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Elses erstes Konzert

»Mutter, wir machen eine Aufführung, alle Schulkinder aus jeder Volksschule sollen mitsingen, im ganzen zweitausend! Und ich darf sogar beim Sologesang mitwirken!« Mit heißen Wangen stürmte die zwölfjährige Else in das kleine Dachstübchen, in dem die Nähmaschine von morgens bis abends rasselte.

Die Mutter hob das versorgte Gesicht von der Arbeit.

»Setz die Kartoffeln ans Feuer, Kind, und schau mal nach den Buben, die raufen sich heute den lieben langen Tag schon wieder drunten auf der Gasse. Ja, wenn die Vaterhand fehlt!« – sie nickte bekümmert vor sich hin.

Else, um deren frischen Mund es noch eben wie Enttäuschung gezuckt hatte, daß die Mutter an der die ganze Schule in Aufregung versetzenden Neuigkeit so wenig Anteil nahm, tat schnell und geschickt nach ihrem Geheiß. Sie wußte als Älteste, was für ein Sorgenpäcklein die Mutter jahrein, jahraus fast klaglos auf ihren zarten Schultern schleppte.

Es war nicht leicht, mit Mäntelnähen vier hungrige Mäulchen sattzumachen. Die Stiefel und Höschen der wilden Buben bedurften auch ständig der ausbessernden Hand. Ordentlich und sauber sollten ihre vier gehen, darauf hielt Frau Reinhardt, wenn sie auch nur eine arme Witwe war.

Da rasselte denn die fleißige Nähmaschine oft schon an dunklen Wintermorgen beim Zitterschein der kleinen Petroleumlampe, wenn die Kinder noch in festem, traumlosem Jugendschlaf lagen. Nur Else, Mutters rechte Hand, erhob sich dann manchmal schlaftrunken von ihrem Lager, schlich sich zum Herd und stellte ein Töpfchen Kaffee in die noch vom Abend gehaltene Kohlenglut, daß die arme Mutter doch einen Schluck Warmes bekam. Und wenn sie dann wieder im molligen Bett lag, dachte sie wohl, während ihre Gedanken schon mit dem eintönigen Geräusch der Nähmaschine ins Land der Träume hinüberirrten: »Ach, wäre ich doch erst groß und könnte auch was verdienen, daß sich mein Mutterchen nicht mehr so arg zu plagen brauchte!«

Wie sie es wohl möglich machen könnte, ebenfalls etwas zum Lebensunterhalt beizusteuern, nahm auch im Wachen Elses Gedanken oft in Anspruch. Denn sie war über ihre Jahre verständig.

Aber was sie der Mutter auch vorschlug, Gebäck-, Milch- oder Zeitungsaustragen, eine Laufmädchen- oder Kindermädelstelle für den Nachmittag, Mutter wollte davon nichts hören.

Nein, ihre Else, ihr hübsches, blondes Mädel, sollte nicht in den Jahren des Wachstums durch zu schwere Arbeit verkümmern. Lieber plagte sie sich selbst noch mehr. Ein Mädel von zwölf Jahren braucht ausreichend Schlaf, den wollte selbstlose Mutterliebe ihrem Kinde nicht verkürzen. Und eine Nachmittagsstelle – sicher würden die Schularbeiten darunter leiden! Sie war doch zu stolz darauf, daß ihre Else durch alle Klassen hindurch die Erste war, das begabte Mädel sollte es mal später im Leben bester haben als ihre Mutter!

So blieb es denn bei Elses Wunsch: »Ach, wäre ich doch erst groß!«

Aber sie versäumte mit Gedanken, die in die Zukunft schweiften, nicht die Gegenwart. Da regte sie vorläufig mal im Hause die fleißigen Hände. Jede Arbeit nahm sie der Mutter geschickt ab. Morgens, ehe sie in die Schule ging, hatte sie schon mehr getan als die meisten anderen Mädchen den ganzen Tag über. Sie bürstete Zeug und Stiefel, sie wusch die Kleinen und kleidete sie an. Und während sie lustig mit dem Besen den Staub aus den Ecken kehrte, lauschte sie auf das Summen des Kaffeewassers, das die kleine Köchin rief. Ja, oft summten ihre frischen Lippen selbst ein Lied mit dem Wasserkessel um die Wette.

