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Ein grauer Morgen. Grau und schwer hingen die Wolken bis auf die Dächer der hohen Mietshäuser herab. Ein schleierfeiner Sprühregen ging hernieder. Man sah ihn nicht, man fühlte ihn nur zusammenfröstelnd. Alt-Berlin, das altersgraue, mit seinen schmalen verwitterten Häusern, tauchte im Osten der stolzen, neumodischen Geschäftspaläste schemenhaft auf.
Die Menschen, die zu dieser frühen Morgenstunde Straßen und Bahnen füllten, bemerkten nichts davon. Jeder hastete aus dem ungemütlichen Nebelgeriesel möglichst schnell ins Trockene, pünktlich an die Berufsarbeit zu kommen. Gähnend saßen sie in der elektrischen Bahn, studierten die neuesten Nachrichten oder starrten, noch mit offenen Augen schlafend, durch die wasserbeperlten Scheiben. Tägliche Gewohnheit, welche die meisten den Weg viermal am Tage zurücklegen ließ, hatte sie gegen ihre Umgebung abgestumpft.
Nur zwei hellbraune, junge Augen hielten voll lebhaftem Interesse Umschau. Da war die Spree mit ihren schwarzgrauen Wassern, dort standen uralte, baufällige Häuser an der Friedrichsgracht. Drüben Alt-Kölln, die Wiege der heutigen Riesenstadt. Nun wurde das graue Schloß, in seinen Umrissen kaum erkennbar, zwischen grauen Nebelfetzen sichtbar, und »Molkenmarcht« rief die Schaffnerin mit scharfer Stimme.
Erschreckt fuhr die Besitzerin der hellbraunen Augen zusammen und verließ schleunigst den Wagen. Beinahe wäre sie über ihr Ziel hinausgefahren. Einen Blick zu der heute kaum entzifferbaren Rathausuhr – noch fünf Minuten bis acht, dem festgesetzten Beginn ihrer neuen beruflichen Tätigkeit.
Lilli Steffen schlenderte langsam dem Mühlendamm zu, an dem die städtische Sparkasse gelegen war. Ein recht häßlicher Morgen, der ein neues Leben einleiten sollte. Alles so grau, farb- und freudlos, als wage die Hoffnungssonne sich nie wieder aus dem dunklen Gewölk hervor.
»Ach was, bange machen gilt nicht,« sagte Lilli mit der von der Mutter ererbten Entschlossenheit zu sich selbst, gab sich einen Ruck und betrat das weitgestreckte, aus gelblichen Backsteinen gefügte Gebäude der städtischen Sparkasse.
Trotz der frühen Stunde war es hier schon belebt. Fremde Menschen eilten eifrig an Lilli vorüber, Türen öffneten sich und schlossen sich. Beherzt schritt das junge Mädchen auf den Pförtner zu, der unberührt von dem Treiben um ihn her in seine Volkszeitung vertieft war.
Sie pochte an die kleine Glasscheibe, hinter der er thronte. Ärgerlich über die Störung, blickte der Gestrenge auf.
»Wollen Sie Geld einzahlen, dann linkerhand – steht groß und breit dran ...«
»Nein, ich – – –« begann Lilli.
»Also abheben – rechterhand – steht auch dran,« damit warf er sein Fensterchen wieder zu.
Verdutzt stand Lilli Steffen da. Sie wußte nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. Aber da ihre heitere Veranlagung meist den Ausschlag zu geben pflegte, vertieften sich die Grübchen in ihren Wangen, lustige Kobolde kicherten aus ihren Augen.
Wie würden sich die Geschwister daheim belustigen, wenn sie ihnen heute abend eine Schilderung von ihrem Eintritt in das neue Leben gab.
Dann wagte sie es noch einmal gegen das Fensterchen zu pochen.
»Was wollen Sie denn noch?« knurrte es von drinnen.
»Ich bin vom ersten April ab hier als städtische Beamtin eingestellt und möchte wissen, wo ich mich zu melden habe,« sagte Lilli großartig und reckte ihre zierliche Gestalt zu ehrfurchtgebietender Höhe.
»Warum sagen Se denn das nich jleich – Zimmer sechsunddreißig,« ihre Eröffnung schien dem Pförtner keinen rechten Eindruck gemacht zu haben.
