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Sechstes Kapitel

Kolleginnen

»Fräulein Steffen, wo haben Sie denn bloß Ihre Gedanken gehabt – die gestrigen Quartalabrechnungen sind zum größten Teil unbrauchbar. Ohne Sinn und Verstand ist alles zusammengezählt – subtrahiert muß bei Debet werden – subtrahiert – das sind doch die Anfangsgründe! Wenn ich mich so wenig auf die Beamtinnen verlassen kann, mache ich's schon lieber selber – ist doch bloß doppelte Arbeit.« In der Tür zum Privatkontor stand Herr Mählich mit aufgebrachter Miene.

Lilli Steffen hatte den Blondkopf entsetzt von ihren Abrechnungen gehoben. Fassungslos starrte sie von ihrem hohen Pultsitz auf die in der Maisonne leuchtende Glatze des gestrengen Vorgesetzten.

»Verzeihen Sie, Herr Mählich, ich will es gleich noch einmal durchsehen,« sagte sie leise mit zuckender Lippe, »ich habe es wohl für Kreditposten angesehen und daher addiert.«

»Das ist es ja eben – kein Verlaß – addiert – kein Verlaß! Da wird an alles andere gedacht – an neue Hüte, an Sonntagsausflüge – und die Arbeit kommt dabei zu kurz.« Mit ärgerlicher Handbewegung warf er den Stoß Abrechnungen auf das nächste Pult, von wo aus es dienstbeflissene Hände weiterreichten.

Vor Lillis Blick verschwamm alles. Die schwarzen Tintenzeichen auf dem Papier, die durch die hohen unverhangenen Fenster hereinstäubenden Sonnenstreifen, das schadenfrohe Lächeln einer unweit sitzenden Kollegin, Fräulein Schwertfegers vorwurfsvoller Blick und die Menschen vor der Holzschranke, die Zeuge ihrer Zurechtweisung gewesen.

Solche Schmach – nein, diese Schmach! Der leiseste Tadel war von jeher für Lillis strebsamen Sinn eine härtere Strafe als für andere Kinder gewesen. »Unser Fräulein Tochter ist etwas empfindsam,« hatte die Mutter früher öfters zum Vater geäußert, »das Leben wird ihr das abgewöhnen, das packt nicht immer behutsam an.« Aber daß es sie so hart anfassen könnte, das hatte Lilli niemals geglaubt. Sie hatte ja auch stets überall ihre Schuldigkeit getan, allenthalben bisher Lob und Wohlwollen geerntet. Woran lag es denn nur, daß sie jetzt in ihrer neuen Berufstätigkeit so oft Schiffbruch litt?

»Weil ich mich für diesen trockenen, kaufmännischen Kram nicht eigne, bloß deshalb!« begehrte eine rebellische Stimme in der geknickten Seele der jungen Buchhalterin auf.

Aber gleich darauf brachte Lillis Ehrlichkeit die Stimme zum Schweigen. Wenn sie den Beruf einmal ergriffen hatte, mußte sie auch bestrebt sein, ihn mit allen Kräften zu erfüllen, ob er ihr nun lag oder nicht. Hatte sie wirklich ihr ganzes Wollen an die Arbeit gesetzt? Nein, sie hatte gegähnt, sie hatte sich gelangweilt. Unfreudig hatte sie gestern ihre Tätigkeit erfüllt. Ihre Gedanken waren fortwährend abgeirrt aus dem großen Büro mit den hellgetünchten Wänden. Wenn auch nicht zu neuen Hüten und Sonntagsausflügen, wie Herr Mählich es ihr in seinem Ärger vorgeworfen. Aber da gab es so vieles andere, was Lilli unbedingt anregender erschienen war als die Quartalabrechnungen.

Da war der letzte Brief des Vaters, der frischer und hoffnungsfreudiger klang als alle bisherigen. Nur Sehnsucht hatte er nach den Seinen, Sehnsucht nach seiner Arbeit, seinen fünfzig Jungen in der Klasse. Denn er war mit der Jugend, die er heranbildete, innig verbunden. Pfingsten wollte die Mutter nun endlich ihren langgehegten Vorsatz ausführen und zu ihm ins Sanatorium fahren. Das erforderliche Geld war vorhanden, und in den Feiertagen war ja ihre Große zu Hause. Kein Wunder, daß Lillis leichtbeschwingte Phantasie auf goldenen Sonnenstrahlen hinausgeflogen war nach dem Schwarzwald, wo der Vater Genesung suchte.