Heute war sie ganz besonders zum Singen aufgelegt. Während sie die vielen Stiegen hinabsprang, schmetterte sie mit heller Stimme eins der Lieder, die sie in der Schule zu der bevorstehenden Aufführung einübten. Da ließ manch einer der Hausbewohner lauschend die Arbeit bei den jungen, glockenreinen Tönen sinken und schmunzelte: »Potztausend, Reinhardts Else – ja, so kann's keine!«

Else aber war indessen in den engen, winkligen Hof gesaust, wo die Kinder paarweise um einen Leierkastenmann nach den Klängen »Sancta Lucia« herumtanzten. Ein kleines Mädchen, nicht größer als Else, begleitete das Gedudel des Vaters mit schriller Kinderstimme.

Elses musikalisches Ohr berührten die scharfen Töne geradezu schmerzhaft. Und trotzdem stand sie wie gebannt. Aus den Fenstern ringsum flogen allenthalben in Zeitungspapier gewickelte Geldstücke, die das kleine Leierkastenmädchen mit einem Dankesknicks jedesmal aufhob und in die Büchse warf.

Das war etwas, was sie auch konnte! Ja, viel schöner konnte sie noch singen als das fremde Mädchen. Hatte der Musiklehrer sie nicht heute erst die gesangliche Stütze der ganzen Klasse genannt?

Mindestens zehnmal hatte sich das kleine Mädchen nach den Nickelstücken gebückt, denn es wohnten viele Leute in dem großen Mietshause. Oh, wieviel Geld konnte man verdienen, wenn man von Hof zu Hof herumzog! Es schwindelte Else förmlich bei dieser Aussicht. Dann sollte es ihr Mutterchen mal gut haben! Eine warme Winterjacke wollte sie ihr kaufen und dem Rudi feste Stiefel. Paul und Peter brauchten auch neue Sonntagshosen ... Herrgott, sie sollte die Buben ja suchen, das hatte Else über ihre herrlichen Pläne vollständig vergessen!

Im Hof waren sie nicht, die Rangen, da trieben sie sich sicher auf der Straße umher. Richtig – aus den langen, schwarzen Gasröhren, welche Arbeiter hier aufgestapelt, lugte ein bekanntes rot und blau geringeltes Bein hervor. Das gehörte sicher zu Peter.

Else zog kraftvoll daran, und bald hatte sie den kleinen, vierjährigen Burschen ans Tageslicht befördert. Auch sein Zwillingsbrüder Paul wurde auf ähnliche Weise aus einer zweiten schwarzen Gasröhre hervorgezogen, welche die kleinen Kerle beim Spiel als ihre Höhlen benutzten. Rudi aber, der Abcschütz, war nirgends zu finden. Bis der Schwester scharfes Auge ihn schließlich hoch oben auf einem Laternenpfahl entdeckte, an dem er seine Kletterübungen machte. Die Schulhosen sahen lustig aus. Sie bestanden fast nur noch aus Löchern. Da hatte die arme Mutter wieder für den Wildfang zu sticheln.

Endlich saß das vierblättrige Kleeblatt um den sauber gescheuerten Holztisch im Dachstübchen. Die Kartoffeln dampften und schmeckten den hungrigen Kleinen so gut wie der schönste Braten.

»Mutterchen, ich weiß, wie ich dir helfen kann, Geld zu verdienen,« begann Else und wurde abwechselnd rot und blaß vor Aufregung.

Die Mutter sah lächelnd auf ihr Mädel, das in rührender Weise bemüht war, ihr die Arbeitsbürde zu erleichtern.

»Nun, Kind, was hast du heute wieder ausgeheckt?«

»Ich geh' singen, Mutter, ich kann es besser als das kleine Leierkastenmädchen vorhin. Ich nehme meine Zither mit. Mutterchen, die von Vater, auf der ich fast jedes Lied spielen kann. In allen Häusern sing' ich, und wenn ich dann abends heimkomme, sollst sehen, Mütterchen, wieviel Geld ich verdient habe!« Elses Augen leuchteten.

»Verdient – erbettelt meinst du wohl! Mein Gott, ist es so weit mit uns gekommen, daß mein Kind um Almosen singen muß?!« Die Mutter schlug in jähem Schmerzensausbruch die Hände vor das Gesicht.

Das hatte Else nicht erwartet. Sie hatte wohl, wie schon öfters, Einwände gefürchtet, aber dieser Jammer der Mutter erschreckte sie aufs tiefste. Beide Arme schlang sie, selbst mit den Tränen kämpfend, um die Weinende.

»Mutter – Mutterchen, sei nicht traurig, ich will ja ganz gewiß nicht mehr davon sprechen, wenn es dich kränkt!« bat sie zärtlich, während die Kleinen mit erstaunten Augen auf die große Schwester blickten. War sie unartig gewesen?

