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Eine kleine Heldin

An einem scharfen Februarabend war's im Jahre 1813. Da saßen im festverschlossenen Hinterzimmer der Weißbierwirtschaft »Zum blauen Engel« in der alten Berliner Reetzengasse mehrere Frauen und Kinder bei der Öllampe. Ihre Finger ruhten keinen Augenblick, unermüdlich waren sie mit Scharpiezupfen beschäftigt. Ein großer, weißer Berg des bereits fertigen Verbandzeuges lag neben ihnen. Das Mundwerk der Frauen aber arbeitete fast ebenso unermüdlich wie ihre Hände.

»Ist Nachricht da von Eurem Neffen Wilhelm?« fragte eine Nachbarin eifrig.

»Pst! nicht so laut. Man ist ja jetzt nie sicher vor französischen Ohren!« Die Wirtin vom »Blauen Engel« stand auf und drehte den Schlüssel im Türschloß noch einmal vorsorglich um, ehe sie antwortete.

»Ja, gestern hatten wir einen Gruß von ihm, er ist mit seinen Freunden glücklich in Breslau angelangt und hat sich dort bereits als Freiwilliger gestellt,« flüsterte sie, immer noch ängstlich auf die Tür schauend. »Meister Schulzes Emil, der von der Wanderschaft heimkam, hat die Nachricht gebracht. Einen Postbrief zu schreiben, das darf man ja jetzt nicht wagen, wo alles hier in Berlin von den vermaledeiten Franzosen durchschnüffelt wird.«

»Ein mutiger Junge, der Wilhelm!« lobte eine andere Nachbarin. »Läuft da mir nichts dir nichts von der Schulbank ins Freiwilligenkorps.«

»Soldatenblut!« meinte die Tante und nickte vor sich hin. »Das steckt nun mal so in ihm, da war ja kein Halten. Seitdem der Vater, mein Bruder, Gott hab' ihn selig, vor nun bald sieben Jahren bei Jena fiel, gab's für den Jungen keinen anderen Gedanken mehr, als den Franzosen Vaters Tod mal heimzuzahlen, und die Scharte, die sich Preußen damals bei der Unglücklichen Schlacht geholt hat, durch seinen Mut auszuwetzen. Ja, nicht erwarten konnt' er's, der Wilhelm, daß es erst wieder losgeht – und die da, die Ursel, ist gerade so!« Die Engelswirtin wies mit dem Kopf – denn die fleißigen Hände ließen sich keine Zeit dazu – zu einem goldblonden Mädchen von etwa zwölf Jahren hinüber.

Das hatte die Hände und das Leinenzeug sinken lassen. Mit heißen Wangen und blitzenden Augen lauschte es dem Gespräch.

»Ach, wär ich doch auch ein Junge! Könnt' ich doch helfen, das Vaterland zu befreien!« Der junge Mund rief es voll Begeisterung so laut und unvorsichtig, daß sich eine Frauenhand auf die unbedachten Lippen legte.

»Schsch – die Wände haben Ohren, Mädel!« warnte die Nachbarin.

»Ja, ja,« nickte die Tante, »nun ist man den Jungen, der einen mit seinen unüberlegten Reden in ewige Angst gesetzt hat, glücklich los, nun kann man für das Mädel zittern. Ein Wunder ist's, daß ihr die Franzosen noch nicht eins ausgewischt haben, denn die nimmt selbst dem Feinde gegenüber kein Blatt vor den Mund.«

»Ach, Tante, als ob du nicht darauf brennst, daß es wieder losgeht! Als ob du nicht mit uns gejubelt hast, als Napoleons große Armee in Rußland vernichtet wurde!« rief die Kleine, und ihre blauen Augen flammten.

»Nun ja – nun ja, Kind,« beschwichtigte die Tante mit der Ruhe ihrer Jahre, »deshalb vergesse ich aber nicht, daß der Franzose vorläufig noch Herr im Lande ist, und vor allem noch in Berlin, wo er nach Belieben schaltet und waltet.«

Drei leise Schläge gegen die Tür ließen sie jäh verstummen.