Dann hatte sie daran denken müssen, ob auch Margot, wenn sie aus der Schule kam, nicht vergessen würde, der Ziege, die man jetzt der Milchknappheit wegen hielt, Futter zu geben. Ob der Ludwig wohl heute dazu Zeit finden würde, den notwendigen Drahtzaun anzulegen, damit die Hühner nicht den Gemüsesamen, mit deren Ertrag man zum Herbst rechnete, aus der Erde herauspickten.

Ja, und da war noch allerhand anderes gewesen, was in dem blonden Mädchenkopf spukte. Was ließ sich alles aus Maisonnenstrahlen für Märchengespinste zusammenweben. Und wenn man den Blick nur ein klein wenig zum Fenster hinausspazieren ließ, dann strudelte und brodelte es da unten in der schwarzen Tiefe. Der weiße Gischt der Spreewasser, die sogenannten »alten Mühlen«, brausten und brandeten gegen das Wehr und rauschten der verträumten Lilli allerlei seltsame Geschichten vom Mühlenprinzen zu. Das alte Mütterchen, das gerade hinter der Schranke seine Sparpfennige einzahlte, fand in dem leeren Geldbeutel blanke Goldstücke, wenn es heimkam. Denn selbst in diesem nüchternen Hause der Zahlen und des Geldes waren kleine Geister am Werk. Sie ließen das Geld hierhin und dorthin rollen, sie narrten diesen und machten jenen reich – ja, Lilli spürte ihr Treiben überall, in jedem Kassabuch, das sie aufschlug, in jedem Namenregister, das sie durchforschte. War es da wohl ein Wunder, wenn man Soll und Haben dabei verwechselte?

Hätte Ludwig seine Schwester hier beobachten können, er hätte nur allzu oft gerufen: »Liliputchen, du machst ja Märchenaugen!« Statt seiner übernahm es Fräulein Schwertfeger, die verträumte Lilli des öfteren in die Wirklichkeit zurückzubefördern: »Fräulein Steffen, dösen Sie nicht!« Das klang allerdings weniger liebevoll und barg stets eine Rüge in sich. Fräulein Schwertfeger ahnte es in ihrer prosaischen Tüchtigkeit nicht, daß sie selbst manche Verwandlung in den Augen ihres jungen Gegenübers durchmachte. Bald war sie der gedrungene Zwergkönig, der die Schätze im Sparkassenberge bewachte; bald bildete sogar ihre rosige Knubbelnase, die aus einer ungehorsamen Rose zur Strafe in diese unschöne Gestalt verzaubert worden, den Mittelpunkt von Lillis dichterischer Phantasie.

Augenblicklich war besagte Nase nicht wie meistens voll emsigem Eifer über Hinterlegungscheine gebeugt, sondern sie war auf den goldumsponnenen, tief gesenkten Kopf der noch immer untätigen Buchhalterin gerichtet.

»Fräulein Steffen, es wäre besser, wenn Sie sich den Verweis von Herrn Mählich weniger zu Herzen nehmen und lieber daran gehen würden, Ihr Versehen von gestern so schnell wie möglich gut zu machen,« sagte Fräulein Schwertfeger mahnend. Sie hatte das junge Mädchen in den wenigen Wochen auf ihre Art lieb gewonnen. Wenn sie ihr auch nichts durchgehen ließ in ihrer strengen Pedanterie, und es ihr ganz unerklärlich war, daß man bei seinen Ausrechnungen noch für etwas Abliegendes Sinn haben könne.

Lilli schreckte zusammen und hob das vor Beschämung glühende Gesicht. Ein um Entschuldigung bittender Blick zur Vorgesetzten, ein schneller Seitenblick zu den Kolleginnen. Die schienen alle in ihre Arbeiten vertieft. Nur ein Paar blaßblauer Augen begegneten den ihrigen in augenscheinlichem Triumph und Schadenfreude. Sie gehörten Fräulein Liedtke, ihrer Vorgängerin am Pult, einer unschönen Blondine mit gebrannten Löckchen.

