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Grüne Weihnacht. Der ersehnte Schnee wollte und wollte nicht kommen. So sehnsüchtig auch die Jugend und die vielen Arbeitslosen darauf warteten, so tadellos Peter auch seine Schneeschuhe gewachst hatte.
»Gar kein rechtes Weihnachtsgeschäft!« brummten die Kaufleute. Denn weder Pelze noch Wollsachen oder Sportgeräte fanden genügenden Absatz.
Peter und Gitta klebten wie Fliegen an jedem weihnachtlich erleuchteten Schaufenster und überlegten, was sie sich alles wünschen würden, wenn die Eltern Geld dazu hätten. Auch das war schon eine Weihnachtsvorfreude.
»Glaubst du, daß wir in diesem Jahr einen Weihnachtsbaum kriegen, Peter?« fragte Gitta, die großen und kleinen Tannenbäume, die aus dem Walde in die Stadt gewandert waren, bewundernd.
»Klar, Mensch. Einer kauft bestimmt 'n Baum. Vater hat natürlich kein Geld dazu. Aber Mutti! Prima Sache, daß sie ihre Vertretung gerade jetzt zu Weihnachten hat.«
»Ob ich mir noch die kleine, süße Nähmaschine wünsche, auf der man ganz richtig nähen kann?« überlegte Gitta.
»Unnütze Ausgabe. Kannst ja auf Muttis großer genug nähen.«
»Jawoll. Da werde ich weggejagt, weil ich die Nadel zerbrechen kann.«
»Mutti ist ja jetzt den ganzen Tag nicht zu Hause«, meinte Peter pfiffig.
Gitta überlegte. Dann stieß sie ein seufzendes »Nee!« aus. »Mutti hat neulich gesagt, ich müßte bei allem, was ich tue, daran denken, ob sie wohl dabei sein könnte.«
»Tugendschaf!« zog Peter die kleine Schwester auf. Es war wirklich ein recht unbequemer Gedanke, immer an Muttis Kritik zu denken. Dann konnte man ja bald überhaupt nichts mehr unternehmen.
»Ein Jroschen die Mickymaus.« – »Ein Sechser die Weihnachtsknarre.« – »Wunderkerzen – Wunderkerzen für den Weihnachtsbaum, ein Jroschen das Paket.« – »Ein Jroschen die Mickymaus, die kleene – lauft von janz alleene!«
Nanu – die Stimme kannte Peter doch. All die quarrenden und plärrenden Kinderstimmen, die man da am Wittenbergplatz Weihnachtsartikel feilbieten hörte, wurden überschrien von dem kleinen Mickymausverkäufer. »Ein Jroschen die Mickymaus, die kleene.«
»Mensch, Fritz Kunze, wir kennen uns doch!« Der Nachsatz »lauft von janz alleene« blieb dem ausrufenden Jungen in der Kehle stecken, als er plötzlich Peter vor sich stehen sah.
»Peter Felsing«, sagte er erfreut, und sein blasses Gesicht färbte sich rot. Die beiden Jungen schüttelten sich die Hände.
»Menschenskind, du siehst ja wie Braunbier mit Spucke aus. Mußt dich mal wieder in Trömerhof rausfuttern lassen.«
Trömerhof – da versank der menschenbevölkerte Großstadtplatz mit dem Untergrundbahnhof, mit den tutenden Autos und den bimmelnden Elektrischen. Der graue Dezemberhimmel wurde klar und blau. Fritz sah für einen Moment Felder und Wiesen im Sonnenglanz liegen, er atmete wieder die kräftige Gebirgsluft und – – –:
»Ein Jroschen die Mickymaus.« Da war das Wunschbild zerflattert. Fritz war wieder tüchtiger Geschäftsmann.
»Na, wie geht's dir, Fritz? Verdienste tüchtig mit deinen Mickymäusen?« wollte Peter wissen.
»Es jeht. 'n Krösus kann man nich dabei werden. Konkurrenz is zu jroß.«
»Machste die Dinger selber?« Peter hatte für die aufziehbaren Mäuse technisches Interesse.