»Das Zeichen – da sind sie schon wieder, die französischen Tyrannen! Schnell beiseite mit unserem Scharpiezeug. Hier, rein in die Truhe, so, liegt auch kein Fädchen mehr herum? Vertreibt uns unsere Berliner Bürger aus unserer Wirtsstube, das französische Pack, trinkt und zecht und vergißt das Bezahlen nachher, so machen sie's stets – es ist schon ein Unglück!« Die Engelwirtin seufzte vernehmbar.

Die Frauen hatten Strickstrümpfe vorgezogen. Harmlos und friedlich klapperten die Nadeln in dem kleinen, traulich warmen Raum, als wären hier nicht noch vor kurzem kriegerische Reden erklungen.

Wieder pochte es dreimal.

»Frau Wirtin, der Wirt ruft nach Euch, er kann's vom nicht allein schaffen, alle Tische sind besetzt!« rief die Stimme des Hausknechtes gedämpft hinein.

»Dann hilft's nichts.« – Die Wirtin erhob sich. »Luise, vertritt mich hier.« Sie wandte sich an ihre eben erwachsene Tochter. »Komm, Ursel, kannst mir beim Bedienen zur Hand gehen, aber achte ja auf dein kleines, loses Mundwerk!« Die Engelwirtin nickte den Gevatterinnen zu und verließ, gefolgt von ihrer Nichte Ursel, das Zimmer.

Die Ursel machte ein gar widerwilliges Gesicht. Nichts war ihr unerwünschter, als die Franzosen, die sie am liebsten aus Berlin herausgejagt hätte, noch mit bedienen zu müssen. Aber sie war als Waise von der Tante um ein Gott vergelt's ins Haus genommen worden, da mußte sie sich nach Kräften dankbar und dienstbereit dafür zeigen.

In der Wirtsstube herrschte wüster Lärm, Schreien und Singen. Dazu schwebte ein Tabaksqualm in dem länglichen Raum, daß die Luft ganz blau davon war.

Als sich Ursels Augen ein wenig an die dicke Atmosphäre gewöhnt hatten, unterschied sie allenthalben die verhaßte französische Uniform.

»Ah, la petite demoiselle – bringe Sie uns quelque chose à boire, aber nix der Bier, der saure, wir wollen vin – vin – vin

Ursel trat zu dem Onkel, der, in behäbiger Fülle, mit einer grünen Schürze angetan, hinter dem Schenktisch stand.

»Onkel, sie wollen Wein!«

»Is nich!« sagte der Wirt in aller Gemütsruhe. »Meine Berliner Weiße zu trinken, braucht sich kein König nich zu schämen, da wird sie woll für die Rothosen ooch jut jenug sein!«

Ursel frohlockte. Der Onkel sprach ihr ganz aus dem Herzen. Sie trug geschickt die runden, bauchigen Riesengläser mit dem schäumenden Naß zu den Tischen.

Da wurde noch etwas in Französisch und fehlerhaftem Deutsch wegen des nicht vorhandenen Weines räsoniert, aber dann bequemte man sich, »den Bier, den sauren«, zu trinken.

» Magnifique, die 'aar sein wert in Paris beaucoup d'argent!« Einer der Lärmenden griff scherzhaft nach den prachtvollen, goldblonden Zöpfen der kleinen Kellnerin, die ihr weit den Rücken herniederhingen.

Aber da kam er schlecht an. Ein derber Klaps von Ursels Kinderhand auf die große, eisengewohnte des Kriegers ließ ihn loslassen.

» Parbleu!« rief er wütend und schien nicht übel Lust zu haben, die kleine, schlagfertige Demoiselle nun seinerseits zu züchtigen.

» Non pas battre – nix schlage!« Von allen Seiten begütigte man den Aufgebrachten. » La Prusse will 'aben auch einmal la triomphe, zu 'aben geschlage La France!« lachte ein anderer. Und nun ging es los, das Witzeln und das Höhnen über Preußens Niederlagen und Machtlosigkeit.

