allein, wenn er sieht, wir essen Kuchen,« meinte Anita, die ihren braunzotteligen Freund am besten kannte.
Aber keins von den Kindern wollte sich an den Kaffeetisch unter die Linde, auf der Jimmy thronte, setzen. Kunze und Frau Trudchen mußten einen Tisch in ungefährlicher Entfernung aufstellen. Selbst die große Gerda wanderte mit an das Trompetertischchen, trotzdem sie sonst darauf brannte, bei den Großen zu sitzen. Sie hatte ihren Arm zutraulich in den Mariettas geschoben: »Komm, wir sitzen zusammen.«
Marietta wußte nicht recht, was sie tun sollte. Anita hatte an der Kaffeetafel neben Miß Smith Platz genommen. Gehört sie nicht zu ihrem Zwilling? Wiederum mochte sie Gerda nicht verletzen.
Da rief Anita ihr einige portugiesische Worte zu. Marietta löste ihren Arm aus dem der Kusine. »Ich muß sitzen mit mein Schwester. Du kannst kommen mit«, setzte sie aber gleich begütigend hinzu, als sie wahrnahm, daß sich Gerdas Augen feuchteten.
Gerda schüttelte stumm den Kopf. Sie war stolz und auch empfindlich. Aufdrängen wollte sie sich nicht. Ganz abgesehen davon, daß der Platz unter der Linde Jimmys wegen nicht verlockend war. So griff sie still zur Kakaokanne und machte damit die Runde am Kindertisch, wie Frau Trudchen es mit der Kaffeekanne an der Haupttafel tat. Anita rümpfte das Näschen und flüsterte Marietta etwas zu. Die wurde rot und schaute auf Gerda. Wirklich, Gerda bediente mit bei Tisch, sie reichte jetzt die Kuchenschüssel herum, nein, das fand auch sie nicht vornehm. Dazu war doch die Dienerschaft da.
»Nun, Nita und Jetta, wollt ihr euch von eurer jüngeren Kusine Gerda beschämen lassen?« fragte da die Großmama zu den beiden herüber. »Junge Mädchen müssen sich bei Tisch nützlich machen. Nita, nimm die Kaffeekanne und schenke Onkel Georg die zweite Tasse ein. Jetta, du reichst Milch und Zucker, nicht wahr?«
Blutübergossen erhob sich Marietta. Einem Wunsche der Großmama mußte man nachkommen. Wie peinlich, daß die neuen Verwandten Zeuge davon wurden, daß sie »Dienerarbeit« tun mußte.
Aber merkwürdig: Die schienen gar nichts dabei zu finden. Im Gegenteil, Onkel Hans meinte galant: »Von solch schöner Hand schmeckt es noch einmal so gut.«
Anita tat, als ob sie die Aufforderung der Großmama gar nicht gehört hätte. Sie rührte sich nicht vom Platze. Onkel Georg hätte lange auf seine zweite Tasse warten können, wenn Tante Vronli sich nicht ihres Mannes erbarmt und selbst nach der Kanne gegriffen hätte. Munter machte die Tante nun weiter die Runde mit derselben.
Die Großmama blickte mißbilligend zu Anita herüber. Ihr war der Sonntag, auf den sie sich die ganze Woche zu freuen pflegte, heute gründlich verdorben. Ihre Kinderchen drängten sich nicht wie sonst um die Omama, sondern konnten ihren Tisch nicht weit genug von dem ihrigen entfernt haben. Daß ihre Gefühle gegen Jimmy dadurch keine freundlicheren wurden, war klar. Und nun ärgerte auch Anita sie noch durch ihre schweigende Auflehnung. Unmöglich konnte sie dieselbe durchgehen lassen.
»Du hast wohl nicht gehört, Anita, was ich von dir wünschte«, sagte sie, die leuchtendblauen Augen auf die Enkelin heftend.
»Ja, ich habe gehört«, gab Anita kühl zurück.
»Willst du Tante Vronli das Einschenken des Kaffees nicht abnehmen?« Die alte Dame mußte sich Zwang auferlegen, ruhig zu bleiben.
»Nein, ich bediene nicht anderes Leute, das nicht tut eine Tavares.« Laut und stolz klang es.
Onkel Georg setzte klirrend die Kaffeetasse hin und runzelte die Stirn. Der Schulmann, der gewöhnt war pädagogisch auf die Jugend einzuwirken, biß sich auf die Zunge. Es wurde ihm schwer, das eingebildete junge Ding nicht zurechtzuweisen. Auch seine Frau mußte an sich halten. Himmel – was für törichte Ansichten wohnten da in diesem hübschen Köpfchen. Ihre armen alten Eltern, die mit solch einem selbstbewußten Mädel fertig werden mußten. Gerda stand starr mit entsetzten Augen. Der Großmama, der von allen Enkelkindern so innig geliebten, wagte die brasilianische Kusine so ungezogen zu entgegnen. Gerda hätte sie dafür prügeln mögen. Selbst die Miß schien ungehalten.
