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Ein früher Herbst hatte eingesetzt. Sturm und Regen brachte der Oktober mit. Hui – fuhr der Wind über die freien Sportplätze am Funkturm. Der Jugend machte das nicht viel aus. Die lief sich warm im Langstreckenlauf, beim Hoch- und Weitsprung, beim Jagd- und beim Fußball. Hier war Peter Felsing einer der Tüchtigsten. Immer allen voraus. Was machte es ihm, daß er bis aufs Hemd durchnäßt heimkehrte? Mutti würde das schon wieder in Ordnung bringen. Und Mutti stand und wusch, trocknete und bügelte klaglos bis in die Nacht hinein, um alles zu schaffen.
Renate konnte nicht mehr soviel helfen. Sie hatte jetzt reichlich für die Schule zu arbeiten. In der Obersekunda wurde viel verlangt. Trotz der ungemütlichen Dunkelheit stand Renate jeden Morgen um sechs Uhr auf, um das Eßzimmer vor der Schule zu reinigen, so schwer ihr es auch manchmal wurde. Denn ins Bett kam sie auch erst spät. Der Vater schlief schlecht durch all die sorgenvollen Gedanken, die bei Nacht riesengroß anwuchsen. Er ging möglichst spät schlafen. Und da Renate kein eigenes Zimmer mehr hatte, sondern sich auf der Chaiselongue im Eßzimmer aufbettete, konnte sie auch nicht eher ins Bett. Da kam es manchmal vor, daß sie in den Schulstunden schlaff und unfrisch war. Der Predigerunterricht nahm Renates Zeit ebenfalls mehr in Anspruch. Sie war mit ganzer Seele dabei. Der Geistliche verstand es, alles Gute in den jungen Herzen zu erwecken und sie mit gläubiger Religiosität zu erfüllen. Für den Konfirmationsunterricht lernte das junge Mädchen Sprüche und Kirchenlieder, machte Ausarbeitungen über den wahren Glauben und über die Nächstenliebe bis in die Nacht hinein. Pastor Richter sollte mit ihr zufrieden sein.
Mit der herbstlichen Jahreszeit schlief leider Renates Geschäftsverbindung mit den Marktfrauen ein. Zuerst erkrankte Mutter Buttermilch an Gelenkrheumatismus, den sie sich bei dem häßlichen Wetter geholt hatte. Sie lag im Krankenhaus. Renate besuchte sie und brachte ihr von Muttis eingekochtem Viermus zur Erfrischung.
»Jotte doch, Herzeken, so ville Umstände machste dich wejen mich olles Wrack«, sagte Mutter Buttermilch dankbar. »Nee, det will immer noch nich uff de Pedale. Am Ende kennen sie mich bald Maß nehmen zu's Sarch.«
»Aber Mutter Buttermilch, wie kommen Sie nur auf solche Gedanken?« ereiferte sich Renate. »Die Schwester hat mir erzählt, der Arzt wäre mit Ihren Fortschritten recht zufrieden.«
»Ooch jut«, meinte Mutter Buttermilch gleichmütig, »aber wenn unser Herrjott zu mir sagen tät: Buttermilchen, nu is Schluß, nu komm man ruff zu mich und vakoofe deine Radieser hier in de himmlischen Jefilde – mich soll's recht sind.« Sie schien sich vorzustellen, daß oben im Himmel auch Wochenmarkt abgehalten wurde.
Mutter Buttermilch wurde wieder gesund »uff de Pedale«. Aber sie durfte während des Winters nicht ihren Stand auf dem Markt beziehen. Ihre Tochter Lene mußte statt der Mutter Kohl und Winteräpfel verkaufen. Und wenn sie auch »man dämlich« war, die Lene, es mußte eben gehen. Lene machte selbst ihre Abrechnungen. Die brauchte keine Buchhalterin. Ob's nun stimmte oder nicht. Das war ihr »schnuppe«. Und schließlich war das Wetter auch nicht so verlockend, um nach Marktschluß noch bei Wind und Regen sich Ausrechnungen machen zu lassen. Da packte man so schnell wie möglich seinen Kram zusammen und machte, daß man ins Trockne kam. Renate hätte das Wetter nichts ausgemacht, sie war ja nicht aus Zucker. Wenn sie Mutti nur weiter mit Lebensmitteln hätte beliefern können. Aber Eierschulzen sowohl wie die Schlächterfrau dankten für ihre Dienste und vertrösteten sie aufs nächste Jahr. So war auch Renate abgebaut.