Wo war nun Zimmer sechsunddreißig? Lilli fragte diesen, fragte jenen, meist einen, der ebensowenig Bescheid wußte wie sie selbst. Nachdem sie eine Treppe hinauf und eine hinunter gestiegen war, einen Gang rechts, einen links und einen geradeaus durchirrt hatte, stand sie endlich vor der gesuchten Türnummer.
Sie klopfte höflich. Aber da kein »Herein« sich hören ließ, wagte sie es, wenn auch zaghaft, die Tür zu öffnen.
Ihr Eintritt wurde gar nicht bemerkt. Einige ältere Herren saßen an ihren Schreibpulten und sahen nicht auf. Vor dem Holzgitter, das den Raum teilte, standen mehrere Frauen, blaß und ärmlich.
»Guten Morgen,« sagte Lilli mit ihrer hellen Stimme.
Federgekritzel war die einzige Antwort. Vergeblich wartete sie, daß man sie nach ihrem Begehr frage. Minute um Minute verstrich. Die von Haus aus an peinliche Pünktlichkeit gewöhnte Lilli beunruhigte es, daß sie ohne ihre Schuld ihr neues Amt zu spät antreten mußte. Sie faßte sich ein Herz.
»Verzeihung, ich bin von der städtischen Sparkasse zum ersten April engagiert worden. Bin ich hier an richtiger Stelle?« Es war nicht gut möglich, diese helltönende Mädchenstimme, die laut durch den stillen Raum klang, zu überhören. Dennoch schienen die Schreibenden nicht übel Lust dazu zu haben. Jeder meinte, der andere würde wohl antworten, während die bescheiden wartenden Frauen die junge Dame mit unverhohlener Verwunderung wegen ihrer Dreistigkeit anstarrten.
»Hm« – meinte schließlich einer. Dann fuhr er im Schreiben fort, wohl in der Annahme, sich nun genügend geäußert zu haben.
Der Zweite räusperte sich umständlich zu einer längeren Rede. Bevor er aber noch dazu kam, hatte der älteste von ihnen seine Brille, die er merkwürdigerweise beim Schreiben auf die Stirn geschoben, vor die Augen geführt und musterte die errötende Lilli kopfschüttelnd.
»Sie wollen als Kassenbotin hier eintreten?« fragte er zweifelnd.
»Als wa-as?« Lilli sah den Fragenden belustigt an und plötzlich lachte sie hell heraus. Mißbilligend hoben die beiden anderen Herren den Kopf ob solch einer ungehörigen Heiterkeit in diesen ernsthaften Büroräumen. Mißbilligend schienen selbst die nüchtern getünchten Wände, ja, die wenigen Möbel dreinzublicken.
»Ich bin vom Lettehaus empfohlen und für Korrespondenz, Stenographie und Schreibmaschine angestellt worden.« Das junge Mädchen bemühte sich vergeblich, seiner hier nicht hergehörenden Lustigkeit Herr zu werden.
Da begann es auch hinter den Brillengläsern zu zucken. Unzählige kleine Fältchen gruben sich in die pergamentfarbene Haut des älteren Herrn, und die Lippen ließen ein heiseres »Hä – hä – hä – hä – hä –« hören. Lillis silbernes Lachen bewährte sich selbst hier in diesem ernsten Arbeitsraum – es wirkte ansteckend.
»Na, denn gehen Sie mal nach Zimmer vier, gleich im Erdgeschoß, hier werden nur Kassenboten eingestellt,« meinte der Herr darauf schmunzelnd.
Lilli dankte und eilte zurück. Erschreckt stellte sie fest, daß die Uhr bereits viertel neun zeigte.
Zimmer vier war ein großer, weiter Raum. Längs der Fensterwand standen Doppelpulte, eins neben dem anderen wie Soldaten aufmarschiert. Vorwiegend Damen saßen eifrig schreibend daran.
Eine hölzerne Schranke trennte sie von dem Gesamtraum. Es war sehr voll in diesem Saal. Das Publikum stand in Reihen vor dem Holzgitter.
Lilli überflog mit einem Blick dies alles. Beherzt schritt sie dann an den Wartenden vorüber zu dem abgegrenzten Raum.
»Hinten anstellen!« erschallte es hier und da empört aus den Reihen hinter ihr her.
»Jawoll, das möcht' woll jeder, zuletzt kommen und zuerst dran sein!« rief eine Frau hämisch.