Es wurde kein Wort mehr über Elses Absicht gewechselt. Die Mutter ging wieder an ihre Nähmaschine und ihr Töchterchen an den Mittagsaufwasch.

Auch Elses Gedanken kehrten kaum noch zu jenem Luftschloß zurück. Die wanderten jetzt andere Wege.

In der Schule wurde von nichts anderem mehr gesprochen als von dem bevorstehenden Kinderkonzert. Zu wohltätigen Zwecken fand es statt, in erster Linie sollte der Erlös armen Kindern zugute kommen.

Eine Hauptfrage bestand darin: »Was ziehst du an?«

Jedes Kind wollte sich so schön als nur irgend möglich machen, die meisten hatten weiße Sommerkleider.

Else stand vor dem kleinen Garderobenschrank und musterte ihr Sonntagskleidchen. Sie hatte für Winter und Sommer dasselbe. Rot kariert war es, Mutter hatte es vor vier Jahren selbst genäht. Inzwischen war die Else tüchtig in die Höhe geschossen, und auch das Rotkarierte hatte einen breiten schwarzen Streifen als Ansatz erhalten müssen. Das war es aber nicht allein, was schwere Sorgenfalten auf die weiße Kinderstirn rief.

Auch andersfarbige Ärmel hatte es bekommen, da kein Stoff mehr zum Ausbessern gewesen. Und nun hing von jeder Seite ein schwarzer Ärmel wie ein düsterer Tintenklecks hernieder.

Ach, würden die spottlustigen Kameradinnen lachen, wenn sie in dem bunten Stieglitzkleid erschien!

War es nicht besser, sie trat lieber ganz von der Aufführung zurück? Doch was würde Herr Schmidt, der Gesanglehrer, dazu sagen? Und der Chordirigent, der sie heute, wo schon viele Schulen zusammen geübt hatten, ganz nach vorn geholt hatte, weil ihre Stimme besonders schön geklungen?

Nein – nein – sie konnte nicht darauf verzichten, mitzusingen! Der Lehrer hatte gesagt, das sei eine Erinnerung für das ganze Leben. Auch der kaiserliche Hof wurde erwartet, vor dem Kaiser und der Kaiserin sollten sie singen – da mußte sie dabei sein!

Aber in dem alten Kleide? Die Solosängerinnen putzten sich bestimmt alle mit weißen Kleidern. Jeden Tag schlüpfte Else unschlüssig zum Schrank, doch das Kleid wollte nicht schöner werden.

Ihrem Mütterchen sagte Else nichts von ihren Toilettensorgen, die hatte genug anderes, um das sie sich sorgen mußte. Else schämte sich sogar oft, wenn sie dachte, wegen welch nichtiger Dinge sie sich trübe Gedanken machte. Aber in solch kleiner Evastochter, ob sie auch erst zwölf Jahre alt ist, wohnt doch schon ein ganz Teil Eitelkeit. Immer wieder kehrte Elses Denken zu dem Rotkarierten zurück.

Eine Mutter hat scharfe Augen. Selbst wenn sie den ganzen Tag kaum den Blick von ihrer Näharbeit hebt, sie weiß doch, was in dem Herzen ihres Kindes vorgeht.

Frau Reinhardt grübelte und grübelte. Tausendmal mehr als das Kind empfindet ja die Mutter ihre Unzulänglichkeit, wenn sie dem Liebling, wie sie es so gern getan, nicht helfen kann. Soviel die Mutter auch sann und rechnete, es wollte nicht zu einem neuen Kleide langen.

Da kam Else eines Tages aus der Schule, die sonst so rosigen Wangen blaß, die lachenden Augen trüb. Aber sie biß tapfer die Zähne zusammen, die kleine Else, daß nur ihr Mutterchen nichts von ihrem Kummer merken sollte.

Aber als das Töchterchen kaum die Suppe anrührte und ihre helle Stimme, die sonst zur Freude der Mutter all die reizenden Lieder, die sie zur Aufführung gelernt, zu jubilieren pflegte, heute ganz verstummt war, nahm sich Mutter ihr Mädel vor.

Da kam's denn heraus.