»Vater bekommt die Teile fertig von de Fabrik jeliefert. Er setzt se man bloß mit det Räderwerch zusammen. Dabei helfen wir.«
»Und was verdienste so am Tag?«
»Je nachdem. Neulich hatte ich zwo Emm. Aber immer is des Jeschäft nich so jut. Manchmal bekiek ich noch keene fünf Jroschen.« Und als ob er sich auf seine kaufmännische Pflicht besänne, schrie Fritz mit verstärkter Stimme: »Ein Jroschen die Mickymaus, die kleene – lauft von janz alleene.«
Peter und Gitta sahen ihm bewundernd zu. Wirklich, Fritz verkaufte zwei Mäuse, während sie so standen und zuguckten.
»Du, Fritze.« Peter hatte plötzlich einen Gedanken. »Du, ich werde dir bei deinem Mäusehandel helfen.«
»Wie willste denn das befummeln?«
»Du gibst mir einen Teil deiner Mäuse, und ich stell' mich damit an irgendeiner belebten Straße auf und verkaufe sie.« Peter gefiel das Ausrufen und Feilbieten.
»Und was wird mit'n Jeld?«
»Kriegste alles ehrlich, jeden Groschen, den ich einnehme.«
Fritz überlegte. »Nee«, sagte er schließlich. »Bist zwar 'n anständiger Knopp, aber sicher ist sicher.« Er begann aufs neue seine Mickymäuse aufzuziehen und auszurufen.
»Komm weiter, Peter. Wir wollen doch noch die Weihnachtsausstellung im Kaufhaus sehen«, drängte Gitta.
»Habe jetzt keine Zeit dazu. Du, Fritze, ich schenke dir auch was, wenn du mich mit verkaufen läßt.«
»Was'n?« Fritz machte eine Pause im Ausrufen.
»Mein Taschenmesser, das dir in Trömerhof so gut gefallen hat.«
»Zeich mal her. Is es auch noch janz?«
»Noch wie neu«, behauptete Peter. Es war zwar schon ein abgelegtes von Wolfgang. Aber Fritz fand es doch noch recht begehrenswert.
»Na, meinetwejen«, meinte er schließlich. »Ein Dutzend Mäuse will ich dir anvertrauen. Aber jeh nich etwa damit hops.« Er ließ Wolfgangs Taschenmesser in seine Tasche wandern. »Spätestens um sieben mußte wieder da sein. Entweder mit 'ner Mark zwanzig oder mit den nich verkauften Mäusen.« Damit händigte Fritz dem beglückten Peter eine Pappschachtel mit zwölf Mickymäusen ein. »Also mach's jut. Ein Jroschen die Mickymaus!«
»Erst müssen wir ins Kaufhaus, Peter«, verlangte Gitta.
»Ausgeschließt. Ich will doch bis sieben das ganze Dutzend Mäuse verkauft haben. Denk' mal, wie der Fritz sich freuen wird.«
»Ich freue mich aber nicht. Mir hast du's versprochen, mit mir zur Weihnachtsspielzeugausstellung zu gehen.« Gitta kämpfte bereits mit den Tränen.
»Meinetwegen geh alleine. Ich will jetzt zur Gedächtniskirche. Da ist am meisten Verkehr.«
»Erlaubt Mutti nicht, daß ich allein gehe. Und wenn du nicht mitkommst, erzähle ich, daß du Mäuse verkaufst.«
»Olle Petze!« Dann aber besann sich Peter, daß es klüger wäre, andere Saiten aufzuziehen. »Morgen gehe ich mit dir in die Weihnachtsausstellung. Wenn du jetzt nach Hause gehst, Gitta, schenke ich dir eine Mickymaus.«
»Darfste ja gar nicht. Die gehören ja Fritz.« Eine Mickymaus war sehr verlockend.
»Ich kaufe ihm eine ab.«
»Meinetwegen.« Gitta ergab sich in ihr Schicksal.
Peter kaufte sich von Gitta los, tat einen Groschen in die Pappschachtel und war somit selber sein erster Kunde. Gitta zog getröstet mit ihrer Mickymaus neben ihm her.
»So, nu mach' dich fort«, verlangte Peter, als man in die Nähe der Gedächtniskirche kam. An der Ecke vom Kurfürstendamm nahm er Aufstellung. Hier gingen am meisten Leute vorbei.
»Ich will zusehen, wie du verkaufst.«
»Nee, zusehen is nicht. Das bringt kein Glück.« Im Grunde war es Peter peinlich, vor Gitta seine Mäuse auszuschreien.
So zog die kleine Schwester nebst der Mickymaus beleidigt nach Hause.