Ursel ballte die Hände unter der zierlichen, geblümten Schürze. Sie hatte in dem täglichen Umgange mit den Feinden einen guten Teil ihrer Sprache erlernt. Sie verstand, wie man sich über ihr geliebtes Vaterland lustig machte.

Oh, daß sie nur ein Mädchen war! Daß sie es denen nicht zeigen konnte, daß Preußens Jugend von Mut, von Tapferkeit und Freiheitsliebe durchglüht war!

»Komme Sie, petite demoiselle,« rief ein noch bartloser junger Franzose, »bringe Sie encore une verre

Ursel schluckte ihre Freiheitsgelüste herunter und griff nach dem geleerten Glase des Feindes.

»Warte Sie, ma petite,« sagte der Soldat, als sie das frischgefüllte Glas wieder vor ihn hinstellte, und griff in die Tasche.

Ursels Blauaugen wurden nochmal so groß. Nanu, wollte der etwa bezahlen? Das war bisher noch nie vorgekommen. Die Franzosen ließen es sich als Herren an dem Tische der besiegten Preußen wohl sein. Da zog der Soldat ein buntes Bild aus der Tasche.

» Voila ma petite.« Er machte Miene, ihr das Bild zu schenken.

Aber Ursel warf verächtlich die frischen, roten Lippen auf.

»Von den Franzosen nehme ich nichts geschenkt!« stieß sie unbesonnen hervor. Sprach's und drehte dem Verdutzten den Rücken.

Der verstand zum Glück die deutsche Sprache so gut wie gar nicht, und die anderen lärmten und tobten gerade so laut, daß Ursels franzosenfeindliches Wort ungehört verhallte. Sonst wäre es ihr sicher übel ergangen.

Aber Onkel und Tante hinter dem Schenktisch hatten mit Entsetzen die vorschnelle Rede Ursels vernommen. Sie wagten es nicht mehr, das kleine, unbedachte Ding länger im Wirtszimmer zu lassen. Man schickte sie wieder in die Hinterstube. Ursel war es durchaus zufrieden.

Als sie später in ihrem Kämmerlein, das sie mit Base Luise teilte, sich zur Ruhe begab, spukte die Empörung über die französischen Eindringlinge noch immer in ihrem Köpfchen.

»Ach, Luise, warum konnte ich nicht mit Bruder Wilhelm nach Breslau ins Freiwilligenkorps, warum bin ich nur ein schwaches Mädel? Was nütze ich dem Vaterlande, wenn ich hier hocke und Scharpie zupfe!« Die Kleine war ganz außer sich.

»Zieh dir Hosen an und marschiere hinterdrein nach Breslau,« lachte die um vier Jahre ältere Base die kleinere aus. Aber als sie das betrübte Gesicht Ursels sah, setzte sie gutmütig hinzu: »Wir können auch außer Scharpiezupfen noch unser Teil zur Befreiung des Vaterlandes beitragen. Am Molkenmarkt hat man ein geheimes Bureau eingerichtet, wo freiwillige Spenden, Geld oder was Geldeswert hat, zur Ausrüstung des Heeres entgegengenommen werden. Daran können auch wir uns beteiligen.«

»Ich besitze keinen roten Heller,« meinte Ursel, immer noch niedergeschlagen. Aber als sie dann in ihrem Bette lag und die weiße Scheibe des Mondes voll durch das unverhangene Fensterlein in die Kammer ihre silberne Lichtflut sandte, schaute sie rings umher in dem kleinen Raum, ob sie denn wirklich nichts zu eigen hatte, was sie für das Vaterland hingeben konnte.

Halt – drüben im Eckschränkchen lag Mutters Medaillon. Es war das einzige, was sie von der Frühverstorbenen besaß. Eine flache Goldkapsel an goldenem Kettchen, und darin war, mit himmelblauem Seidenfaden gebunden, eine Locke der Mutter. Die war geradeso goldblond wie das Haar Ursels. Nie hatte das kleine Mädchen gedacht, daß es sich jemals von Mutters Medaillon trennen könnte. Wie ein Heiligtum bewahrte Ursel dasselbe, und nur an Festtagen hing sie es um den Hals. Aber je schwerer es ihr wurde, Mutters Andenken fortzugeben, um so stärker war die Befriedigung, auch ihr Scherflein für das geknechtete Vaterland beigesteuert zu haben.