»Ich will ja nur etwas fragen,« wandte Lilli bescheiden ein.
»Das wollen wir alle bloß – hier jeht's nach de Reihe,« die große, vierschrötige Frau schien nicht übel Lust zu haben, das zierliche, junge Ding handgreiflich zurückzuschieben.
»Ruhe!« rief es vom ersten Pult in den Wortwechsel hinein, »wer soll denn bei dem Lärm rechnen?«
»Ja, aber vordrängen is nich,« beharrte die Schimpfende. »Da könnt ja 'n jeder kommen.«
Aufseufzend ließ die Dame am ersten Pult ihre Bücher im Stich, um für Ordnung zu sorgen. »Sie müssen sich der Reihe nach anstellen,« bedeutete sie Lilli kurz.
»Aber ich bin ja angestellt – – –«
»Is nich wahr,« schrie die Frau dazwischen, »sie is jleich vorjelaufen – – –«
»Ich bin von der Sparkasse hier als Buchhalterin angestellt.« Lilli war das Weinen trotz allen Humors jetzt doch näher als das Lachen.
»So-o?« Ein langer, prüfender Blick. »Na, dann melden Sie sich hier im Privatkontor!« Die hölzerne Schranke öffnete sich, und Lilli konnte aufatmend den geheiligten Boden ihrer künftigen Tätigkeit betreten. Hinter ihr her klang noch immer das Schelten der aufgebrachten Frau.
In dem Privatkontor brannten die Lampen hinter grünen Schirmen. Mehrere Schreibmaschinen rasselten. Ein Herr hob bei Lillis Eintritt die sanft vom Lichtschein bestrahlte Glatze von den Schriftstücken.
»Sie wünschen?« fragte er kurz.
»Mein Name ist Lilli Steffen; ich bin durch das Lettehaus zum ersten April von der Sparkasse für Korrespondenz, Stenographie und Schreibmaschine angestellt worden,« zum wievielten Male wiederholte sie nun schon ihr Sprüchlein.
»Halbe Stunde zu spät – unpünktliche Beamtinnen können wir hier nicht gebrauchen. Lassen Sie sich von Fräulein Schwertfeger Platz und Arbeit anweisen.« Die Schreibmaschinen, die einen Augenblick verschnauft hatten, während neugierige Mädchenaugen Lillis Äußeres überflogen, ratterten aufs neue. Die Glatze tauchte wieder in den Lichtkreis zurück.
Es wäre vergeblich gewesen, sich zu entschuldigen und das Zeitversäumnis klarzustellen. Man sah und hörte sie nicht mehr. Lilli verließ das Privatkontor. Aber auch ihr froher Mut, mit dem sie bisher noch an jede neue Aufgabe herangegangen war, wollte sie verlassen. Doch da war es ihr, als ob sie ihres Zwillingsbruders frische Stimme vernähme: »Liliputchen, wie heißt das elfte Gebot?«
»Laß dich nicht verblüffen,« unhörbar sagte es das junge Mädchen vor sich hin und mußte wieder lächeln. Und plötzlich meldete sich auch wieder ihre fröhliche Zuversicht.
Sie hielt unter den an den Pulten schreibenden Damen Umschau. Welche sah so aus, als ob sie Fräulein Schwertfeger hieß? Junge und ältere Gesichter, kokette Löckchen und ernsthafte Scheitel.
Lilli trat zu dem Pult der ersten Buchhalterin, die vorhin so energisch »Ruhe!« gerufen. »Ich soll mich bei Fräulein Schwertfeger melden und bitten, daß sie mir meinen Platz und meine Arbeit anweist.«
»Schön – bin ich selbst. Fräulein Liedtke, räumen Sie Ihren Platz hier und setzen Sie sich an das freie Pult dort hinten. Ich muß die Neue unter meinen Augen haben.«
Lilli errötete ein wenig beschämt. Sie war gewöhnt, in der Schule sowohl als im Lettehaus, stets zu den Besten zu gehören. Und nun sollte sie ihre neue Laufbahn hier unter Oberaufsicht beginnen. »Ich will schon zeigen, daß ich etwas leisten kann,« dachte sie zuversichtlich und nahm den von ihrer Vorgängerin freigemachten Platz ein.