Peter aber stand an der Ecke und schrie, daß die Gedächtniskirche wackelte: »Einen Groschen die Mickymaus, die kleine – läuft von ganz alleine!« Manch erstaunter Blick streifte den nett aussehenden Jungen.
In Scharen zogen die Leute an Peters Ecke vorbei. Aber keiner hatte Interesse für Mickymäuse. Alles hastete, seine Weihnachtseinkäufe zu machen.
»Einen Groschen die Mickymaus.« Peter schrie sich die Kehle heiser. Es war doch nicht so leicht, all die Mäuse an den Mann zu bringen, wie er sich das gedacht hatte. Und er hatte sich schon so darauf gefreut, Fritz das Geld einzuhändigen. Allmählich wurde das Ausrufen auch langweilig, wenn keiner darauf anbiß. Gerade als Peter genug von seiner kaufmännischen Laufbahn hatte und sich mit den elf unverkauften »Viehchern« wieder unverrichtetersache zu Fritz zurückbegeben wollte, hörte er einen kleinen Jungen sagen: »Da gibt's Laufmäuse, Muttichen, bitte, bitte, kaufe mir doch ein kleines Mäuschen.«
»Einen Groschen bloß die Mickymaus.« Mit neuerwachter Energie trompetete es Peter.
Und wirklich – die Dame blieb stehen und kaufte für »Bubi« eine Laufmaus. Peter gab Unterricht, wie die Maus aufzuziehen sei. Und die Dame wunderte sich im geheimen über die gute Ausdrucksweise des »armen Jungen«.
Es ging recht langsam mit dem Verkauf. Die Uhr an der Gedächtniskirche schlug schon halb sieben. Um sieben Uhr mußte er wieder am Wittenbergplatz bei Fritz sein. Peter schämte sich, sowenig Erfolg gehabt zu haben. Je später es wurde, um so weniger Kinder kamen vorbei. Und ungemütlich kalt wurde es auch allmählich an der windigen Ecke.
»Einen Groschen die Mickymaus.« Lange nicht mehr so unternehmungslustig als am Anfang klang es.
Zwei Herren gingen vorüber. Der eine blieb verwundert stehen.
»Ist Herr Peter, was verkaufen Mickymaus. Herr Peter hat neuer Beruf?« Die Schlitzäuglein von Doktor Ma-wu sahen ungeheuer erstaunt drein.
Peter erschrak. Deibel noch mal, mußte ihm der Gelbe auch gerade über den Weg laufen. Nun bekamen die Eltern sicher Wind von seiner kaufmännischen Laufbahn. Peter hatte so ein Gefühl, als ob sie nicht ganz einverstanden damit sein würden. Da fragte auch schon der Japaner: »Herrn Elter sein verstanden ein, daß Herr Peter Verkaufer von Mausen?«
»Ich wollte nur einem armen Jungen verkaufen helfen, damit er mehr verdient.« Daß es Peter selbst Spaß gemacht hatte, war ja nebensächlich.
»Herr Peter verdienen viel Geld mit Mausen?« erkundigte sich der Japaner.
»Nee«, kam die kleinlaute Antwort. »Ich habe erst zwei Groschen einbekommen.«
»Gut – werden ick kaufen alle Mickymausen. Dann Herr Peter nix braukt zu stehen an Straße. Wie viele Marks kosten die alle Mausen?«
»Stück 'n Groschen. Zehn Mäuse sind es noch – also eine Mark.«
»Gut. Werden ick geben zwei Marks, wenn Herr Peter wird gehen zu Hause und nix mehr verkaufen Mausen.«
»Aber Herr Doktor, was wollen Sie denn mit all den Mäusen?« lachte Peter.
»Werden ick nehmen Mickymausen zu Japan.« Die beiden Japaner zogen mit der Mäuseschachtel ab. Und Peter stand an der Gedächtniskirche und wußte nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Sein kaufmännisches Ehrgefühl hatte einen argen Stoß bekommen. Denn richtig verkauft hatte er seine Ware doch nicht. Er blickte auf das Zweimarkstück in seiner Hand. Eigentlich brauchte er Fritz nur eine Mark und zwanzig Pfennig davon abzugeben. Der konnte froh sein, wenn all seine Mäuse verkauft waren. Apfelkuchen mit Schlagsahne war durchaus nicht zu verachten. Peter hatte immer Appetit auf Kuchen. Nee, vernaschen wollte er das Geld doch nicht. Er wußte ja, wie schwer es seine Eltern verdienten. Aber jetzt vor Weihnachten konnte er noch gut ein paar Extragroschen gebrauchen. Er wollte doch jedem eine kleine Freude machen. Unter diesen Überlegungen war Peter bis zum Wittenbergplatz gekommen. Dort stand Fritz noch immer unter all den kleinen Verkäufern mit seinen laufenden Mäusen. Sehr vergnügt schien er nicht. Noch nicht die Hälfte hatte er verkauft.