Im Oktober hatte Gitta Geburtstag. Elf Jahre wurde sie alt. Wochenlang vorher schrieb sie schon ihren Wunschzettel und überlegte, wen von ihren Schulfreundinnen sie dazu einladen sollte.
»Brigittchen, du mußt in diesem Jahre vernünftig sein. Du weißt doch, daß wir jetzt sehr sparen und alle unnützen Ausgaben lassen müssen«, stellte die Mutter dem Kinde vor.
Gitta schob die Unterlippe vor. Sie wollte nicht vernünftig sein. »Geburtstag ist keine unnütze Ausgabe. Und die Sachen, die ich mir gewünscht habe, brauche ich notwendig. Besonders die vernickelten Schlittschuhe und Sportjacke und Mütze.«
»Du hast doch die Schlittschuhe, die Peter zu klein geworden sind, Brigittchen. Und deine Sportjacke ist noch ganz ordentlich, Kind.«
»Die habe ich schon ein ganzes Jahr getragen, und dann habe ich sie noch obendrein von Renate geerbt. Ich will nicht immer olle abgelegte Sachen kriegen.« Es klang weinerlich.
Kein Wort sagte die Mutti. Sie blickte das unverständige Mädel nur an.
»Na ja. Ist doch auch wahr«, bekräftigte Gitta unsicher. »Und Kindergesellschaft habe ich mir jedes Jahr zu meinem Geburtstag einladen dürfen.«
»Bist du wirklich noch zu klein, Brigittchen, um zu verstehen, daß in diesem Jahre alles anders ist? Daß deine Eltern große Sorgen haben, weil der Vater seine Stellung verloren hat?« stellte die Mutter der Kleinen mit liebevollem Ernst vor.
»Dann soll Vater wieder eine Stellung annehmen. Alle meine Freundinnen haben sich Kinder zu ihrem Geburtstag einladen dürfen, bloß ich nicht.« Bitterlich schluchzend eilte das unartige Mädel aus dem Zimmer.
Draußen im Korridor wäre sie – o Schreck – fast mit dem Japaner zusammengeprallt.
Doktor Ma-wu machte der heulenden Gitta eine Verbeugung, die ihren Schmerz ein wenig besänftigte.
»Oh, kleines Dame Gitta weint«, sagte er, seinen glatten schwarzhaarigen Kopf betrübt schüttelnd. »Oh, was ist Sache Ur damit?«
Mitten in ihrem Gram mußte Gitta laut lachen. »Die Ursache davon heißt es, Herr Doktor Ma-wu.« Es war für Gitta ein erhebendes Gefühl, daß sie etwas besser wußte als der erwachsene Japaner.
»Gut – gut – Ursache davon.« Doktor Ma-wu prägte sich den Satz ein. »Was ist Ursache von Weinen, kleines Dame?«
»Ich – ich soll in diesem Jahre meinen Geburtstag nicht feiern. Jedes Jahr durfte ich mir meine Freundinnen am 20. Oktober einladen. Alle meine Freundinnen geben Kindergesellschaften am Geburtstag. Bloß ich nicht.« Gitta schluchzte wieder in herzbrechendem Mitleid mit sich selbst.
»Oh, ick leid tun, zu sehen kleines Dame Gitta traurik. War kleines Dame nix artig, weil sie nix ist erlauben zu feiern Geburt?«
Die Frage war peinlich. Was nützen einem alle Verbeugungen, wenn man gefragt wird, ob man artig gewesen ist? Und überdies hatte Gitta die deutliche Empfindung, daß sie sich soeben drin bei Mutti ganz und gar nicht artig benommen hatte.
»Weil Vater abgebaut ist und keine Stellung mehr hat, darf ich mir keine Kinder einladen. Mutti sagt, wir müssen sparen«, kam es hinter Gittas Taschentuch hervor.
Doktor Ma-wu verstand. »Kleines Dame Gitta soll nix weinen. Wird sein leicht viel Fest für Geburt«, versprach er.
»Vielleicht«, verbesserte Gitta ein wenig getröstet. Dann machte sie, daß sie davon kam. So nett Doktor Ma-wu auch war, wer konnte wissen, ob er sie nicht in irgendein Tier verzaubern konnte.