Lilli empfand den Blick wie einen schmerzenden Stich. Was hatte sie bloß dieser Kollegin zuleide getan, daß jene ihr ihre Abneigung auf jede Weise zu erkennen gab? Ihr ganzes Leben lang hatte Lilli Steffen, wo sie auch immer hingekommen, sich die Herzen im Nu erobert. In der Schule war sie eine fleißige Schülerin, die Erste in jeder Klasse gewesen. Auch später im Lettehaus hatte sie die Damen sowohl wie die Schülerinnen mit ihrem liebenswürdigen Wesen sofort für sich eingenommen. Und in der Steffenschen Familie war Lilli oder das Liliputchen, wie man sie früher ihrer zierlichen Gestalt wegen allgemein genannt hatte, mit ihrer sonnigen Herzfreudigkeit erst recht der Verzug von allen Onkeln und Tanten.

Zum erstenmal trat ihr hier jemand offenbar feindselig gegenüber. Schon öfters hatte Lilli es bemerkt, daß Fräulein Liedtke das gute Einvernehmen, das sie mit allen übrigen jungen Mädchen verband, zu untergraben suchte. Die meisten entstammten einfachen, bescheidenen Kreisen, hatten die Volksschule besucht und dann einen kaufmännischen Kursus daran geschlossen. Fräulein Liedtke war die einzige in dieser Abteilung, die wie Lilli englische und französische Korrespondenz, zu der jetzt allerdings wenig genug Gelegenheit war, beherrschte. Aber das konnte doch unmöglich der Grund sein, daß sie ihr in so unfreundlicher Weise allenthalben ihre Abneigung zeigte. Sie brauchte doch die Konkurrenz der Neuen in keiner Weise zu befürchten. Lilli litt mehr unter jeder ihrer spitzen Bemerkungen, wie sie es sich selbst zugestehen mochte.

Heute verfolgte sie der schadenfrohe Blick der Kollegin kaum weniger als die Unzufriedenheit des Vorgesetzten. Während Lilli eifrig bemüht war, den gestrigen Fehler wieder gut zu machen, entsprang doch hin und wieder einer der krampfhaft zusammengehaltenen Gedanken zu dem etwas rückwärts gelegenen Pult Fräulein Liedtkes. Sie nahm sich vor, die nächste Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und die Kollegin ehrlich zu fragen, was sie denn eigentlich gegen sie habe. Das entsprach Lillis geradem Wesen bei weitem mehr als versteckte Feindseligkeit und boshafte Sticheleien.

So unmöglich es ihr auch im Anfang erschienen, Lilli hatte die schwere Kunst schon ziemlich gelernt, nicht mehr so viel auf das Publikum zu achten und bei jeder neuen Stimme nicht sofort den Kopf zu drehen. Freilich, so weit wie Fräulein Schwertfeger, die förmlich in einer unsichtbaren Isolierzelle hinter ihren Büchern thronte, würde sie es mit ihrem regen Interesse für alle neuen Eindrücke wohl niemals bringen. Aber sie vermochte es doch jetzt, zu rechnen und zu schreiben, unbeeinflußt von Stimmen und Anfragen, von dem kaleidoskopartig wechselnden Menschenstrom, der unaufhörlich zu den großen Glastüren herein- und hinauswogte.

Es waren fremde Laute, die Lilli, welche, ohne aufzusehen, sich zwischen ihren Kredit- und Debetposten zurecht zu finden suchte, mit einem Ruck den Kopf heben ließen.

»Beg your pardon, ich u – ill fragen Ihnen, if it is possible, to get back my money – der Geld – in the moment,« klang es in amerikanischen Lauten bis zu der Lauschenden.

Eine Dame, ungefähr in den Dreißigern, versuchte sich vergeblich mit Fräulein Habicht, die den Verkehr mit dem Publikum abwickelte, zu verständigen.