Leise – ganz behutsam erhob sie sich von ihrem Lager, denn Base Luise schlief bereits. Vorsichtig nahm sie beim Mondlicht Mutters Medaillon aus dem Kästchen und hing es sich um den Hals. Eine Nacht wollte sie es noch tragen, ehe sie sich davon für immer trennte.

Von der Schule aus nahm sie am nächsten Tage ihren Weg über den Molkenmarkt. Spähend lugte sie umher, ob nicht gerade eine französische Patrouille vorbeikam und sie in dem geheimen Bureau verschwinden sah.

Nun stand sie herzklopfend in dem einfachen, grau getünchten Raum und zog ihr Heiligtum aus der Tasche.

»Das ist alles, was ich besitze,« sagte sie leise, Mutters Locke aus der Kapsel lösend.

»Ei, Kleine, du besitzt noch etwas, was viel mehr wert ist,« sagte der Herr, der die Vaterlandsspenden in Empfang nahm. Er händigte Ursel für ihr Medaillon eine kleine Eisenmünze ein, darauf war geprägt: »Gold gab ich für Eisen. 1813.«

Fragend schaute das kleine Mädchen auf; es hatte keine Ahnung, was es sonst noch Wertvolles besitzen könne.

Der fremde Herr aber griff, wie gestern der Franzose, nach den blonden, langen Zöpfen.

»Die sind Goldes wert!« sagte er anerkennend. Dann öffnete er einen Kasten; da lag viel, viel Frauenhaar, blondes, braunes und schwarzes.

»Alles von unseren Berliner Frauen auf dem Altar des Vaterlandes geopfert!« sagte er begeistert. »Na, wie ist's, Kleine?«

Ursel schwankte.

Ihr Haar, das Goldhaar, die langen, schönen Zöpfe, ihren ganzen Stolz, sollte sie preisgeben? Was würde die Tante sagen, was der Onkel, der sie immer scherzhaft daran zog? Und Bruder Wilhelm, wenn er wieder heimkehrte? Der erkannte sie am Ende gar nicht.

Bruder Wilhelm – der Name war ausschlaggebend. Wollte er nicht wie viele andere Blut und Leben zur Befreiung Preußens opfern, und sie mochte sich nicht mal von dem bißchen Haar trennen? Das war ihre Vaterlandsliebe?

»Bitte, nehmen Sie meine Zöpfe,« stieß sie schnell hervor, damit es ihr nur ja nicht wieder leid werden sollte.

Aber als jetzt die kalte, große Schere ihren Hals berührte und – schnipp – schnapp – die ersten Goldhaare zu Boden fielen, da mußte Ursel fest die Lippen zusammenbeißen, um die hervorschießenden Tränen zurückzuhalten.

Nun lagen ihre Blondzöpfe bei den anderen Haaren im Schub. Ursel aber stand mit kurzem, lockigem Jungenkopf vor einem Spiegelchen, das der Herr ihr hinhielt. Hell auflachen mußte sie jetzt, sie sah wie Bruder Wilhelm aus.

»Du bist eine kleine Heldin!« sagte der Herr voll Anerkennung.

Getröstet ging Ursel mit ihrer Eisenmünze und ihrem abgeschorenen Kopf nach Hause. Das Herz schlug ihr, nun es vorüber war, in hoher Befriedigung. Sie vergaß ganz darüber, was wohl die anderen zu ihrem merkwürdigen Aussehen sagen würden.

»Jesses, Ursel, wie siehste aus!« Lautauf kreischte die Tante, als die so veränderte Nichte plötzlich ins Zimmer trat.

Der Onkel aber, in seiner gemütlichen Berliner Art, sagte nichts weiter als: »Nu brat' mir eener 'n Storch, aber die Beene recht knusprig!«

»Ursel, wo hast du denn bloß dein Haar gelassen?« Base Luise war geradezu versteinert vor Staunen.

