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Zweites Kapitel

Lillis Zuhause

Lilli war über diese Tücke des Schicksals mit Recht aufgebracht. Was hatte man noch alles besprechen und überlegen wollen. Ilse Gerhard wohnte in dem Berliner Villenvorort Wannsee, während Lilli Steffen in dem etwa eine halbe Stunde davon entfernten Schlachtensee daheim war. Nicht einmal eine Verabredung hatten sie für die nächsten Tage getroffen. Wußte Ilse doch noch nicht, wie ihre Arbeitstunden im Röntgenlaboratorium liegen würden.

Aber lange hielt »schlecht Wetter« auf Lillis Stimmungsbarometer niemals an. Noch ehe draußen die ersten schüchternen Sonnenstrahlen sich durch das noch kahle, regenbetropfte Gezweig stahlen, blickten Lillis Braunaugen schon wieder froh und strahlend in die Welt.

Wenn man neunzehn Jahr alt ist und vor einem neuen, unbekannten Land steht, in das man den Fuß setzen will, dann schaut einem alles hoffnungsgrün und sonnenhell entgegen. Ja, selbst die geschmähten dicken Folianten mit Lederrücken vermochten keinen Schatten auf Lillis freudige Zuversicht zu werfen.

Wie sie in der Schule und später im Lettehause stets eine der Besten gewesen, so würde sie sich auch in dem neuen Wirkungskreis hineinfinden und zur Zufriedenheit die ihr aufgetragenen Pflichten erledigen. Nur ihre Gedanken, die leichtbeschwingten, mußte sie energisch bewachen, daß ihr keiner auf phantastischen Ausflügen entschlüpfte. Die Vorsteherin des Lettehauses hatte recht. Derartige Ausreißer hatten nichts mit dem nüchternen Soll und Haben zu tun.

Ja, wenn sie wenigstens ihr Abiturientenexamen hätte machen und studieren können, wie sie es gern gewollt, nachdem es mit der Schriftstellerei nun einmal nichts werden sollte. Das Studium hätte sicherlich ihre Gedanken vollständig gefesselt.

Und dennoch – Lilli lächelte still vor sich hin – sie bereute es nicht, daß sie darauf verzichtet hatte. Mutter selbst hatte ihr zugeredet, das Mädchengymnasium zu besuchen. »Bist ja Kapitalistin, Mädel,« hatte sie scherzend gemeint. »Eine bessere Verwendung deiner tausend Mark gibt's nicht, als daß du dafür etwas Tüchtiges lernst und deine Zukunft darauf aufbaust.«

In der Tat, seit einigen Jahren besaß Lilli die riesige Summe von tausend Mark, ja, sie hatte sich dieselbe in höchst eigener Person verdient. An einem Märchenpreisausschreiben hatte sie sich als Backfisch zu beteiligen gewagt und – o Glück! – den ersten Preis davongetragen. Das war ja auch der Grund, daß sie durchaus Schriftstellerin werden wollte. Sie ahnte noch nicht, daß nicht nur Rosen an diesem Wege wuchsen, sondern auch Dornengestrüpp Hoffnung und Zuversicht gar oft wund ritzen. Aber die erfahrungsreife Mutter kannte das Leben besser. Sie wollte ihr Kind vor Enttäuschungen, die nicht ausbleiben würden, bewahren und hatte Lilli den Rat gegeben, das Geld zum Studium zu verwenden.

»Und Ludwig« – Lilli wußte es noch wie heute – »was wird aus Ludwig, Muttchen?« so hatte sie gefragt.

»Ja, Herzchen,« zögernd war Mutters Antwort gekommen. »Wenn unser Vater noch länger fern von uns weilen muß, wird Ludwig von der Unterprima abgehen und irgendwo als Kaufmannslehrling eintreten müssen. Wir leben in bescheidenen Verhältnissen, das weißt du. Den Notgroschen, den Vater in unermüdlicher Arbeit zurückgelegt hat, dürfen wir trotz der schweren Zeiten nicht angreifen. Es können noch schwerere kommen. Möglich ist es ja, daß man unserem Ludwig als fleißigen Schüler ein Stipendium zum Studium bewilligt, daß er mit Unterrichtstunden das Fehlende hinzuverdienen könnte. Aber denke mal, Lilli – du bist doch meine Große, Verständige – wie lange das währen würde, bis ihr beide dann auf eigenen Füßen ständet. Meinst du nicht auch, daß es richtiger ist, wenn wenigstens eins von euch uns die schweren Zeiten ein wenig erleichtern hilft?«