Drinnen verhandelte Doktor Ma-wu mit Frau Felsing. »Kleines Dame Gitta sein traurik, oh, sehr traurik, weil sie nix sein erlauben, zu einladen Kinders an Tag von Geburt. Oh, ick bitten, gnädiges Frau, zu sein erlauben, ick einladen kleines Freunde für kleines Dame Gitta zu Schokolade und Kuken an 20. Oktober. Wird sein mir großer Vergnügen.«
»Nein, Herr Doktor, vielen Dank. Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie Brigittes Freundinnen zum Geburtstag einladen wollen. Aber das Kind muß lernen, Opfer zu bringen. Durch ihr unvernünftiges Betragen zeigt sie, daß sie auf dem besten Wege ist, eine kleine Egoistin zu werden. Wir haben sie als Nesthäkchen zu sehr verwöhnt.«
»Was ist Nesthäken?« erkundigte sich der Japaner lernbegierig.
»Das Jüngste, das Kleinste im Familiennest«, erklärte Frau Felsing.
»Kleines Dame Nesthäken wird sein nix Egoist«, beteuerte Doktor Ma-wu.
Der 20. Oktober rückte näher. Gitta wagte nicht mehr darum zu bitten, daß sie ihre Freundinnen einladen dürfe. Mutti hatte sie sich noch einmal vorgenommen und hatte ihr klargemacht, wie jeder einzelne der Familie sich Mühe gäbe, dem Vater diese schwere Zeit zu erleichtern. Wie ihre Geschwister freudig Opfer brächten und halfen, mit zum Lebensunterhalt beizusteuern.«
»Ich würde auch sehr gern helfen. Aber ich kann doch nichts dafür, wenn ich noch zu klein dazu bin«, beteuerte Gitta. Denn sie war im Grunde ihres Herzens ein gutes Kind, trotz ihrer selbstsüchtigen Wünsche.
»Keiner ist zu klein dazu, auf seine Wünsche zu verzichten, Brigittchen. Du hilfst deinen Eltern, indem du zufrieden mit dem bist, was sie dir geben können, und nicht um etwas bittest, was ihnen schwer wird, dir abschlagen zu müssen. Denk' mal, Kind, wie gut du es hast und wieviel Grund, dankbar zu sein. Du hast dein Bett zum Schlafen, Kleidung und Essen. Wie viele arme Kinder würden gern mit dir tauschen.«
In Gittas offenem Gesicht kämpfte es. Es zuckte weinerlich um die Mundwinkel. Aber mit aller Willenskraft zwang sie die Tränen zurück.
»Ich will euch auch helfen, Mutti, und mir keine Kinder zu meinem Geburtstag einladen. Ich will auf meine Wünsche verzichten«, versprach sie. Allerdings mit etwas belegter, unsicherer Stimme.
»Du bist unser gutes Kind!« Anerkennend strich ihr die Mutter über die blonden Zöpfchen, die ihr von jeder Seite über das Ohr hingen.
Da war es gar nicht mehr so schwer, Verzicht zu leisten.
»Ihr seid alle wieder zu meinem Geburtstag ausgeladen«, verkündete Gitta Felsing am nächsten Tage in der Schule. Denn sie hatte schon vor Wochen dieser oder jener Schulfreundin im geheimen mitgeteilt, daß sie am 20. Oktober zur Geburtstagsschokolade eingeladen würde.
Das gab eine große Enttäuschung. »Warum denn bloß? Als Strafe? Hast du was ausgefressen, Gitta?« So bestürmte man sie.
Gitta schwankte. Es war recht beschämend, zu sagen, daß man nicht mal Geld zur Geburtstagsfeier hatte. Die andern würden das gar nicht verstehen. Dann schon lieber schwindeln und so tun, als ob es zur Strafe sei.
Sie wurde rot und nickte mit dem Kopf.
»Was hast du denn ausgefressen, Gitta?« wollte ihre »Beste«, Susi Wigand, wissen.
»Geht euch nichts an«, war die patzige Antwort.
»Gitta Felsing war unartig und darf deshalb ihren Geburtstag nicht feiern.« Hübsch war es nicht von einer besten Freundin, daß sie das überall in der Sexta verbreitete. Wäre Gitta doch bloß ehrlich gewesen und hätte nicht geschwindelt. Mit Susi Wigand war sie jedenfalls »schuß auf ewig«.
»Was hat denn heute unser Kleinchen?« erkundigte sich der Vater mittags bei Tisch, erstaunt das nachdenkliche Gesicht seiner Jüngsten musternd.