»Ich werde schenken ein die Kaffee«, sagte da eine vor Erregung etwas zitternde Stimme in die schwüle Pause hinein, die auf Anitas Worte folgte. Und da hatte Marietta auch schon die Kanne in der Hand und goß den Kaffee in die Tassen. Etwas ungeschickt zwar, hier und da floß ein Tröpfchen daneben auf die Kaffeedecke, aber die Großmama nickte ihr trotzdem liebevoll zu. Auch die übrigen Verwandten fühlten sich wie erlöst, daß wenigstens eins der amerikanischen Mädchen bemüht war, sich den Gepflogenheiten im großväterlichen Hause unterzuordnen. Miß Smith sprach englisch auf Anita ein, sie sah es aus all den Mienen ringsum, daß man mit dem Verhalten ihres Zöglings nicht zufrieden war. Aber Anita schüttelte zu ihren Worten ablehnend den Kopf. Nein, sie war Amerikanerin und richtete sich nicht nach deutschen Sitten. Sie blieb eine Tavares auch im fremden Lande.
Da fühlte sie eine weiche Hand zärtlich ihre Wange streicheln. Leise portugiesische Laute drangen an ihr Ohr. »Nita, tu's der Großmama zuliebe, sie ist so gut zu uns. Und es macht wirklich Spaß, zu helfen.« Anita schaute auf Marietta, über die sie eben noch sehr ärgerlich gewesen, daß sie hier in Deutschland eigene Wege ging, die sie trennten. Daß sie Dinge tat, die sich für sie nicht schickten. Aber als sie in das liebe bittende Gesicht der Zwillingsschwester blickte, vergaß sie ihren Ärger. Sie wurde schwankend. Sie wandte den Blick von Marietta fort – nein, sie wollte sich nicht beeinflussen lassen. War sie nicht stets die Überlegenere von beiden gewesen?
Da kam ihr bei diesem heimlichen Kampfe Hilfe von einer Seite, an die keiner mehr im Augenblick dachte. Eine braune Affenhand langte aus dem Lindengezweig herunter zu der Kuchenschüssel und verschwand mit dem noch recht beträchtlichen Rest des Napfkuchens wieder im Grünen.
»Jimmy!« riefen Anita und Marietta erschreckt wie aus einem Munde. Und dann brach Anita in helles Lachen aus über all die entsetzten Gesichter. Und Marietta konnte sich nicht helfen, sie mußte ebenfalls mit einstimmen. Und was tat die Großmama? Sie, die doch allen Grund hatte, auf Anita sowohl wie auf den kleinen, braunen Räuber böse zu sein? Sie lachte mit, lachte von Herzen mit den beiden Mädeln, so, wie nur sie lachen konnte. Und wie einst das Lachen des kleinen Nesthäkchens ansteckend gewirkt hatte, so wirkte noch heute das Lachen der alten Frau. Man wurde mitgerissen, ob man wollte oder nicht. Die Stimmung, die noch eben so schwül gewesen, wurde plötzlich ganz ausgelassen. Und als Jimmy jetzt bei einem zweiten Überfall, den er ins Werk setzen wollte, selbst von Anita gepackt wurde, gab es des Jubels, besonders bei der kleinen Gesellschaft, kein Ende.
»Annele, jetzt tust den Dieb, den kecken, aber ins Verlies. Marsch, fort mit ihm«, verlangte der Großpapa.
Diesmal gehorchte Anita. Jimmy wurde unter Begleitung und Zurufen aller Enkelkinder in sein Lattenhaus gebracht. Plötzlich waren sie alle wieder höchst mutig; ja, Edchen reichte ihm sogar Zucker in den Käfig, um ihm seine Gefangenschaft zu versüßen.
Inzwischen hatten sich die Herren zum Sonntagsskat auf die Terrasse zurückgezogen. Die Miß hatte sich mit wichtigen Briefen entschuldigt, was keiner ihr sonderlich übelnahm. Die Damen rückten unter der Linde zusammen.
»Da hast du auf deine alten Tage noch eine ziemlich schwierige pädagogische Aufgabe, mein Mutterchen«, begann Frau Vronli das Thema, das alle im Augenblick beschäftigte, anzuschneiden.
»Nun, in einem Tag ist Rom nicht erbaut worden. Anita hat ein gutes Herz, – wie sollte das auch anders sein, sie ist ja das Kind ihrer Eltern und schließlich Blut von unserem Blute.« Alles, was Frau Annemarie sich selbst zum Trost zu sagen pflegte, brachte sie jetzt zur Verteidigung des Enkelkindes hervor. »Unser Urselchen war ja auch nicht allzu leicht zu erziehen und ist doch ein vollwertiger Mensch geworden.«
»Aber ihre Kinder hätte die Ursel besser erziehen können«, meinte die älteste Tochter kopfschüttelnd. »Maßlos verwöhnt scheinen sie zu sein. Ursel war ja auch immer unser Prinzeßchen und ist es drüben in all dem Luxus wohl noch mehr geworden.« Frau Vronli hatte ihr Lebtag angestrengt gearbeitet, gespart und gesorgt, nicht nur für sich, sondern für die Armen und Bedrückten. Sie verlangte auch von andern eine ernste Lebensauffassung. »Wenn meine Gerda so wäre – – –.«
»Die Kinder sind unter Tropensonne aufgewachsen, Vronli«, unterbrach sie ihre Schwägerin Ruth begütigend. »Andere Sonne zeitigt andere Früchte. Du darfst sie nicht mit hiesigem Maß und gar an deiner besonders verständigen und bescheidenen Gerda messen. Ich bin davon überzeugt, in bessere Hände konnte Ursel die Erziehung ihrer Zwillinge nicht legen, als in die unserer Mutter.« Die ganze Verehrung der Schwiegertochter kam in diesen Worten zum Ausdruck.