Sie hatten heute die erste Stellprobe gehabt. Das Konzert fand im Zirkus statt, da derselbe die größte Menschenmenge faßte. Die Stimmen der Solosänger waren geprüft worden. Und da hatte man Else ganz dicht neben die kaiserliche Loge postiert, da ihre Stimme eine der schönsten gewesen. Der Herr Dirigent aber hatte ihr über das Blondhaar gestrichen und anerkennend gesagt: »Mädel, aus dir wird noch mal was, du hast ja einen wahren Schatz in der Kehle!«

Und darüber war Else traurig? Nein, das hatte sie stolz und glücklich gemacht. Aber gleich darauf war es ihr eingefallen, wie sich wohl das Rotkarierte neben der kaiserlichen Loge ausnehmen würde, ob nicht am Ende die jungen Prinzen und Prinzessinnen ebenfalls über das Stieglitzkleid spotten würden.

»Ach, Mutterchen, hätte ich den Schatz doch lieber in der Hand als in der Kehle, daß ich dafür was kaufen könnte!« sagte sie unter Lachen und Weinen.

»Sei dankbar, Kind, daß dir der liebe Gott eine schöne Stimme zu deiner und deiner Mitmenschen Freude geschenkt hat, die ist mehr wert als ein schönes Kleid,« tröstete die Mutter ihr Kind und sich selbst.

Die Tage vergingen. Eisige Wintertage waren es. Man konnte nicht mehr an neue weiße Kleider denken, man hatte in dem Dachstübchen, wo der Wind durch die schlechtschließenden Fenster pfiff, genug damit zu tun, das Geld zur Feuerung aufzubringen.

Vierzehn Tage waren es noch bis zum Konzert.

Da wachte Else eines Morgens ganz erstaunt auf, nicht von einem Lärm, sondern im Gegenteil von einer ungewohnten Ruhe.

Mutters Nähmaschine stand still. Sie rasselte nicht wie sonst in aller Herrgottsfrühe.

Die Mutter aber warf sich mit fieberheißen Wangen in den Kissen umher. Sie hatte sich bei dem schneidenden Ostwind am Abend zuvor, als sie die Arbeit abliefern ging, eine Lungenentzündung zugezogen.

Böse Tage kehrten in das Dachstübchen ein. Die zwölfjährige Else hatte jetzt ganz allein die Last des armseligen Haushaltes auf ihre jungen Schultern zu nehmen. Ach, und daneben drückte sie eine andere Last noch viel, viel mehr hernieder: Die Sorge um das Leben der Mutter!

Der Armenarzt zuckte die Achsel. Die zarte Frau würde der bösen Krankheit wohl kaum Widerstand entgegenzusetzen haben, er gab wenig Hoffnung.

Kräftige Hühnersuppe sollte die Mutter zur Stärkung bekommen, woher sollte Else das nur bestreiten? Das kleine Pappschächtelchen, das die Barschaft enthielt, war bis auf wenige Pfennige geleert. Drei Abende hatte sie und die Brüder schon mit einer Wassersuppe fürlieb nehmen müssen.

Aber ihr Mutterchen mußte die notwendige Pflege haben, das durfte nicht sterben – und wenn sie betteln gehen mußte!

Betteln, nein, das war nicht nötig, wenn auch Mutter es damals in ihrem Scherz so genannt hatte. Sie konnte singen – hatte sie nicht einen Schatz in der Kehle?

Ja, sie wollte mit ihrer Zither in den Höfen herumziehen und das Geld für Mutters Pflege und für die armen, hungernden und frierenden Brüderchen ersingen.

Es war die letzte Hilfe!

Sie tat kein Unrecht – nein – sie tat es ja, damit ihr Mutterchen nicht sterben mußte!

So schlang Else eines Tages, nachdem sie das letzte Stück Holz in den Ofen geschoben und ihrer Mutter, wie um Verzeihung bittend, über die geschlossenen Augen gestrichen, ein Tuch um Kopf und Schultern und griff nach Vaters Zither.

Leise stahl sie sich aus dem Hause.

Eisig pfiff der Wind. Scharf wie Nadelspitzen jagte er die Schneeflocken in das Kindergesicht. Aber mutig schritt sie vorwärts.

Dort das schöne, große Haus, sollte sie da hineingehen? Sicher wohnten hier reiche Leute, die nicht mit dem klingenden Beifall kargten.

Else stand und zögerte.

Nein, sie traute sich nicht, das Haus schaute doch gar zu vornehm drein. Lieber versuchte sie es in dem bescheideneren nebenan.

Zwischen dem Müllkasten und der Regentonne nahm Else in dem engen Hof Aufstellung. Mit klammen Fingern wickelte sie Vaters Zither aus, hauchte in die Hände und begann leise die ersten Akkorde. Noch leiser und scheuer setzte darauf ihre Stimme ein. Sie schämte sich unsäglich.

Kein Fenster öffnete sich. Kein Geldstück klirrte auf die Steine des Hofes. Der eisige Sturm übertönte mit wildem Hohnlachen die schüchterne Kinderstimme.