»Ich habe mich mit Susi Wigand verkracht. Die ist gemein.«
»Aber Gitta, es ist doch deine beste Freundin«, stellte ihr Renate vor.
»Da such' ich mir eben eine neue Beste.« Gitta tat, als ob es ihr ganz gleichgültig wäre, daß sie mit Susi »schuß auf ewig« war.
Aber nachmittags vertraute sie sich doch der großen Schwester an. Schließlich, wenn man mit seiner besten Freundin »schuß auf ewig« ist, braucht man Trost.
Renate dachte nicht daran, die Kleine zu trösten.
»Du hast ja einen Triller, Gitta! Siehste, das kommt vom Schwindeln. Es ist doch keine Schande, daß Vater stellungslos ist und man kein Geld für Geburtstagsfeiern hat. Aber wenn man seinen Geburtstag als Strafe nicht feiern darf und noch obendrein schwindelt, das ist eine Schande.«
Gitta sah das auch durchaus ein. Aber Susi beichten, daß sie geschwindelt habe, nein, das wollte sie doch nicht. Lieber war sie mit ihr »schuß«.
»Hör' mal, Wolfgang«, sagte Renate zu ihrem Intimus einige Tage vor dem 20. Oktober, »unser Kleinchen darf an ihrem Geburtstag nicht ganz leer ausgehen. Verschiedenes arbeiten Mutti und ich für sie. Und Vater brachte gestern auch ein Paket mit heim. Aber ich möchte ihr so gern ein paar Freundinnen einladen. Ganz heimlich als Überraschung. Mutter meint zwar, Gitta müsse verzichten lernen. Tut sie ja auch. Wenn es ihr auch recht schwer wird. Ich glaube, Mutti wird nichts dagegen haben, wenn wir ihr als Belohnung, daß sie verzichten wollte, ein paar Kinder einladen. Natürlich nur ganz einfache Bewirtung. Irgendwelche Ausgaben dürfen den Eltern nicht erwachsen. Wir beide müssen dazu zusammenlegen.«
»Ganz meine Meinung, mein Söhnchen. Das ganze Jahr redet unser Kleinchen von seinem Geburtstag, und nun, wo es so weit ist, soll's damit Essig sein. Nee, wir wollen ihr den Zwanzigsten feiern. Was meinst du, wieviel wird jeder berappen müssen? Ich habe nämlich noch den Rest für meinen Kursus als Fremdenführer auf Pump.«
»Schokolade und Kuchen muß sein. Sonst ist's kein richtiger Geburtstag. Schlagsahne ist nicht nötig. Ich könnte unter Muttis Anleitung einen Pulverkuchen backen, der ist billig. Wenn wir jeder zwei Mark spendieren – ich denke, damit kommen wir aus.«
»Bewilligt. Aber wie ist's mit dem Abendbrot? So'ne kleinen Kröten von elf, zwölf Jahren haben riesengroßen Appetit. Die können belegte Brötchen ohne Komma und ohne Punkt futtern.«
»Vielleicht könnte man sie vor dem Abendbrot fortschicken?« überlegte die Schwester.
»Mensch, biste doof? Mit ohne Abendbrot! Da ›schaniert‹ sich unser Kleinchen viel mehr, als wenn wir ihr die Krabben überhaupt nicht einladen. Nee, Abendbrot muß sein.«
»Ich will's mit Mutti überlegen.« Das war immer die letzte Zuflucht, wenn man selbst nicht mehr weiter wußte.
Die Mutter freute sich über ihre beiden Großen. So sollte es sein bei Geschwistern. Einer für den andern. Sie hatte nichts mehr dagegen, wenn die Kinder Brigittchen den Geburtstag in bescheidener Form feiern wollten. Da es eine Überraschung werden sollte, waren ja auch die erzieherischen Gesichtspunkte bei der Kleinen genügend berücksichtigt. Ihr Mann war überdies nicht damit einverstanden gewesen, daß gerade sein Liebling unter den verschlechterten Wirtschaftsverhältnissen leiden sollte.
Renate lud heimlich fünf Schulfreundinnen von Gitta ein und nahm ihnen das große Ehrenwort ab, der Schwester kein Sterbenswörtchen davon zu verraten. Natürlich war auch Susi dabei. Denn die Feindschaft auf ewig hatte noch keinen Tag gewährt.