»Auf der Annahmestelle für freiwillige Vaterlandsspenden!« sagte das kleine Mädchen, begeistert ihren kurzgeschorenen Kopf zurückwerfend. »Und Mutters Medaillon habe ich auch hingegeben.« Ursels Stimme begann jetzt noch ein wenig zu schwanken, »aber ich habe das dafür bekommen.« Sie zog ihre Denkmünze aus der Tasche und las stolz die Inschrift.

Tante konnte sich noch immer nicht beruhigen. Sie kam heute den ganzen Tag, so oft ihr Blick auf Ursel fiel, aus dem Kopfschütteln nicht heraus.

Der Onkel aber packte sie, an Stelle der fehlenden Zöpfe, an beide Ohren. »Bist 'ne brave, kleene Mamsell!« schmunzelte er.

»Wenn ich so schönes Haar hätte, ich würde es auch hingeben,« meinte Base Luise eifrig, »aber meine paar Haare, das lohnt doch nicht!«

»Wir werden wohl bald eure Vaterlandsspenden gebrauchen können,« sagte der Engelwirt, als man bei Tisch saß, und machte ein geheimnisvolles Gesicht. Alles sah ihn voll Spannung an.

»Ja, ja, nächstens jeht's los hier in Berlin! Wat Schuster Piepen sein Schwestersohn is, der kam heut' mit der Post von Frankfurt her. Die Russen sind schon über die Oder 'rüber, nich weit von Pankow hat er russische Kosaken jesehn. Wenn sie uns hier die Franzosen aus Berlin vertreiben, die russischen Brüder, meinen janzen Wein jebe ich ihnen zum besten, den ich vor der französischen Bande unten im Keller verjraben habe,« sagte der Engelwirt, und auch sein rundes, rotes Gesicht glühte jetzt in Vaterlandsliebe.

»Wenn se det wissen täten, det hier so'n feiner Troppen uff se lauert, denn kämen se sicher balde,« meinte der langjährige Hausknecht, welcher, der guten alten Sitte gemäß, mit am Tisch saß.

Die Tante aber hielt sich die Ohren zu.

»Sie schießen! Wenn die Russen sich bis nach Berlin reinwagen, geht's mit dem Geschieße los, dann gnade uns Gott!« jammerte die geängstigte Frau.

»Hauptsache – daß sie uns die vermaledeiten Franzosen an die Luft setzen, Alte! Na ja, ohne Kampf wird das ja woll nicht abjehn! Marschall Augereau, der französische Kommandant, wird ja woll nich so schnell Fersenjeld jeben. Aber laß se man kommen, meinen besten Wein spendier' ick vor ihnen!« Damit ging der Engelwirt in den Keller, um zu sehen, ob seine Fässer auch noch wohlgeborgen diesem Freudentage entgegenharrten.

Am Abend war die Wirtsstube leer von den französischen Gästen. Sie hatten heute Dienst.

Ursel half wieder als kleine Kellnerin. Heute tat sie's gern, wo es galt, lauter Landsleuten die durstige Kehle zu löschen. Dabei schnappte sie manches Wort über Preußens Lage und dem augenblicklichen, bedrohten Zustand der Stadt Berlin auf.

»Oberst Tettenborn soll die Russen befehligen, ein tapferer Mann; aber was vermag er mit seinem Häuflein Kosaken gegen die hiesige französische Übermacht?« seufzte ein Berliner Bürger.

»Na, unsere Musjöh Großschnauzen hier sitzen nich mehr so wie früher auf 'm hohen Pferd,« ließ sich der Engelwirt hinter seinem Schenktisch vernehmen. »Laßt se man erst hier sind, die Russen, dann wer'n die Rothosen schon lange Beene machen! Meinen besten Wein spendiere ick, wie jesagt, das könnt ihr dem Oberst Tettenborn vom Engelwirt bestellen.«

Wieder lag Ursel in ihrem Kämmerlein und konnte nicht schlafen. Das junge Herz war ihr voll von dem, was sie am Abend gehört hatte.