Da thronte nun die neue städtische Beamtin vor ihrem Pult und blickte von ihrer Höhe stolz auf das Publikum herab, das ihr vorhin den Durchgang verweigert hatte.
»Hier sind die Bücher, die Sie führen sollen. Sie haben die bargeldlosen Zahlungen und Überweisungen unter sich. Diese Posten sind zusammenzurechnen – die Briefe zu kopieren. In einer halben Stunde müssen Sie zum Stenogramm bei Herrn Mählich sein.« Die Unterweisungen wurden in nicht unfreundlichem Ton gegeben, aber so geschäftsmäßig kurz, daß Lillis an Herzlichkeit gewöhntes Gemüt zu frieren begann. Ein paar begrüßende, aufmunternde Worte hätte die Dame ihr doch wohl zum Empfang gönnen können.
Bevor Lilli sich an das Zusammenrechnen der Zahlenregister machte, mußte sie ihre Vorgesetzte erst ein wenig eingehender studieren. Fräulein Schwertfeger war klein und gedrungen. Das Gesicht frisch und energisch, das dunkle Haar straff aus der Stirn gestrichen. Auf der kurzen Knubbelnase gab sich ein Kneifer alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Das war Fräulein Schwertfeger.
»Ziemlich streng, aber die Nase gibt ihr einen gutmütigen Ausdruck,« zu diesem Schluß kam Lillis neunzehnjährige Menschenkenntnis. »Ich will schon mit ihr auskommen.«
Zunächst war es freilich notwendig, daß sie sich mal erst an die Erledigung der ihr aufgetragenen Pflichten machte.
Lilli rechnete, daß ihr der Kopf zu rauchen begann. Rechnen war stets ihre schwächste Seite gewesen. Den trockenen Zahlen hatte sie niemals besondere Sympathien entgegengebracht. Und wäre sie nicht solche fleißige Schülerin gewesen, wäre vor allem der gute Bruder nicht hin und wieder hilfreich eingesprungen, dann hätte sie wohl öfters einmal dabei Schiffbruch gelitten.
Hier war aber leider kein Bruder Ludwig, der nachrechnen konnte, ob es stimmte, dafür war aber hier etwas anderes: lauter Betrieb.
Daheim in Lillis Mansardenstübchen hatte allenfalls Goldschopf dazwischen zu flöten gewagt, wenn sie über der Arbeit saß. Mäuschenstill war es dort gewesen. Ebenso wie in der Schulklasse und in den Arbeitsälen des Lettehauses. Hier dagegen schlugen die Türen unaufhörlich auf und zu und ließen immer wieder neue Menschen ein. Bei der Abfertigung ging es durchaus nicht leise her. Und Lilli besaß noch nicht die Fähigkeit der meisten Bankbeamten, sich hinter einer selbsterrichteten unsichtbaren Mauer vor den Eindrücken der Außenwelt zu verschanzen.
6 347 542 und 87 974 – Lilli kaute am Federhalter und rechnete emsig.
»Ach, liebes Fräulein, können Sie mir denn das Geld nicht ohne Erbschaftsschein aushändigen? Wovon soll ich denn sonst heute die Miete bezahlen? Mein Mann ist doch leider gestorben, hier ist die polizeiliche Bescheinigung, weiter bedarf es doch nichts,« erklang es da mitten in Lillis Rechnereien hinein. So traurig schien die Stimme, so müde – war es da ein Wunder, daß die Teilnahme der neuen Buchhalterin geweckt wurde, daß sie ihre Zahlen vergaß, und die braunen Augen mitleidig auf die Sprechende richtete? Es war eine noch junge, abgehärmte Frau. Ein Kind trug sie auf dem Arm, eines hing ihr am Rock.
Sicher würde das Fräulein, das die Abfertigung des Publikums unter sich hatte, ein Einsehen mit der Not der Ärmsten haben.
»Ohne Erbschaftsschein darf ich Ihnen nichts aus dem auf den Namen Ihres Mannes lautenden Sparkassenbuch aushändigen.«
Lilli war empört. Sie hatte noch zu wenig kaufmännisches Verständnis, um die Notwendigkeit eines derartigen Dokumentes einzusehen. Ihr weiches Herz empfand alle Not und Bedrängnis mit der Armen. Ihr phantastisches Köpfchen hatte bereits deren ganze Lebensgeschichte zusammengedichtet.