»Ja, Muttchen, du hast recht, wir können nicht alle beide studieren. Aber Ludwig, der bereits in der Prima ist und so darauf brennt, Ingenieur zu werden, darf nicht verzichten. Von meinen tausend Mark soll er studieren, wir sind Zwillinge, da gehört einem das Geld so gut wie dem anderen. Nur erfahren darf er's nicht, nein, Muttchen, das versprichst du mir? Dann nimmt er's nicht von mir an; du kennst ihn doch.« Nicht einen Augenblick hatte Lilli überlegt. Und die Mutter hatte ihr opferfreudiges Mädchen zärtlich ans Herz geschlossen.

Lilli aber hatte im Lettehaus kaufmännische Buchführung gelernt, glücklich und befriedigt in dem Gedanken, dem geliebten Zwillingsbruder das Studium ermöglichen zu helfen.

Während Lillis Gedanken so rückwärts flogen, eilte der Eisenbahnzug unablässig vorwärts. Schon war der Schlachtenseer Bahnhof erreicht.

Der Weg bis zur Kirschallee, in der Steffens wohnten, war nicht weit. Wie früher als Schulmädel sprang die junge Dame ihn hinunter, um die Zeitversäumnis möglichst wieder gutzumachen. Und wie dereinst, als sie ein Schulmädel gewesen, baumelten ihr im kühnen Schwunge die prachtvollen Blondzöpfe über den Rücken. Der Frühlingssturm, der sich draußen im Freien noch mehr austoben konnte als zwischen den hohen Häusern Berlins, sah nicht ein, warum man solch eine goldene Pracht unter der dunklen Pelzmütze verstecken sollte. Tüchtig zauste er seine junge Freundin, mit der er früher manch liebes Mal um die Wette gejagt war.

Es war ein schönes, trauliches Heim, dem Lilli zueilte. Mitten zwischen Gärten stand das weiße Häuschen, das die Familie des Oberlehrers Doktor Steffen bewohnte. Ein bescheidenes Häuslein war es nur, aus Erdgeschoß und einem Giebelstockwerk bestehend. Aber seinen Bewohnern dünkte es der schönste Besitz, den je ein Glücklicher sein genannt. Ein eigen Haus und Heim – darin lag wohl der größte Zauber, den das anspruchslose Häuschen sowohl auf die Eltern als auch auf die Kinder ausübte. Von seinen sauer verdienten Spargroschen hatte der Vater es erstanden, damals als Grund und Boden draußen noch wohlfeil zu haben waren. Stolz hatte er dann sein junges Weib zur Rosenzeit heimgeführt, und Frau Mieze kam sich wie eine Königin in ihrem neuen Reich vor. Glücklicher und zufriedener konnte jedenfalls auch keine Königin sein, als es Frau Doktor Steffen all die Jahre hindurch trotz Werktagsarbeit und nicht ausbleibender Sorgen hier gewesen. Für den Oberlehrer bildete der Garten mit seiner Rosenkultur und dem selbstgezogenen Edelobst die schönste Erholung nach anstrengender Berufsarbeit. In solcher harmonisch zufriedenen Atmosphäre waren die drei Kinder aufgewachsen, und der Abglanz des häuslichen Glücks schaute ihnen aus den jungen Augen, offenbarte sich in der warmen, herzfrohen Art der Drei, trotz ihrer Verschiedenheit.

Noch stand der Garten kahl, das Rosenrondell hinter dem weißen, von Ludwig eigenhändig angestrichenen Staketzaun hatte noch die papierenen Schlafmützen gegen den Winterfrost über die Ohren gestülpt. Auch der kleine, steinerne Gnom war noch nicht in seine Sommerwohnung, ins Vorgärtchen, übergesiedelt, sondern schnarchte noch hinten im Borkenhäuschen frühlingswärmeren Tagen entgegen. Aber die Linden, Akazien und Rotdorn hatten sich bereits mit ihrem Perlengeschmeide geschmückt. Winzige, kleine Perlchen, die allerersten Vorboten des kommenden Lenzschmuckes, hatten sich seit gestern, noch kaum sichtbar, hervorgewagt. Lillis Blick erspähte sie doch. Liebevoll glitt er an den Zweigen entlang. Und »der Flieder schlägt ja schon die Augen auf!« mit diesem Jubelruf betrat sie das weiße Häuschen.