»Der Geld« – Fräulein Habicht zuckte halb lachend, halb ratlos die Schultern. »Was hat es mit dem Geld für eine Bewandtnis? Wollen Sie abheben oder einzahlen?«

Es war zweifelhaft, ob die Dame die Frage verstanden hatte. Sie ließ aufs neue ihren englischen Redefluß, untermischt mit deutschen Brocken, auf die mit verständnislosen Augen dreinblickende junge Beamtin niederfluten.

Allenthalben an den Pulten war man aufmerksam geworden. Die jungen Dinger steckten die Köpfe zusammen und kicherten.

Fräulein Schwertfeger erschien jetzt auf der Bildfläche. Den Federhalter hinter dem Ohr, hob sie ihre Knubbelnase mit entschiedener Kopfbewegung zu der Fremden empor. »Bitte – was – wünschen Sie!« fragte sie ganz langsam, jede Silbe betonend, als spräche sie mit einem Schwerhörigen oder einem Idioten.

» I wish to go home to America and must get back my money in the moment – – –« eine längere englische Rede, in der die Amerikanerin auseinandersetzte, aus welchen Gründen sie plötzlich von Berlin abreisen müßte, folgte.

Fräulein Schwertfegers eben noch so energisches Gesicht sah jetzt nicht weniger ratlos drein als vorhin das Fräulein Habichts. Sie beherrschte die englische Sprache ebensowenig.

»Der Geld – in die Augenblick,« beharrte die Dame, als sie sah, daß sie auch hier nicht verstanden wurde.

»Fräulein Liedtke, Sie sind ja wohl der französischen und englischen Korrespondenz mächtig, übernehmen Sie die Verständigung,« kommandierte Fräulein Schwertfeger, sich erleichtert zurückziehend.

Stolz erhob sich die Aufgerufene. Ihr Blick, der die übrigen Kolleginnen streifte, schien zu sagen: »Seht ihr, daß ich mehr kann als ihr!« Besonders Lilli mußte sich ein triumphierendes Lächeln gefallen lassen.

Fräulein Liedtke trat an die Holzschranke.

» What will you?« fragte sie mit erhobener Stimme.

Lilli Steffen biß sich auf die Lippen. Das Englisch von Fräulein Liedtke schien nicht weit her zu sein.

Wieder eine wortreiche Auseinandersetzung der Amerikanerin, die immer erregter wurde. Fräulein Liedtkes stolze Miene wurde etwas unsicher. Wohl hatte sie englische und französische Korrespondenz erlernt, kaufmännische Briefformen waren ihr geläufig. Aber in diesem schnell dahinrauschenden, fremdzungigen Redestrom vermochte sie als Ungeübte nicht mitzuschwimmen.

»Sie ist aus Amerika,« sagte sie schließlich, da dies das einzige Wort war, das sie wirklich verstanden hatte.

»Das können wir uns denken, daß sie nicht aus Berlin gebürtig ist.« Fräulein Schwertfeger war ärgerlich über die Stockung in der Abfertigung des Publikums. »Will sie Geld einzahlen, abheben oder Papiere hinterlegen?«

»Einzahlen,« rief Fräulein Liedtke mit edler Dreistigkeit, um sich nur ja keine Blöße zu geben, auf gut Glück, da die Dame zufällig an der Einzahlungsstelle stand.

Lilli schwankte. Sie hatte jedes Wort der Fremden verstanden. Hatte sie doch durch den Umgang mit der englischen Erzieherin ihrer Freundin Ilse ihr Schulenglisch in die Praxis umsetzen gelernt. Wenn es nur nicht gerade Fräulein Liedtke gewesen wäre, die sie beschämen mußte. Das würde ihr diese gewiß niemals verzeihen.

»Also ordnen Sie die Angelegenheit.« Fräulein Schwertfeger machte kurz entschlossen kehrt, um sich wieder hinter ihrer unsichtbaren Mauer zu verschanzen.

Fräulein Liedtke und die Amerikanerin sahen sich beide erwartungsvoll an. Erstere wartete auf die Einzahlung des Geldes; jene auf die endliche Abfertigung und Aushändigung.

Diese stumme Situation wirkte so komisch, daß die anderen Damen in ein helles Gelächter ausbrachen.

Verdutzt stand Fräulein Liedtke mit ihren englischen Kenntnissen da.

Lilli hielt es nun doch an der Zeit, einzuspringen.