»Lieber Gott,« so betete sie, »laß doch bloß die Russen die Franzosen aus Berlin verjagen!«

Aber wenn die Russen sich vor der Übermacht fürchteten und sich nicht weiterwagten? Dann war alles Hoffen umsonst.

Wie hatte der Hausknecht heute mittag gesagt?

Wenn die russischen Kosaken wüßten, daß sie solchen feinen Wein hier beim Onkel kriegen sollten, dann würden sie sicher kommen. Und der Onkel hatte am Abend gemeint, das sollte man dem Oberst Tettenborn nur vom Engelwirt bestellen.

Das kleine Mädchen nahm in seiner Freiheitsbegeisterung das halb im Scherz gesprochene Wort des Onkels völlig ernst.

Ja, aber wer, wer sollte die Botschaft dem russischen Befehlshaber überbringen? Wer würde sich aus der Stadt wagen, durch die französischen Vorposten hindurch? Die ließen so leicht keinen passieren, und wenn man den Betreffenden abfaßte, daß er es mit den russischen Feinden hielt, dann wurde er unweigerlich, als der Spionage verdächtig, erschossen. Zu oft hatte Ursel derartige Schreckensberichte in der Wirtsstube erzählen hören.

Und doch, hier war mal eine Gelegenheit, zu zeigen, daß man ebenfalls das Leben für das Vaterland wagen konnte, wenn man auch bloß ein Mädel war. Aber wie kam sie bloß aus der Stadt unbehelligt heraus? Ursel fuhr sich aufgeregt durch die kurzen Haare.

Da durchblitzte sie ein Gedanke.

Nicht umsonst hatte sie den kurzgeschorenen Jungenkopf. Als Junge gelang es ihr wohl eher, durchzuschlüpfen. Kam nicht auch der Milchjunge jeden Morgen aus Pankow herein? Ja, das ging – das mußte gehen.

Im Schrein lag noch ein ausgewachsener Anzug von Wilhelm, den wollte sie zu ihrer Wanderung anlegen. Ursel war fest entschlossen, den gefährlichen Gang zu wagen.

Kein Auge tat sie in dieser Nacht mehr zu. Und als die nahe Parochialkirche die vierte Morgenstunde verkündete, erhob sie sich lautlos.

Sie raffte ihre Sachen zusammen und schlich aus dem Kämmerlein, daß nur Base Luise nicht aufwachte und sie an ihrem gefahrvollen Vorhaben hinderte.

Im Hausflur stand der Schrein mit Wilhelms Sachen. Zitternd vor Kälte und Aufregung schlüpfte Ursel in des Bruders Kleider. Sie paßten so ziemlich. Der Vollmond leuchtete ihr getreulich.

Nun noch die alte Mütze, die dort am Riegel hing, aufgestülpt, und dann vorwärts.

O weh, das Haustor war verschlossen! Den Schlüssel nahm der Onkel stets mit in sein Schlafzimmer.

Aber Ursel war nicht um einen Ausweg verlegen. Sie huschte durch die Küche in die zur ebenen Erde gelegene Wirtsstube. In der Küche machte sie noch einen Augenblick halt. Da standen Tantes blankgescheuerte Milchkannen, die nahm sie mit. Nun würde jeder sie für den Milchjungen halten.

Und jetzt das Fenster der Wirtsstube aufgemacht, und auf die Gasse hinausgeklettert.

Hurra! es war geglückt.

Ursel zog das Fenster von draußen wieder zu und schlich möglichst dicht an den Häusern dahin. Eine Eiseskälte machte ihr das Blut in den Adern fast erstarren. Aber mutig eilte sie vorwärts.

Am Alexanderplatz blieb sie einen Augenblick verschnaufend stehen. Da hatten die Franzosen große Kanonen aufgefahren. Nun, allzu freundlich würde der Empfang wohl nicht sein, zu dem sie die Russen einlud.

Die dort postierten Grenadiere hatten den Mantelkragen, der Kälte wegen, bis über die Nase geschlagen, sie gewahrten die wie ein Schatten vorüberhuschende Ursel nicht.

Nun stand sie vorm Schönhauser Tor. Hier war Berlin zu Ende.