Dort saß man noch in dem mit einfacher Gemütlichkeit ausgestatteten Parterrezimmer um den Mittagstisch.

»Du meinst wohl, der Flieder setzt Augen an, Lilli!« verbesserte der junge Student seine poetische Zwillingsschwester mit nüchterner Sachlichkeit.

»Lillichen, ich habe null Fehler im französischen Extemporale, zu dem du mit mir gelernt hast,« schrie ihr das Nesthäkchen Margot freudestrahlend entgegen.

Schnauzel, der bejahrte Teckel, ließ seinen Futternapf, den er jetzt bei der knappen Zeit einer mehrfachen Reinigung zu unterziehen pflegte, im Stich und gab durch ein kurzes, wohlwollendes Bellen seiner Freude Ausdruck, daß die Familie bis auf den Vater nun wieder vollzählig war.

Nur die Mutter sprach nicht. Umso sprechender aber gingen ihre klaren braunen Augen zu dem mit gelöstem Haar und schiefgerutschtem Hut erscheinenden Fräulein Tochter.

»Guten Tag, Muttchen, Tag, Kinder –« Lilli fiel es jetzt erst ein, daß sie über die ersten Frühlingsgrüße selbst den Gruß vergessen hatte. »Sei nicht böse, Muttchen, daß ich zu spät komme, die Elektrische war überfüllt und – –«

»Und du mußtest noch ausgiebigen Abschied von Ilse Gerhard nehmen, nicht wahr?« unterbrach sie die Mutter halb im Scherz, halb ernsthaft.

»Nun, gar keinen Abschied konnten wir voneinander nehmen, solche Bosheit! Nicht einmal zusammen nach Hause gefahren sind wir heute zum letzten Mal,« verteidigte sich Lilli eifrig.

»I der Tausend, und da ist der Zug überhaupt abgelassen worden?« zog der lange Zwillingsbruder das bei weitem kleinere Schwesterchen auf. Er kam bereits aus der Küche und stellte, die Serviette wie ein Kellner unter dem Arm, den dampfenden Teller Kohlrüben auf den Platz der Schwester.

»Gnädiges Fräulein, das Mittagsmahl ist angerichtet,« meldete er untertänigst.

»Danke, mein guter Junge, ich hätte mich ja auch allein bedienen können. Aber jetzt muß ich mich erst ganz schnell menschlich machen, ehe ich mich zu Tisch setze. Von unserem Lettehausabgang erzähle ich euch nachher.« Damit sprang Lilli die Treppe zu ihrem Zimmer empor.

Ein Mansardenstübchen war es, hell und freundlich. Schneeweiße Mullgardinen an den Fenstern, zwischen den Scheiben blühende Hyazinthen in Gläsern, die eine immer farbenfreudiger als die andere. Lilli hatte des Vaters glückliche Hand in der Blumenpflege geerbt. Auch auf dem Fensterbrett, dem kleinen, von Ludwig selbstgezimmerten Nähtischchen und der Blumenkrippe grünte und blühte es. Den »Wintergarten« nannten die Geschwister Lillis Stübchen, und so ganz unrecht hatten sie nicht mit ihrer scherzhaften Benennung. Die rankenden Schlinggewächse und Blumen gaben dem Zimmerchen selbst zur Winterszeit ein lenzfrohes Gepräge, und der in seinem Bauer in dem grünen Reich jubilierende »Goldschopf« vervollständigte diesen Eindruck.