Lange brannte vor dem 20. Oktober das Licht bei Felsings des Abends. Nanu? Frau Felsing war doch sonst so sparsam mit dem Verbrauch des elektrischen Lichts. Und nun saß sie bis in die Nacht hinein und strickte nach Fräulein Lerches Angabe eine neue rote Sportjacke für Gitta. Die Mütze dazu arbeitete Renate. Auch einen Pulverkuchen rührte sie nach Muttis Rezept ein, als Gitta im Bett war.
Peter mochte natürlich nicht zurückstehen. Er mußte sich ebenfalls bei Gittas Geburtstagsfeier beteiligen.
»Geld habe ich keins«, teilte er als erstes mit.
»Also lieferst du bloß den Appetit zu Schokolade und Kuchen«, lachte ihn Wolfgang aus.
Renate wußte Rat. »Weißt du, Peter, bringe doch dein Kasperletheater und die Laterna magica wieder in Ordnung. Dann kannst du Vorführungen machen. Das gibt Spaß.«
»Au ja, prima Sache! Aus meinem Zauberkasten kann ich auch verschiedene Sachen machen. Irgendwas, wobei sich die Mädels tüchtig graulen.«
»Du willst ihnen doch eine Freude machen, Peter.«
So saß Peter und bastelte an den selbstgebauten Theaterkulissen, fertigte einen fürchterlich »graulichen« Teufel an und ließ seinen Kasperle große Reden halten. Die Folge von seiner dramatischen Kunst war, daß er das nächste Lateinextemporale mit einer Vier schrieb.
Als Renate dem Japaner einen Tag vor Gittas Geburtstag das Teeservice hereinbrachte, fragte er: »Welcher Torte liebt kleines Dame Gitta am mehrsten?«
Renate wollte aus Bescheidenheit nicht recht mit der Sprache heraus.
»Gut, werden ick kaufen zwei Tortes, kann kleines Dame Gitta wählen aus der beste.«
»Keinesfalls, Herr Doktor.« Jetzt wurde Renate energisch. »Es ist furchtbar nett von Ihnen, wenn Sie Gitta eine Torte schenken wollen. Aber natürlich nur eine, nicht gleich en gros. Baisertorte mit Schlagsahne ißt sie am liebsten.«
»Kaufen wir Baisertorte, so groß wie Rad am Wagen. Was tut kleines Dame sich außer das wünschen?«
»Das ist mehr als genug, Herr Doktor. Gitta soll nicht verwöhnt werden.«
»Aber Feier wird sein mit vieles kleines Dames. Hat mir erzählen Herr Wolfgang. Wird kleines Dame Gitta lacken, nix mehr weinen.« Der Japaner lachte selber von einem Ohr zum andern.
Auch Fräulein Lerche winkte Renate geheimnisvoll in ihr Zimmer. »Was meinen Sie, Renate, wird der Pullover Gitta passen?« Sie zeigte ihr einen allerliebsten selbstgearbeiteten Pullover in Rot und Blau, passend zu Sportjacke und Mütze.
»Fräulein Lerche, Sie haben selbst für Gitta gearbeitet? Das ist ja rührend von Ihnen. Wird die Gitta sich freuen. Die springt morgen deckenhoch.«
Vorläufig freute sich Gitta noch gar nicht. Als sie den Eltern wie allabendlich den Gutenachtkuß gab, hielt sie der Vater an ihren Rattenschwänzchen fest. »Morgen haben wir eine große Tochter von elf Jahren.«
»Och«, machte Gitta und warf den blonden Strubbelkopf zurück. »Ich würde am liebsten heute einschlafen und erst übermorgen aufwachen.«
»So wenig freust du dich auf deinen Geburtstag, Herzchen?« fragte der Vater niedergeschlagen, daß er seiner Kleinsten nicht einmal diese Freude mehr verschaffen konnte.
Eben wollte Gitta noch erwidern: Na, wenn ich nichts geschenkt kriege und mir keine Kinder einladen darf, dann ist mir der ganze Geburtstag schnurz und piepe. Aber da sah sie mit einemmal, wie traurig des Vaters Augen blickten. Und daß sein blondes Haar fast weiß geworden, das hatte sie vorher auch noch nie bemerkt. So bezwang sich Gitta und sagte tief atmend: »Och, es ist ja gar nicht mehr lange bis Weihnachten. Da kriege ich bestimmt was geschenkt. Und Mutti sagt immer, die Hauptsache ist, daß wir alle gesund sind.«
Da lachte der Vater, und Mutti meinte lächelnd: »Man merkt doch, daß du morgen elf Jahre alt wirst, Brigittchen. Mit zehn Jahren ist man noch nicht so verständig.«
»Pst, Gitta, soll ich dir mal was erzählen?« fragte Peter, der in der Küche Stiefel putzte, geheimnisvoll.