Dem französischen Posten war es draußen bei dem schneidenden Winde wohl zu ungemütlich geworden. Er war in die Wachtstube getreten, um die steifen Glieder ein wenig aufzuwärmen.

Das breite, zweiflügelige Tor war über Nacht fest verschlossen, aber das kleine Seitenpförtchen stand offen.

So gelangte Ursel unangehalten aus der Stadt.

Hu, pfiff der Wind jetzt draußen auf der Landstraße. Er jagte die Kleine wie ein losgerissenes Blatt vor sich her. Keinen Augenblick durfte sie verschnaufen, der Sturm stand mit seiner Eispeitsche hinter ihr und trieb sie vorwärts.

Der Mond war untergegangen. Aber die weißen Schneefelder, die sich zu seiten der Landstraße hinzogen, leuchteten matt.

Die ersten verschneiten Häuschen des Dorfes Pankow tauchten auf.

Still und verschlafen lag das Dorf da. Nur ein Hahn krähte irgendwo, ein Hund blaffte.

Trotz der Kälte war Ursel von dem Vorwärtseilen in Schweiß gebadet. »Oberst Tettenborn,« sagte sie unaufhörlich vor sich hin, um nur ja nicht den Namen des Befehlshabers zu vergessen.

Nun hatte sie Pankow durchschritten und stand wieder auf freiem Felde. Weiter konnte sie nicht gehen; wenn sie jetzt das russische Lager nicht erblickte, war ihr gefahrvoller Weg umsonst.

Halt – ganz in der Nähe glühten Wachtfeuer. Das mußten die Russen sein. Allen Mut zusammennehmend, schritt das kleine Mädchen auf die in der Frühdämmerung aufglühenden Feuer zu.

Ein Posten hielt sie an.

Stockend bat Ursel, sie zu Oberst Tettenborn zu führen, dem sie eine Botschaft auszurichten habe.

Der Kosak verstand sie nicht, aber der Name des Obersten öffnete ihr den Weg. Man führte Ursel trotz der frühen Stunde zu dem Befehlshaber.

»Nun, mein Sohn,« sagte der freundlich, »wer bist du, und was hast du mir zu bestellen?«

»Ich bin Ursel, die Nichte vom Wirt vom ›Blauen Engel‹ aus der Reetzengasse in Berlin,« antwortete der vermeintliche Junge noch immer etwas schüchtern. »Und der Engelwirt läßt dem Herrn Oberst sagen, er möge nur mit seinen Russen nach Berlin kommen und uns die Franzosen heraustreiben! Den besten Wein, den er im Keller hat, gibt der Onkel dann zum besten!« Treuherzig sahen die blauen Kinderaugen den Soldaten an.

Der schluckte mit aller Gewalt das Lachen herunter, das bei der sonderbaren Botschaft in ihm aufstieg. »Und deswegen hast du dich zu uns hinausgewagt?« fragte er lächelnd.

Ursel nickte mit glühenden Wangen. Und dann, alle Schüchternheit überwindend, griff sie flehentlich nach der Hand des Obersten.

»Nicht wahr, Ihr kommt, Ihr macht Berlin wieder frei?« so bat sie.

Der Oberst fuhr ihr freundlich über das lockige Haar.

»Wenn alle Preußen ihr Vaterland so lieben wie du, dann sind die Franzosen die längste Zeit hier Herren gewesen. Grüße den Herrn Onkel, und der Oberst Tettenborn läßt nicht auf sich warten! Also ›Blauer Engel‹, Reetzengasse! Auf Wiedersehen in Berlin, kleine Heldin!«

Ursel war entlassen.

Das Herz pochte ihr in heller Freude, die Worte des Befehlshabers erfüllten es mit seligem Stolz. Sie fühlte die Kälte nicht mehr, ein heißer Strom von glühender Begeisterung ergoß sich durch ihre jungen Adern.

Der Himmel begann sich sanft zu färben. Ursel begrüßte den jungen Tag mit leuchtenden Augen. Sie sah das Morgenrot der Freiheit heraufziehen.