Sonst gab's nicht viel Sehenswertes in dem kleinen Raum. Außer dem Bett, dem Waschtisch und Schrank noch Lillis »Schreibtisch«, der einst ganz andere Funktionen zu erfüllen gehabt hatte. Ein sogenannter »stummer Diener« war es. Ein altmodisches, zusammenklappbares Anrichtetischchen, das Großmama als junge Frau zu ihrer Einrichtung bekommen. Da das von Natur schon ziemlich wackelige Möbelstück im Laufe der Zeit noch wackeliger geworden, hatte die Großmama es außer Betrieb setzen und in die Rumpelkammer schaffen wollen. Aber Lilli, ihr erklärter Liebling, hatte dagegen Einspruch erhoben und sie gebeten, ihr doch den »stummen Diener« als Schreibtisch zu überlassen. Es gibt wohl wenige Großmütter, die ihren Enkeln einen Wunsch, wenn er nicht gerade allzu unvernünftig ist, abzuschlagen vermögen. Und Lilli konnte so leicht überhaupt keiner etwas versagen, wenn sie einen mit ihren lieben braunen Augen bittend ansah. So war der eigenartige Schreibtisch in das Mansardenstübchen gewandert. Ach, eigentlich hatte Lilli damals gehofft, ihrer lebhaften Phantasie daran freien Lauf lassen zu können, an jenem Schreibtisch eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Ja, Bruder Ludwig, der sein poetisches Zwillingsschwesterchen trotz seiner abgöttischen Liebe gern ein wenig neckte, hatte sie heimlich »geknipst«. »Lilli Steffen an ihrem stummen Diener« stand unter dem Bildchen, das sie einige Tage darauf unter ihrer Serviette fand. »Für die ›Illustrierte‹ oder für die ›Woche‹, Lilli, wenn du erst eine berühmte Schriftstellerin bist; man kann nie früh genug dafür Sorge tragen,« neckte Ludwig. Und dann hatten sie alle beide von Herzen darüber gelacht. Lilli aber hatte schließlich doch ziemlich ernsthaft gemeint: »Wenn ich meinem stummen Diener erst die Sprache verleihe, wirst du mich nicht mehr anulken, Lulu. Laß nur, wer zuletzt lacht, lacht am besten!« Das Bildchen war statt in die Illustrierte in das Sanatorium zum Vater gewandert. Der stumme Diener aber hatte eine andere Sprache gelernt, als seine junge Herrin damals gemeint. Ein Stenographielehrbuch, Leitfaden für englische und französische Korrespondenz, kaufmännische Buchführung und Handelswissenschaft lagen jetzt auf dem Schreibtisch.

Etwas aber war der jungen Bewohnerin noch geblieben, wohin sich die trockene kaufmännische Gelehrsamkeit nicht wagte – ihr »Märchensofa«. Das große, alte, ziemlich mitgenommene Ledersofa, das noch eine Generation weiter zurückdenken konnte als der Schreibtisch. Auf ihm hatte das Zwillingspärchen Lilli und Lulu seine ersten Kletterversuche unternommen. Später hatte Lilli dann mit offenen Augen die merkwürdigsten Märchen in den Tiefen des alten Sofas geträumt und sie abends in der Schummerstunde ihrem Lulu dort erzählt. Jetzt war das Märchensofa zur Oase geworden in der trockenen Wüste einförmiger Buchführung. Das Eiland, auf das sie sich rettete, wenn die Flut von stenographischen Sigeln sie zu verschlingen drohte.

Augenblicklich hatte Lilli weder für ihren stummen Diener noch für ihr Märchensofa Interesse. Erschreckt blickte sie in den kleinen Spiegel, der ihr den zerzausten Blondkopf zeigte. Nein, wie schaute sie aus. Geschwind das Haar überbürstet, die Flechten frisch aufgesteckt und die Hände gewaschen. So – nun war ihre »Dinertoilette« beendet.

Mit gesundem Jugendappetit ging es dann an die Vertilgung des aufgetürmten Tellers Kohlrüben. Als Beilage dazu gab Lilli den Bericht von der Abschiedsfeier im Lettehaus zum besten. Margot mußte zu ihrem Leidwesen zur Klavierstunde, aber die gute Schwester vertröstete sie mit einer erneuten Auflage am Abend.

»So wäre dieser Abschnitt also auch beendet, mein Mädel,« meinte die Mutter gedankenvoll. »Nun bist du flügge und wagst den ersten selbständigen Flug in ein neues Leben hinein.«

»Flügge – unser Liliputchen? Nein, Mutter, das ›Kleine‹ müssen wir nach wie vor unter unsere Flügel nehmen, sonst findet es sich in dieser realen Welt nicht zurecht,« unterbrach sie der langaufgeschossene Bruder mit väterlicher Miene.