»Au ja! Ist es was mit meinem Geburtstag?«
Peter machte ein vielsagendes Gesicht und nickte.
»Ach, Peterchen, verrate es mir doch, bitte, bitte.« Heimlich hoffte Gitta doch noch auf einen Geburtstagstisch, wenn er auch nur ganz klein ausfiel.
»Darf nicht. Habe Stillschweigen gelobt.« Peter sah kolossal wichtig aus.
»Ich sage es auch keinem Menschen wieder. Bitte, bitte, Peter.« Nein, war die Gitta neugierig.
»Also morgen – – –«, begann Peter und machte eine aufregende Pause.
»Ja, morgen – was ist morgen?« Ganz atemlos war Gitta vor Erwartung.
»Morgen vor elf Jahren – da hat die Welt einen Affen gekriegt – ha – ha – ha – ha!« Lachend lief Peter mit seinen Stiefeln davon. Gitta wütend hinterdrein.
Am andern Morgen goß es in Strömen. Halbdunkel war es noch, als Renate Gitta weckte: »Geburtstagskind – sieben Uhr – du mußt aufstehen.«
Gitta wollte weder Geburtstagskind sein noch aufstehen. Schlafen wollte sie, nichts weiter. Sie knurrte als Antwort wie Lump.
Zehn Minuten später erschien Mutti. »Brigittchen, es ist höchste Zeit, daß du aufstehst. Glück wünsche ich dir erst später, Herzchen.«
Es war Gitta noch ganz und gar nicht nach Glück zumute. Unglücklich war sie, daß sie aus dem warmen Bett raus mußte.
Als sie dann etwas munterer am Kaffeetisch erschien, stand auf ihrem Platz ein Glückskleetöpfchen. Renate wollte dem Schwesterchen gleich morgens eine Freude machen. Die Eltern schlossen ihr Jüngstes in die Arme und wünschten, daß es gesund bleiben möchte und brav wie bisher. »Unser Sonnenschein«, sagte der Vater. Zum Danken war keine Zeit mehr. Kakao runtergegossen, Semmel in die Tasche gesteckt, und dann jagte der »Sonnenschein« in das dunkle Regenwetter hinaus. Der Geburtstag fing ja gut an.
In der Schule gratulierten die Freundinnen und hatten verschmitzte Gesichter. Da der Unterricht gleich begann, hatte Gitta keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nur fand sie es »schmierig«, daß Susi nicht einmal ein Geschenk für sie hatte. Susi hatte während der großen Ferien Geburtstag gehabt. Da hatte Gitta ihr einen »Guckfederhalter«, durch den man den Strand von Stolpmünde sah, mitgebracht. Wurscht wider Wurscht!
Die Ordinaria, Fräulein Schäfer, gratulierte dem Geburtstagskind. Es war in der Sexta Sitte, daß Geburtstage der Lehrerin »angezeigt« wurden. Nun kam sich Gitta mit ihren elf Jahren doch ganz stolz und erhaben vor. Besonders da sie vom Katheder »Des Sängers Fluch« aufsagen durfte und eine Eins dafür erhielt.
»Was haste denn alles geschenkt bekommen?« erkundigte sich Susi neugierig in der Pause.
Gitta wurde rot. »Morgens früh gibt's bei uns noch keinen Geburtstagstisch. Mutti sagt, man hat dann keine Aufmerksamkeit für die Schule. Von Renate habe ich ein süßes Glückskleetöpfchen bekommen.« Gitta schwankte. Sollte sie Susi anvertrauen, daß sie auch mittags kein Geburtstagstisch erwarten würde? Daß sie darauf verzichtet hatte ebenso wie auf ihre Kindergesellschaft? Ach, Susi würde das gewiß nicht verstehen, daß Vater weißes Haar bekommen hatte vor Sorgen. Die würde sicher nur sagen: »Schön dumm biste.«
Beim Abschied mittags an der Ecke konnte Susi sich doch nicht verkneifen zu äußern: »Ich springe vielleicht nachmittags mal zu dir ran, um mir deinen Geburtstagstisch anzusehen.«
Gitta bekam einen Todesschreck. »Es gibt aber keine Schokolade mit Kuchen. Und – und vielleicht geht Mutti mit mir spazieren.«
Susi lachte und konnte sich gar nicht beruhigen.