» Qui vive!« Eine laute Stimme weckte sie aus ihren Freiheitsträumen.

Ursel fuhr zusammen. Sie stand bereits wieder vor dem Schönhauser Tor. Der französische Posten mit geladenem Gewehr musterte sie eingehend.

»Der Milchjunge!« Herzklopfend hob Ursel zur Bekräftigung ihrer Worte Tantes Blechkannen empor. Gottlob! – er winkte. Sie durfte passieren! Die Gefahr war vorüber.

Pünktlich, mit dem Glockenschlag sieben, fand sie sich zur Morgensuppe wieder im Wirtshaus zum ›Blauen Engel‹ ein.

Dort war sie zum Glück nur von Base Luise vermißt worden.

Mit lachendem Hallo wurde der hübsche Junge am Frühstückstisch empfangen; man glaubte, Ursel, der Kobold, habe sich einen Verkleidungsscherz geleistet.

Nach dem Frühstück versuchte sie, den Engelwirt allein zu sprechen.

»Onkel,« flüsterte sie Hm zu, »einen schönen Gruß vom Oberst Tettenborn, und er ließe nicht auf sich warten.«

»Laß, Kind,« der Onkel schüttelte mißbilligend den Kopf, »die Zeiten sind zu ernst, um damit seinen Spaß zu treiben!«

»Aber es ist doch kein Spaß, Onkel, ich war heute nacht in Pankow bei den Russen.«

»Nu ja, nu ja,« der Onkel lächelte, »lebst und webst jetzt nur noch in diesen Kriegsgeschichten; kein Wunder, daß du auch davon geträumt hast, Mädel!«

»Aber es ist doch wahr, wahr und wahrhaftig. Ich habe dem Herrn Oberst bestellt, er solle die Franzosen aus Berlin rausjagen, dann bekäme er auch deinen besten Wein! Und da hat er mich ›kleine Heldin‹ genannt«, ereiferte sich Ursel.

Aber als sie der Onkel noch immer ungläubig anschaute, wies sie auf Bruder Wilhelms Sachen. »Wozu hätte ich denn sonst die Jungenskleider angezogen – paß auf, heute noch sind die Russen –«

Ein dumpfer Donnerton ließ sie jäh verstummen.

Onkel und Nichte sahen sich erschreckt an.

Da stürzte die Tante mit fliegenden Haubenbändern ins Zimmer.

»Die Russen sind da – die Russen sind schon in Berlin – sie schießen – hört ihr die Kanonen am Alexanderplatz? – nun, mag Gott uns beistehen!« Sie eilte ans Fenster, um die Läden herunterzulassen. Die Reetzengasse war in heller Aufregung, alles flüchtete in die Wohnungen. Inzwischen lösten sich knatternde Schüsse unaufhörlich mit rollendem Kanonendonner ab. Dann auf einmal wieder tiefe Stille.

In atemloser, beklemmender Spannung warteten sie im Blauen Engel auf die erste Botschaft. Ursel war der festen Meinung, daß nur sie den Einfall der Russen veranlaßt habe.

Da kam ein Postbote in die Wirtsstube gestürzt. Er war leicht verwundet. Ein Schuß hatte seinen Arm gestreift.

»Sie fliehen – der russische Überfall ist mißglückt – die Kosaken sind zurückgeschlagen!« Ermattet sank er auf einen Stuhl.

Die Tante brachte Verbandzeug. Der Onkel ließ sich alles noch einmal aufs genaueste berichten. In der Ecke aber saß ein kleines Mädchen und weinte. So war ihr Heldengang doch um sonst gewesen?

Ursels Tränen sollten bald trocknen.

Dreizehn Tage später ritten die letzten Franzosen, denen der Boden in Berlin allmählich zu heiß wurde, zum Halleschen Tore hinaus, von russischen Kosaken verfolgt.

In der Wirtsstube zum Blauen Engel aber trank Oberst Tettenborn das erste Glas von des Wirtes bestem Wein auf das Vaterland. Das zweite aber leerte er auf das Wohl Ursels, der kleinen Heldin.


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