»Fragen Sie doch noch mal, Fräulein, vielleicht wird doch 'ne Ausnahme gemacht,« bat die Witwe.
Das Fräulein trat an das Pult des Fräulein Schwertfeger. Lillis gepreßte Seele atmete aus. Fräulein Schwertfeger würde sicher mitleidiger sein.
Aber »ohne den Erbschaftsschein darf nichts ausgeliefert werden,« so geschäftsmäßig und gleichgültig klang es wie irgend eine andere beliebige Anordnung.
»Sie ist doch nicht gutmütig, trotz der Knubbelnase.« Lilli warf ihrer Vorgesetzten einen mißbilligenden Blick zu.
Aber auch Fräulein Schwertfeger warf einen mißbilligenden Blick auf die ganz von der Verhandlung in Anspruch genommene neue Buchhalterin.
»Fräulein Steffen, lassen Sie sich in Ihren Abrechnungen nicht stören – das Publikum darf für Sie nicht vorhanden sein.« Ernst und mahnend klang es.
Lilli steckte das Näschen eiligst wieder in die großen Kassabücher, um gleichzeitig die peinliche Röte zu verbergen, die ihr bis an das Goldhaar stieg. Eine Rüge, gleich am ersten Tage! Lillis Ehrgeiz litt schwer darunter. Soviel Mühe sie sich auch gab, ihre Gedanken nur auf das Zahlengewirr zu richten, sie flatterten ihr davon. Hinter der blassen Frau eilten sie her, was mochte sie in ihrer Not jetzt beginnen! ...
Ach, wenn sie doch reich wäre, wie gern hätte sie geholfen. Ob man ihr wohl im voraus ihr Gehalt auszahlte? Aber gleich am ersten Tage konnte sie damit unmöglich kommen und – –
»Eine Dame zum Stenogramm,« erklang es aus dem Privatkontor.
»Fräulein Steffen, sind Sie so weit?«
»Ich – ich habe noch einige Spalten durchzurechnen,« stotterte die Angeredete erschreckt.
»So gehen Sie, Fräulein Habicht.« Die feinfühlige Lilli hörte den unausgesprochenen Vorwurf aus Fräulein Schwertfegers Worten heraus. Mit aller Gewalt zwang sie eine fürwitzige Träne, die ihr den Blick trüben wollte, zurück.
»Tue deine Pflicht, dann brauchst du dich nicht ansäuseln zu lassen,« schalt sie sich selber und versuchte Augen und Ohren vor allen neuen Eindrücken zu verschließen.
Das ging auch eine Weile ganz gut. Da – ein süßes Kinderstimmchen, hell wie Vogelgezwitscher. Das ließ sich nicht aussperren.
»Ich darf ganz allein mein Geburtstagsgeld in mein Sparkassenbuch einzahlen, nicht, Muttchen? Und wenn Weihnachten ist, kaufe ich dafür schöne Geschenke für Mutti, Vater und Anna,« schwatzte es zutraulich.
Was hätte Lilli darum gegeben, wenn sie an Stelle der Kollegin mit dem reizenden Blondkopf hätte sprechen können, liebte sie doch Kinder ganz besonders. Jedenfalls zunicken mußte sie dem Kleinchen. Das nickte wieder und wollte gar nicht damit aufhören.
»Wenn Sie mit der Abrechnung fertig sind, können Sie zu Tisch gehen, Fräulein Steffen,« der Vorgesetzten war das Hinüber und Herüber nicht entgangen.
Nun hatte man sie schon wieder auf Unaufmerksamkeit ertappt. Und die langen Zahlenreihen wollten noch immer kein Ende nehmen. Entschlossen wandte sich Lilli an ihr Gegenüber.
»Fräulein Schwertfeger, wenn ich darf, möchte ich lieber durcharbeiten. Es geht heute am ersten Tag noch etwas langsam, ich muß mich erst daran gewöhnen, nicht auf das Publikum zu achten. Haben Sie bitte ein bißchen Geduld mit mir.« In ihrer lieben, freimütigen Art, die ihr stets die Herzen gewann, sagte es das junge Mädchen und hob die Augen bittend zu der Dame.