»Bei dem Regenwetter? Also auf Wiedersehen heute nachmittag.«
Ehe Gitta noch Einspruch erheben konnte, war Susi in ihrem Haus verschwunden. Ach, hätte sie doch bloß gleich die Wahrheit gesagt.
Als erster Gratulant kam ihr zu Hause Lump entgegen, ein buntes Petuniensträußchen am Halsband. Er sprang an Gitta hoch und leckte seiner kleinen Freundin die Hand. »Wauwau«, sagte er. Es war etwas ganz Alltägliches. Aber Gitta hörte seinen Glückwunsch heraus.
»Ach Lump«, sagte sie betrübt, »heute ist gar kein richtiger Geburtstag.«
»Wauwau«, antwortete der Terrier. Es klang verheißungsvoll.
Diesmal verstand die dumme Gitta ihn nicht.
Sie öffnete die Tür zum Eßzimmer. Nanu? Was war denn das? Da brannten wie in jedem Jahr Lichtchen auf einem weißgedeckten Tisch. Elf bunte Lichtchen in einem Geburtstagsring um ein dickes, großes Lebenslicht. Gitta war starr. Da standen die Eltern und die Geschwister – selbst Wolfgang war heute pünktlich – und weideten sich an Gittas Staunen.
»Immer näher, Geburtstagskind«, ermunterte Mutti.
»Ja, habe ich denn richtigen Geburtstag?« Und dann, mit einem Blick erspähend, daß da um die Lichter noch allerlei schöne Gaben lagen, flog Gitta der Mutter mit einem Jubellaut um den Hals.
»Sieh mal, Gitta, die Baisertorte von unserm Gelben – Pardon, ich meine von unserm Herrn Japaner – mächtig anständig, was?« Die Riesentorte war Peter viel wichtiger als alles andere.
Gitta aber probierte freudestrahlend die neue Sportjacke an und stülpte sich die Mütze auf das Blondhaar. Die gute Mutti und Renate! So spät abends hatten sie für sie gearbeitet! Und Vater hatte ihr doch tatsächlich neue vernickelte Schlittschuhe gekauft. Hurra! Vati war doch der Allerbeste. Das ahnte Gitta nicht, daß der Vater sich selbst Entbehrungen auferlegte, um seinem Liebling die Freude zu machen. Wolfgangs Volksliederbuch mußte gleich am Klavier probiert werden, und wenn Peter sie auch gestern geärgert hatte, das selbstgeschnitzte Nähkästchen nahm Gitta recht gern von ihm an.
»Nun zeige dich auch all der Liebe würdig, Brigittchen«, ermahnte die Mutter.
Das wollte Gitta gern tun. Wie – wußte sie allerdings noch nicht.
Um die Baisertorte gab es noch einen Kampf. Das Geburtstagskind wünschte, daß man sie zum Nachtisch verzehrte. Die war ja so groß, da blieb auch noch genug zum Kaffee übrig. Und Renate hatte ihr ja auch noch einen Kuchen gebacken. Peter war natürlich auf Gittas Seite. Trotzdem ihm Renate einen Verständigungstritt unter dem Tisch verabfolgte. Peter schrie: »Au!« Es war ihm wichtiger, daß er Schlagsahne bekam, als daß die dummen Mädels davon fett wurden.
»Nun gehe zu Herrn Doktor Ma-wu und bedanke dich, Brigittchen«, verlangte die Mutter nach Tisch. »Bitte ihn, eine Tasse Kaffee mit uns zu trinken.«
»Nee, Mutti, ich schaniere mich.« Mit diesem Wort lebte Gitta immer noch auf Kriegsfuß, trotzdem sie heute schon elf Jahre alt war. »Und der trinkt ja bloß Tee.«
»Wenn man sich über etwas freut, hat man auch die Pflicht, ›danke schön‹ zu sagen.«
»Komm mit, Renate«, bat Gitta. Sie mochte es nicht gestehen, daß sie immer noch Angst vor dem Japaner hatte.
Einem Geburtstagskind darf man keinen Wunsch abschlagen. So klopfte die gute Schwester mit ihr an Doktor Ma-wus Tür.