»Vielleicht darf ich ein wenig dolmetschen?« wandte sie sich bescheiden an Fräulein Schwertfeger. »Fräulein Liedtke hat die Dame mißverstanden. Diese will ihr Geld abheben, da sie genötigt ist, plötzlich wieder nach Amerika zurückzureisen.«

»Wieviel wünscht sie?« fragte Fräulein Schwertfeger kurz.

Trotz der empörten Blicke der in den Schatten gestellten Kollegin trat Lilli jetzt zu der Ausländerin und übernahm in fließendem Englisch die Verständigung. Die Sache lag nicht so einfach. Die Amerikanerin wünschte alles, was sie auf der Sparkasse liegen hatte, sofort zurück zu erhalten, ohne sich an die Kündigungsfrist, die für eine so große Summe vorschriftsmäßig war, halten zu müssen. Lilli vermittelte bald deutsch, bald englisch. Man konnte zu keinem Resultat kommen. Die Angelegenheit wurde sogar bis in das Allerheiligste, vor Herrn Mählichs Richterstuhl, getragen. Dieser bestand darauf, wenigstens vom amerikanischen Konsulat die Notwendigkeit dieser plötzlichen Auszahlung bescheinigt zu erhalten. Lilli war glücklich, die Scharte von vorhin vor dem Gestrengen etwas auswetzen zu können. Sie gab sich grenzenlose Mühe, die für ihr ungeschultes bankbeamtliches Verständnis ihr selber nicht ohne weiteres einleuchtende Sachlage der durchaus nicht vom Platz weichen wollenden Amerikanerin klarzulegen. Die junge Dame mußte ihre ganze Liebenswürdigkeit aufbieten, um die Erregte zu beruhigen und zum nochmaligen Wiederkommen zu bewegen.

»Na, die wären wir glücklich los!« Fräulein Schwertfeger atmete auf. Herr Mählich wischte sich die rotglänzende Glatze. »Gut, daß wir Sie hatten, Fräulein Steffen.« Lillis verletztem Ehrgefühl war glänzend Genugtuung geworden. Auch die Kolleginnen blickten bewundernd auf sie.

Und trotzdem vermochte Lilli nicht, sich dieser Anerkennung zu freuen. Ein giftiger Blick aus blaßblauen Augen hatte sie getroffen. Lilli fühlte ihn noch, während sie schrieb und schrieb und gar nicht wagte aufzusehen, um nur nicht wieder jenem gehässigen Blicke zu begegnen.

Als die Bürostunden beendet, die Feder ausgewischt und die schwarzen Schutzärmel abgezogen waren, trat Lilli entschlossen zum Pult der ihre Bücher einschließenden Kollegin. Sie mochte das Gefühl, Fräulein Liedtke gegen ihren Willen ausgestochen zu haben, nicht mit sich heimnehmen.

»Bitte, Fräulein Liedtke, seien Sie mir nicht böse, daß ich Ihnen heute ins Gehege gekommen bin. Es war mir wirklich selbst nicht angenehm, aber im Interesse der Sache mußte ich mich doch zur Vermittlung melden!« bat sie.

»Im Interesse der Sache – hahaha!« Ein häßliches, höhnisches Lachen. »Freilich, so läßt sich dreistes Vordrängen, Liebkind machen und das Prahlen mit Kenntnissen, die man Vaters Geldbeutel verdankt, bemänteln. Aber mich täuschen Sie nicht – ich durchschaue Sie.«

»Fräulein Liedtke, was habe ich Ihnen getan, daß Sie so häßlich von mir denken?« Rührend hingen die braunen Augen, die sonst so sonnig ins Leben blickten, an den kalten Zügen der anderen. Lilli ahnte nicht, daß es gerade dieser ihr eigene Liebreiz, der allgemein für sich einnahm, war, was die von Natur aus wenig liebenswürdige Kollegin mit Neid und Abneigung gegen sie erfüllte.

»Sie sind mir eben unsympathisch.« Fräulein Liedtke wandte ihr unhöflich den Rücken.

Lilli aber nahm heute das bedrückende Gefühl mit heim, zum erstenmal in ihrem jungen Leben eine Feindin zu haben.


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