Wie elend der Junge aussah. Sicher bekam er zu Hause nicht satt zu essen. Da dachte Peter nicht mehr an Apfelkuchen mit Schlagsahne und an Weihnachtseinkäufe. Er stieß Fritz mit dem Ellbogen an. »Du, Fritze, ich habe meine Mäuse alle verkauft.«
»Jawoll«, machte der ungläubig.
»Großes Ehrenwort. Zwei Mark zwanzig habe ich dafür eingenommen.«
»Wer's jlaubt. Zum Veräppeln mußte dir einen Dämlichen aussuchen.«
Aber als Peter ihm jetzt das Geld zeigte, machte Fritz große Augen. »Prima! Davon krichste de Hälfte ab, Peter.«
»Nee, is nich. Nimm man alles. Du brauchst es noch nötiger als ich.« Ehe Fritz Einspruch erheben konnte, hatte er das Geld in der Hand, und Peter lief mit »auf Wiedersehen, Fritze« schon über den Damm mitten durch alle Autos.
Viel zu langsam kommt Weihnachten für ungeduldige Kinder heran. Aber schließlich wird es doch mal Heiligabend, wo alle Weihnachtsarbeiten fertig sein müssen, wo ein Zimmer verschlossen ist und wo es nach Tannenbaum duftet und frischer Weihnachtsstolle.
Im Felsingschen Hause gab es allerlei Geheimnisse. Peter entwickelte wieder regste Geschäftigkeit. Er holte den niedlichen Weihnachtsbaum – allzu groß war er ja in diesem Jahr nicht –, befestigte das Holzkreuz und schraubte die Lichthalter ein. Dann putzte er ihn gemeinsam mit Renate und Gitta, wobei es natürlich Meinungsverschiedenheiten gab. Renate fand einen Schneebaum mit Silberlametta und Lichten am schönsten. Gitta wollte ihn möglichst bunt haben. Und Peter legte weniger Wert auf Schönheit als darauf, daß möglichst viel eßbare Dinge daran hingen. Heute hatte Renate, da Mutti noch bis nachmittags im Büro tätig sein mußte, reichlich zu tun. So überließ sie das Baumputzen den beiden Jüngeren. Sie selbst zog mit Wolfgang nach Tisch den großen Eßtisch aus und deckte ihn mit weißem Festtuch. Dann schmückte sie ihn mit Tannenzweigen, die Peter sich von dem Händler hatte schenken lassen.
Dem Vater machte es Spaß, bei den bunten Tellern zu helfen. Jedem legte er noch eine Kleinigkeit aus Marzipan mit einem bezüglichen Vers dazu. Auch Fräulein Lerche und Doktor Ma-wu, die Felsings zum Heiligabend eingeladen hatten, sollten ihren bunten Teller bekommen.
Ob Renate es schon wagen konnte, die Geschenke auf die Tafel zu legen? Man konnte sie ja zudecken. Aber Peter war so neugierig. Der sah durch ein eichenes Brett. Und Gitta nahm es auch nicht so genau, wenn es etwas zu erspähen gab. Renate musterte ihre Weihnachtsgaben. Der Schlips für Vater war sehr anständig. Reine Seide, selbst gehäkelt. Für Mutti ein Bettjäckchen aus feiner Wolle, ebenfalls Handarbeit. Die Eltern schliefen im ungeheizten Zimmer. Vater sagte, weil es gesünder sei, kalt zu schlafen. Mutti meinte, weil man Kohlen sparte. Der neue Wintermantel, zu dem sie und Wolfgang für Mutti gespart hatten, war nicht zusammengekommen. Immer wieder hatten sie ihre Sparkasse für wichtigere Dinge plündern müssen. Nun mußte Mutti noch mit ihrem abgetragenen Mantel weitergehen. Denn für sich etwas von ihrem Honorar zu verwenden, das war für Mutti ganz ausgeschlossen.