»Ah, kleines Geburtstagdame. Ist mir großes Ehre.« Eine Verbeugung bekam Renate, eine Gitta.
»Ick wünschen kleines Dame Gitta viel Gluck, soll werden großes schönes Dame.«
Gitta lachte laut los über Doktor Ma-wus ulkige Sprechweise.
»Du wolltest dich doch bedanken, Gitta«, flüsterte ihr Renate zu.
»Ich danke auch vielmals, Herr Doktor, für die mächtig große schöne Torte.« Gitta machte ihren Knicks, Doktor Ma-wu seine Verbeugung.
»Es war eine große Überraschung für Gitta«, fiel Renate ein, da sie sah, daß die kleine Schwester wieder mit dem Lachen kämpfte.
»Wird kommen noch mehr Raschung uber«, sagte der Japaner und blinzelte aus seinen Schlitzäuglein zu Renate hin.
»Meine Mutter läßt Sie bitten, um vier Uhr eine Tasse Kaffee mit uns zu trinken«, bestellte Renate.
»Oh, viel Ehre. Ist großes Freude für mir, zu kommen zu Fest von Geburt von kleines Dame Gitta.« Es folgten verschiedene Verbeugungen, welche die Freude bekräftigen sollten.
Gitta war froh, als sie wieder draußen war. Sie konnte das Lachen nicht länger zurückhalten.
Dumm, daß man Schularbeiten machen muß, auch wenn man Geburtstag hat. Während Gitta ihre deutschen Grammatiksätze bildete, deckte Renate den Kaffeetisch. Es war eine ganz stattliche Tafel.
Punkt vier klingelte es. Peter stand schon Posten und ließ Gittas Freundinnen ein. Nach einem Weilchen öffnete Renate die Tür zu Gittas Zimmerchen.
»Na, noch immer nicht fertig mit Schularbeiten, Gitta?«
»Doch, ich arbeite schon für übermorgen. Morgen nachmittag üben wir Volkstänze auf dem Sportplatz.«
»Du sollst zum Kaffee kommen, Gitta. Aber ein bißchen hübscher hättest du dich heute am Geburtstag auch machen können. Wasche dir die Hände, bürste dir das Haar und ziehe dein schottisches Kleid über.«
»Was, das Sonntagskleid?« verwunderte sich Gitta.
»Doktor Ma-wu trinkt doch mit uns Kaffee.«
»Och, wegen dem!« machte Gitta trotz der Baisertorte.
»Und Fräulein Lerche wird auch nachher noch angeflogen kommen – Tempo – Tempo – Gitta!« drängte Renate.
Ein paar Minuten später öffnete Renate die Tür zum Eßzimmer und schob das Geburtstagskind über die Schwelle.
Da saßen die Freundinnen alle um die Baisertorte herum und sangen: »Heil sei dem Tag, an dem du uns erschienen!« Wolfgang dirigierte, und Peter blies auf einem Trichter dazu. Obenan saß Doktor Ma-wu und fletschte die Zähne vor Vergnügen.
Und was tat Gitta? Sie machte kehrt und lief in ihr Zimmer zurück.
»Aber Gitta, bist du hops? Warum bleibst du denn nicht drin?«
Renate eilte hinter ihr drein.
»Ich schaniere mich so doll.«
»Ja, freust du dich denn nicht darüber, daß Wolfgang und ich dir deine Freundinnen eingeladen haben?«
Gitta nickte. »Doch, mächtig. Bloß ich schaniere mich.« Dabei blieb sie. Auch als die Freundinnen kamen und sie im Triumph wieder zurückholten.
Aber bei Schokolade und Baisertorte, bei einer Verlosung mit schönen Geschenken, die der Japaner für die »kleine Dames« veranstaltete, bei Peters grauligem Kasperletheater und bei Fräulein Lerches blau-rotem Pullover vergaß das Geburtstagskind peinliche Gefühle und war von Herzen lustig mit den Freundinnen. Nach dem Abendbrot spielte Wolfgang sogar zum Tanz auf. Und Peter trat allen Damen auf die Füße beim Tanzen.
Als die Freundinnen dann mit der Versicherung, daß es noch bei keiner Kindergesellschaft so schön gewesen sei, sich empfahlen, meinte Gitta selig: »Weißt du, Mutti, es ist gar nicht schwer, zu verzichten.«