»Dein Vertrauen ehrt mich, Ruth,« lächelte die alte Dame, »hoffentlich mache ich es nicht zuschanden. Ich denke, wenn die Mädel erst in einer Schule mit Altersgenossinnen zusammen sein werden, nehmen sie unbewußt von diesen an, was man ihnen sonst soundso oft erst predigen muß. Beispiel erzieht. Und meine letzte Hoffnung setze ich auf Ursel. Miltons Bein heilt gut, nur ist noch eine Steifheit zurückgeblieben, die ihn verstimmt. Vor dem Herbst werden sie nicht ans Reisen denken können. Aber schließlich mal wird die Zeit ja herankommen – ich habe mich von Jahr zu Jahr vertrösten müssen, da heißt es eben noch weiter warten.« Frau Annemaries Stimme war unwillkürlich leiser geworden, als spräche sie zu sich selbst.
Die beiden andern Damen warfen mitleidige Blicke auf die Mutter. Sie wußten, wie schwer dieselbe unter der langen Trennung von ihrer Jüngsten litt und wie tapfer sie dagegen ankämpfte.
»Hör' nur, Mutter, die Jugend scheint sich bereits angefreundet zu haben«, versuchte Frau Ruth die Schwiegermutter abzulenken. »Das Krocketspiel verbindet Amerika und Europa.« Man vernahm vom Hofgarten her helle, lustige Stimmen, bei denen die Anitas und der beiden kleinen Jungen tonangebend schienen. Darin mischte sich das Schlagen der Hammer, das Rollen der Kugeln.
»Wenn meine Kinderchen so vergnügt miteinander sind, muß die alte Omama heute mal zurückstehen«, lächelte die alte Dame. »Kommt, Vronli und Ruth, wir wollen ein wenig im Garten promenieren. Inzwischen bereitet uns Frau Trudchen den Abendtisch. Sie wird heute wohl auf Gerdas Hilfe verzichten müssen. Unser Gerdachen ist von den neuen Kusinen ganz in Anspruch genommen.«
»Das glaub ich noch gar nicht, Mutter. Gerda schien recht enttäuscht nach all der Vorfreude«, wandte die Tochter ein.
Nein, Gerda war zuverlässig. Die vergaß weder über das Spiel, noch über die brasilianischen Kusinen ihre Pflicht. Als Frau Trudchen mit Tellern, Messern und Gabeln zu klappern begann, war sie zur Stelle. Aber noch mehr fleißige Hausgeisterchen meldeten sich. Die drei durch den abendlichen Garten spazierenden Damen trauten ihren Augen nicht. Marietta und Anita – tatsächlich auch Anita – legten mit Hand an. Auch die drei kleinen Mädchen Lilli, Evchen und Lottchen halfen nach Kräften. Eins, zwei, drei erstand ein Tischlein deck' dich.
»So ist es, das Mädel – unberechenbar. Eben noch Auflehnung und Starrsinn, und im nächsten Augenblick liebenswürdig und unbefangen, daß man ihr gar nicht böse sein kann. Und wenn sie ihre Geige zur Hand nimmt, ist sie wie ausgewechselt. Nicht zum Wiedererkennen. Weich und seelenvoll wie ihr Spiel. Sie hat einen wundervollen Strich und ist durch und durch musikalisch.«
»Und die andere?« erkundigte sich Frau Vronli. »Hat Marietta auch das musikalische Talent ihrer Eltern geerbt?«
»Marietta hat ein nettes, sympathisches Stimmchen, das sich erst entwickeln muß. Mit Ursels Stimme nicht zu vergleichen.«
Kein Wort verlor die kluge Großmama den beiden Enkelinnen gegenüber über deren Hilfe. Sie tat, als ob dieselbe ganz selbstverständlich sei.
Im Vorübergehen fingen die Damen einige Worte der jungen Mädchen auf.
»Na, macht's nicht Spaß, wenn wir alle miteinander helfen?« fragte Gerda die Kusinen.
Marietta bejahte, während Anita die Achsel zuckte. »Nicht mir. Ich nur helfe, daß wir können spielen weiter. Ich werde kaufen Fußball. Können wir machen Wettspiel das nächste Sonntag.«
»Fußball spielen keine Mädchen. Das ist ein Spiel für Jungen«, erklärte Gerda.
»Nun wollen wir mal sehen,« sagte die Großmama scherzend, »ob Gerda eher das Fußballspiel von den brasilianischen Kusinen erlernen wird oder diese von ihr deutsche Weiblichkeit.«