Es klingelte. Renate ließ ihren Aufbau im Stich und lief zur Tür. Aber Peter, Gitta und Lump waren ihr schon zuvorgekommen.
»Post!« schrie Peter. »Weihnachtspakete! Von der Oma. Hurra – eins aus Trömerhof, das ist für mich.« Er wollte gleich den Bindfaden lösen.
»Ich lese ›Frau Felsing‹ auf der Adresse, Peter.« Renate wies auf das Paket.
»Nanu?« verwunderte sich Peter. »Wieso schicken denn die an Mutti und nicht an mich, wo ich mich vier Wochen lang im Schweiße meines Angesichts für sie abgerackert habe? Und ich habe ihnen doch auch ein Päckchen mit Weihnachtsarbeiten geschickt.« Peter war empört, daß das Weihnachtspaket nicht ihm galt. Dazu hatte er sich abgemüht und für jeden auf Trömerhof etwas geschnitzt oder gebastelt. »Ob wir Mutti die Arbeit abnehmen und das Paket aufmachen, Renate? Sie wird müde sein, wenn sie spät nach Hause kommt.«
»Du bist wirklich rührend um Muttis Wohl bedacht«, lachte Renate den neugierigen Peter aus. »Nein, die Pakete sind an Mutti adressiert und bleiben für sie stehen.«
»Aber dies hier aus München, das ist doch an dich gerichtet, Renate.«
»Ja, von meinem Paten, von Onkel Hartwig. Ich lasse es auch bis zur Bescherung. Muß jetzt den Heringssalat garnieren. Und unterm brennenden Weihnachtsbaum freut man sich viel mehr über alles.« Renate packte alle Postsendungen zusammen und trug sie ins Weihnachtszimmer. Jetzt hatte sie keine Zeit dazu.
Sie wollte noch vor der Bescherung in die Kirche zum Weihnachtsgottesdienst, den Pastor Richter abhielt.
Der Heilige Abend, der draußen auf dem Lande sich auf Fittichen der Andacht herabsenkt, ist in der lärmenden Großstadt plötzlich da. Die wenigsten fühlen sein Nahen. Bis zum letzten Augenblick hasten und schaffen sie.
Nun war's so weit. Die Familie war versammelt. Einen letzten befriedigten Blick hatte Mutti noch über die Tafel geworfen. Vater zündete die Weihnachtslichter an. Peter knipste das elektrische Licht aus. Gitta saß am Klavier und spielte eine Variation zu »Stille Nacht, heilige Nacht«, wobei sie in ihrer Aufregung immer an derselben Stelle einen Ton daneben griff. Und wenn nicht Heiligabend gewesen wäre, hätte ihr Wolfgang bestimmt ein »Kamel!« an den Kopf geworfen. So aber achtete keins auf den falschen Ton. Alle stimmten sie andachtsvoll in das Weihnachtslied ein. Herr Felsing vergaß seine Sorgen. Mutti dachte nicht mehr daran, ob der Heringssalat auch wohl sauer genug sei. Fräulein Lerche sah beim Flimmern der Weihnachtslichter das verschneite Pfarrhaus ihrer Kindheit, wo ihr Vater nach dem Gottesdienst die fromme Weise gespielt hatte. Der Japaner, die Schlitzaugen so groß aufgerissen, als es ihm nur möglich war, blickte in den brennenden Tannenbaum und versuchte das Lied mitzusummen. Die Kinder fielen mit hellen Stimmen ein. Selbst Peter dachte nicht daran, nach seinem zugedeckten Aufbau zu schielen.
Stille trat ein, als das Lied beendigt war.
»Deutsches Weihnackt schöner Fest«, sagte der Japaner in das andächtige Schweigen hinein.
»Nun wollen wir bescheren!« drängte Gitta.
Jeder wurde vor seinen Platz geführt. Eins, zwei, drei – bei drei zog ein jeder den Bogen, der seine Gaben verbarg, fort. Und nun begann das Sichfreuen, das Anprobieren und das gegenseitige Sichzeigen der Geschenke. Und vor allem das Danken. Der Vater, der nie Eitelkeit kannte, probierte vor dem Spiegel den neuen Hut von seiner Frau, Renates Schlips, Gittas Schal und die selbstgestrickten Handschuhe von Fräulein Lerche.