»Oho, mein Junge – Respekt – du siehst eine städtische Beamtin vor dir,« Lilli reckte ihre schlanke, junge Gestalt bis zur Schulter des Zwillingsbruders. »Beamtenbeleidigung wird schwer geahndet, das weißt du doch.«

»Kinder, hört mit euren Dummheiten auf,« unterbrach die Mutter, selbst belustigt, die Übermütigen. »Es gibt Wichtigeres zu überlegen, nämlich, wie wir dich künftig ausreichend ernähren werden, Lilli. Die Arbeitszeit von acht bis fünf Uhr in der Sparkasse liegt ja recht günstig. Da hast du den ganzen Abend noch für dich und uns frei. Nur die anderthalbstündige Tischzeit ist schwierig. Unmöglich, daß du den weiten Weg vom Zentrum Berlins bis hier herauskommen kannst. Ich werde dir dein Mittagessen bis zum Abend aufheben.«

»Lilli wird froh sein, wenn sie uns und unsere Kohlrübenplage mal für 'ne Weile los ist,« meinte Ludwig mit einem schiefen Blick auf den Teller der Schwester. »Na, Liliputchen, wirst du dich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnen?«

»Vielleicht doch, Ludwig. Es ist doch immerhin was Warmes, und wir müssen zufrieden sein, daß wir wenigstens noch Kohl und Rüben zu erschwingbaren Preisen bekommen,« entgegnete Lilli ernsthaft.

»Mancher Arme würde gewiß recht gern solch sorgfältig gekochtes Gericht essen,« bedeutete auch die Mutter dem etwas wählerischen Herrn Sohn.

»Lilli, könntest du denn nicht über Mittag zur Großmama gehen? Die wohnt doch ziemlich in der Nähe der Sparkasse und nimmt dich gern auf,« lenkte Ludwig von dem ihm unbehaglich werdenden Gespräch schnell ab.

»Ich habe selbst daran zuallererst gedacht. Aber ich mag Großmama bei der heutigen Teuerung nicht auch noch zur Last fallen. Ihr wißt doch, wie schwer es ihr wird, sich mit all den Lebensmittelkarten abzufinden, so daß sie stets meint, ihr armer, alter Kopf hielte das gar nicht mehr aus. Sie lebt in einer ewigen Angst, sie könne ihr Mädchen nicht satt machen. Ein Glück, daß Onkel Martin und Tante Gretchen jetzt endlich Wohnung gefunden haben, und ihr Haushalt wieder verkleinert ist. Nein, Großmama mag ich keinesfalls eine neue Sorge aufbürden. Ich nehme mir ordentlich Stullen mit – und basta. Dabei werde ich schon nicht verhungern.« Mit diesen Worten trug Lilli ihren geleerten Teller in die Küche.

»Ordentlich Stullen – wie sollen wir da mit unserer Brotration auskommen? Und womit schmieren? Das Kind kann doch von morgens bis abends nicht von Marmelade leben?« wendete die Mutter seufzend mit gefurchter Stirne ein.

»Gib mir zwei Stullen weniger mit zur Technischen Hochschule, Mutter; ich bekomme doch Mittagbrot,« rief Ludwig ohne Besinnen. Er war doch ein Prachtjunge, wenn er auch keine Kohlrüben mochte!

»Jedenfalls koche ich dir morgens eine Suppe, mein Mädel, die du dir in einer Flasche mitnimmst, damit du den ganzen Tag über nicht nur auf Brot angewiesen bist,« entschied die Mutter, als Lilli mit ihrer Nachspeise wieder das Zimmer betrat.

»Eine Thermosflasche solltest du haben, Lilli, da bleibt die Suppe kochend heiß,« riet der praktische Bruder.

»Ja, wenn ich erst das viele Geld am nächsten Ersten einheimsen werde, wird sie angeschafft, bis dahin gibt's kalte Suppe.« Lachend stellte Lilli das Geschirr zusammen.

Die Tafel wurde aufgehoben. Frau Doktor Steffen mußte zu ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Nationalen Frauendienst; Ludwig zu seinen Schülern.

Lilli aber streifte ihre Ärmel auf, band die große Küchenschürze über und machte sich eifrig an das Aufwaschen des Geschirrs. Denn das Dienstmädchen hatte Frau Doktor Steffen entlassen, der Verbrauch mußte in jeder Weise eingeschränkt werden. Zu den gröbsten Hausarbeiten kam morgens eine Frau aus der Nachbarschaft.

Lilli schreckte vor keiner Tätigkeit zurück. Schon als winziges Dingelchen, als sie kaum mit der Nasenspitze an den Tisch reichte, hatte sie der tatkräftigen Mutter zu helfen versucht. Auch heute tummelte sie sich, so daß die Rosen auf ihren Wangen sich noch vertieften. Und während draußen der Regen, mit großen Eiskörnern untermischt, gegen das Fenster prasselte, schmetterte sie durch das stille Haus: »O wie wunderschön ist die Frühlingszeit – die Frühlingszeit.«


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