Der ward es ganz merkwürdig zumute. Viele junge Dinger hatten ihr schon im Laufe der Jahre am Pult gegenübergesessen, und sie war bemüht gewesen, sie zu brauchbaren Beamtinnen auszubilden. Die hatten bei Vorhaltungen und Ermahnungen entweder gemault, sich verteidigt oder sie gleichgültig hingenommen, je nachdem. Daß aber eine von selbst ihren Fehler eingestand und um Nachsicht bat, das war Fräulein Schwertfeger noch nicht vorgekommen. Der Blick hinter dem Kneifer wurde wärmer.
»Sie werden es bald lernen, Fräulein Steffen, wenn nur der gute Wille da ist,« das klang schon bei weitem freundlicher.
Der größte Teil der Beamtinnen – das jüngere Personal bestand noch immer fast ausschließlich aus Damen – war bereits zu Tisch gegangen. Lilli zog ihr Marmeladenbrot heraus und biß tapfer hinein. Längst war sie nicht mehr an Butterbrot gewöhnt. Die geringe Wochenration Fett mußte zum Kochen verwendet werden. Und »hintenrum«, wie man es allgemein nannte, kaufte Frau Doktor Steffen nichts. Ihrem rechtschaffenen Sinn widerstrebte es, angeordnete Verfügungen zu umgehen, ganz abgesehen davon, daß man es sich im Lehrerhäuschen auch nicht leisten konnte, die hohen Preise für heimlich eingeführte Waren zu zahlen.
Lilli war genügsam; Entbehrungen fielen ihr nicht allzu schwer. Ludwig fand sich bedeutend schwerer hinein. Und dabei legte er sich selbst noch mehr Entbehrungen auf, der gute Junge, aus zärtlicher Sorge für seine Zwillingsschwester, die ihm über alles ging. Eine nagelneue Thermosflasche wickelte Lilli aus dem Papier und betrachtete sie gerührt. Die hatte gestern abend auf ihrem »Märchensofa« im Mansardenstübchen gelegen. Kein Mensch wußte, wie sie dorthin geraten. Ludwig, der sofort in Verdacht kam, hatte jeden Dank abgelehnt und verschmitzt gemeint: »Liliputchen, tu' sie schnell weg, sonst verschwindet sie am Ende wieder wie im Märchen. Du mußt doch am besten wissen, daß man einem Märchenwunder nicht auf die Spur gehen darf.«
Auch ohne daß Lilli nachforschte, wußte sie, daß Ludwig einen Teil seines Stundengeldes, das er mit Nachhilfeunterricht verdiente, für sie geopfert hatte.
Liebevollen Blickes goß sie die Suppe in eine mitgebrachte Tasse. Nein, wie sie jetzt nach Stunden noch dampfte! Wärmer aber noch war Lillis dankbares Herz. Der schönste Braten hätte ihr nicht besser munden können, genoß sie doch all die Liebe, die ihr daheim zuteil wurde, zugleich damit.
Mit frischen Kräften ging es dann an die Arbeit. Als Fräulein Schwertfeger von Tisch zurückkehrte, waren die Abrechnungen zu ihrer Zufriedenheit erledigt. Und als Lilli am Nachmittag ein Stenogramm im Privatkontor aufnehmen mußte und Herr Mählichs glänzende Glatze anerkennend nickte: »Ei, Sie schreiben ja ganz flott für einen Neuling,« da hatte ihre glückliche Veranlagung die Schwierigkeiten und Enttäuschungen, die solch ein erster Tag im neuen Amt mit sich bringt, vergessen.
»Ich will der deutschen Frauenarbeit schon zur Anerkennung verhelfen,« dachte sie siegesgewiß.
Hellen Auges fuhr Lilli Steffen dann nach Fünfuhrschluß durch den grauverhangenen Apriltag heim. Dort gab es des Lachens kein Ende, als sie in drolliger Weise von ihren anfänglichen Irrfahrten berichtete und eine lebhafte Schilderung der neuen Tätigkeit und Menschen folgen ließ.
»Die Hauptsache, mein Mädel, ist, daß du die übernommenen Pflichten mit allen Kräften auszufüllen bestrebt bist, und da habe ich volles Vertrauen zu dir,« dämpfte die Mutter die Ausgelassenheit der Jugend.
Nie zuvor hatte Lilli das Heimkommen so wohlig empfunden wie heute, da sie den Fuß zum erstenmal hinaus ins Leben gesetzt hatte.