»Fräulein Lerche ist wirklich bestrickend«, sagte Wolfgang lachend. Für jedes Familienmitglied hatte die treue Seele warme Handschuhe gestrickt. Selbst Doktor Ma-wu ging nicht leer aus. Wenn sie auch für die kleinen, zierlichen Hände des Japaners zu groß geraten waren. »Da werden Sie schon reinwachsen, Herr Doktor«, tröstete Gitta, die heute, wo er ihr die »süße« kleine Nähmaschine geschenkt hatte, gar keine Angst mehr vor dem Japaner hatte. Woher wußte Doktor Ma-wu nur, daß sie sich die brennend gewünscht hatte?
Der Japaner kam heute aus dem Staunen nicht heraus. Dieses Sichfreuen über irgendeine Kleinigkeit, nicht nur aus Höflichkeit, sondern aus dem Herzen heraus, das war ihm neu. Wie liebevoll Frau Felsing über die Handarbeiten der Kinder strich. Als ob sie ohne das Bettjäckchen von Renate und den Klammerbeutel von Gitta gar nicht hätte weiterleben können. Peter war selig. Er hatte einen großen Handwerkskasten, in dem nichts fehlte, was ein richtiger Handwerker brauchte, auf seinem Platz gefunden. Wolfgang saß bereits am Klavier und spielte aus den Bachschen Fugen und Präludien, die der Weihnachtsmann ihm gebracht hatte. Und Renate? Nein, wie das Mädel sich über den Seidenstoff zum Einsegnungskleid freute. Es war doch ganz selbstverständlich, daß die Eltern für die Kleidung ihrer Kinder sorgten.
»Deutsches Weihnackt schöner Fest!« wiederholte Doktor Ma-wu immer wieder. Er dienerte und bedankte sich für die Kleinigkeiten, die er von Felsings erhalten hatte, ungezählte Male. Besonderen Spaß machten die Scherzverse des Vaters.
»Unsere Pakete – Mutti, wir müssen erst die Pakete auspacken«, erinnerte Peter, als die Mutter zu Tisch bitten wollte. Damit löste er auch schon die Bindfaden. Es half nichts, der Heringssalat mußte warten.
»Prima Sache!« Voller Andacht blickte Peter auf den großen Schinken, auf die Würste, selbstgebackenen Pfefferkuchen und Marzipan, auf all die rotbackigen Äpfel aus dem Trömerhof. »Für unsern fleißigen Gehilfen« stand an einem Blecheimerchen zu lesen. »Knorke – Erdbeermarmelade, die ich so gern esse – die gute Frau Trömer! Das verdankt ihr alles mir. Aber ihr dürft mitfuttern«, meinte Peter gnädig. »Ob Fritz Kunze auch so'n feines Freßpaket bekommen hat?«
»Sicher. Trömers wissen ja, wie nötig es Fritz und seine Eltern brauchen.«
»Na, und dazu noch unser Weihnachten.« – Schon am Vormittag hatte Peter heimlich als Weihnachtsmann ein großes Paket bei Kunzes abgegeben. Ein Wintermantel, den Peter ausgewachsen, war darin. Da brauchte Fritz nicht mehr zu frieren, wenn er wieder mal mit Mickymäusen auf der Straße stehen mußte. Und Märchenbücher und Spielzeug von Gitta, Lebensmittel von Mutti und ein größeres Geldgeschenk für die Eltern von Fritz, zu dem jeder im Hause sein Scherflein gespendet hatte. Doktor Ma-wu hatte gleich zehn Mark dazu gesteuert. Peter stellte sich vor, was das für ein froher Weihnachtsabend in der ärmlichen Hinterhauswohnung werden würde. Dabei wurde er selbst noch viel froher.
Als die Liebesgaben von der Oma und das Weihnachtspaket aus München auch verteilt und genügend bewundert waren, konnte endlich der Heringssalat zu seinem Recht kommen. Da rief Peter, der die Papiere hinausbeförderte: »Hier ist ja noch eine Postsache von irgendeiner Redaktion. Wohl für Fräulein Lerche.« Er nahm sich nicht mal Zeit, die Adresse zu prüfen, um nur nicht zu spät zum Abendbrot zu kommen.
»Für mich?« fragte Fräulein Lerche, verwundert den Brief betrachtend. »Aber der ist ja gar nicht für mich. Der ist für Sie, Renate.«
»Nanu?« Renate warf einen Blick darauf. Sie wurde blaß und dann wieder rot. Das war ja die Redaktion, an die sie damals die Bilder für das Photopreisausschreiben gesandt hatte. Da so lange Zeit inzwischen vergangen war, hatte sie schon gar nicht mehr daran gedacht. Jetzt öffnete sie den Brief mit fliegenden Händen. Sollte es möglich sein?
Eine illustrierte Zeitung war darin. »Photopreisausschreiben« stand darüber fett gedruckt. Aber das Bild, ein entzückendes, strampelndes Baby, das den Ersten Preis erhalten hatte, kannte Renate nicht. Aus welchem Grunde schickten sie ihr denn das zu? Was ging es sie denn an, wenn andere Leute einen Preis erhielten?
»Zum Abendbrot, Renate«, drängte Peter. Vom Freuen allein wurde man nicht satt.
Eben wollte Renate das illustrierte Blatt enttäuscht beiseitelegen, da fiel ein mit Schreibmaschine beschriebener Bogen heraus. »Sehr geehrte gnädige Frau!« las sie. »Wir beehren uns, Ihnen hierdurch mitzuteilen, daß Sie den Zweiten Preis in unserm Preisausschreiben erhalten haben. Die auf den Zweiten Preis entfallenden achtzig Mark gehen Ihnen per Postanweisung zu. Das preisgekrönte Photo erscheint in anliegender Ausgabe unserer illustrierten Zeitschrift. Wir sehen weiteren Photoeinsendungen jederzeit gern entgegen. Hochachtungsvoll ...«
Vor Renates Augen verschwommen die Buchstaben. »Zu Tisch, Renate, der Heringssalat wird kalt«, rief der verfressene Peter.
Statt aller Antwort stieß Renate ein jubelndes »Hurra!« aus und sprang mit dem Brief wie eine Sextanerin und nicht wie eine Schülerin der Obersekunda um die Weihnachtstafel.
»Mensch, haste 'n Klaps?« rief Peter verblüfft.
»Kalte Kompresse gefällig?« Wolfgang sah sie mitleidig wie einen harmlos Verrückten an.
»Fräulein Renate wird haben gewinnt großer Los.« Der Japaner traf beinahe ins Schwarze.
»Das große Los nicht, aber – den Zweiten Preis von einem Photopreisausschreiben. Achtzig Märker. Hurra! Muttichen, jetzt kriegst du 'nen neuen Wintermantel!« Renate war ganz aus dem Häuschen.
»Alle Wetter, hast du Schwein!« Die Brüder studierten aufgeregt das Schreiben.
»Aber Renate – davon hast du ja gar nichts erzählt, daß du dich beteiligt hast«, meinte Mutti ebenso erfreut wie erstaunt.
Fräulein Lerche hatte inzwischen das illustrierte Blatt zur Hand genommen. »Wirklich, ganz allerliebst!« urteilte sie. Der Japaner blickte mit hinein. »Oh, kleines Dame Gitta weint«, sagte er bedauernd.
»Was – ich?« Gitta stand da wie vom Donner gerührt. Dann warf sie einen Blick auf das prämiierte Bild und – brach in Tränen aus. »Das ist eine Gemeinheit, daß du mich heulend mit Lump geknipst hast und mich mit dem viereckigen Plärrmund auch noch in eine Zeitung bringst. Ich schaniere mich vor allen Leuten!« Gitta war empört.
»Aber Brigittchen, es weiß doch keiner, daß du das bist«, beruhigte der Vater sein Kleines. »Das Bild ist doch sehr drollig. Sieh nur, wie mitleidig dich Lump anguckt, als ob er dich trösten wollte.«
»Gitta, du darfst dir was wünschen. Du bekommst einen Trostpreis. Und Lump, geliebte Hundetöle, du kriegst eine Extrawurst«, versprach Renate in ihrer Seligkeit. »Das war die schönste Weihnachtsüberraschung!«
Der Heringssalat wurde zu Peters Beruhigung endlich verzehrt. Die Weihnachtslichter brannten herunter.
Zu Silvester wurde der Weihnachtsbaum noch einmal angezündet. Um die Jahreswende warf er seinen Lichterglanz auf das verflossene Jahr zurück, hinein in das kommende. Was würde es bringen, das neue Jahr?