Sie mußte lauter singen, sie mußte – es war ja für ihr Mutterchen!

Das erste Fenster ward aufgetan. Ein Schuster hielt in seinem Hämmern inne, nickte mit dem Kopfe nach den Klängen des Liedes und warf der kleinen Sängerin ein Geldstück zu. Jetzt folgten andere. Hier und dort öffneten sich Fenster und Herzen. Das arme Kind da unten, das in Sturm und Kälte so schön sang, erregte Mitleid.

Ein – zwei – drei – vier – fünf Sechser. – Else knickste glückstrahlend. Dann zog sie ein wenig dreister in das vornehme Haus nebenan.

Hei – wie auf einen Schlag öffneten sich die Küchenfenster in allen Stockwerken, als Elses helle Stimme einsetzte. Lachend und sich in den Hüften wiegend, schauten dralle und rotbäckige Küchenfeen, die Anna, die Mine, die Guste und Rike, Kochlöffel oder Besen im Arm, auf sie hernieder. Aber ehe sie sich noch dazu entschließen konnten, der Kleinen den üblichen »Sechser« zuzuwerfen, kam der Pförtner und jagte die verängstigte Else mit einem barschen »Hier wird nichts gegeben!« vom Hof.

Tränen schossen in die Blauaugen. Else biß sich auf die Lippen, daß es ihr weh tat, um nur nicht laut aufzuweinen. Die kalten Worte des Mannes ließen die Kinderseele mehr frieren als Sturm und Winterkälte.

Es dauerte lange, bis sie sich aufs neue in ein Haus hineinwagte. Hier ging es ihr besser. Es wurde eine reiche Einnahme. Jeder halbwegs nur musikalische Mensch ward auf die selten schöne Kinderstimme aufmerksam.

Hin und wieder sagte wohl auch einer: »Schade, daß so was auf den Höfen verkommen muß!«

Eine gutherzige Waschfrau reichte dem kleinen, verfrorenen Ding, das so »rührselig« sang, einen Topf heißen Kaffee aus dem dampfenden Waschkeller hinaus. Oh, das tat gut, das warme Wort und der warme Trank!

Am schlimmsten waren die Höfe, auf denen es eine Hundehütte gab. Else hatte, trotzdem sie schon zwölf Jahre alt war, immer noch eine geheime Angst vor großen Kötern. Daß die Hofhunde den fremden kleinen Eindringling nicht gerade freundlich begrüßten, war ja selbstverständlich. Sie knurrten, sie blafften, rissen an der Kette, oder wenn sie, was das Allerschlimmste war, frei herumliefen, wartete Elfe ihr Willkommen gar nicht ab. Statt zu singen, nahm sie schreiend Reißaus. Musikalische Hunde waren auch nicht gerade angenehm. Die heulten und jaulten mit der kleinen Sängerin im Duett, daß es nicht anzuhören war.

Als es dunkel wurde, hatte sie doch so viel zusammenbekommen, daß sie das Huhn für die kranke Mutter kaufen konnte. Ja, zu Brot, Milch und Kohlen langte es sogar noch.

Else war selig. Sie hatte nicht mehr das Empfinden, gebettelt zu haben, das ihr doch ab und zu bei unfreundlichen Worten auf den Höfen gekommen, nein, es war das erste selbstverdiente Geld!

Nun mußte ja ihr Mutterchen wieder genesen!

Eine hilfreiche Nachbarsfrau erbot sich, die Suppe für die Kranke zu kochen, und als die Mutter die ersten Tropfen der kräftigen Brühe schluckte, war keiner so stolz wie Else.

Die Suppe allein mochte ja nicht schuld daran sein, möglich, daß der liebe Gott, der Vater der Witwen und Waisen, Elses Kindesliebe belohnen wollte – ihr Mutterchen wurde gesund!

Langsam, sehr langsam ging es freilich mit der Genesung. Das Schulkinderkonzert nahte, und noch immer hatte sie das Bewußtsein nicht völlig erlangt.

Else hatte den Lehrer gebeten, sie nicht mitsingen zu lassen, da ihre Mutter krank sei. Aber der wollte durchaus nichts davon hören. Else Reinhardt war die beste Gesangschülerin, mit der wollte Herr Schmidt Ehre einlegen. Als er nun hörte, daß es besser ginge mit der Mutter, war überhaupt keine Rede mehr vom Fehlen.

Noch mehrere Male hatte Else während der Krankheitstage Zuflucht zu Vaters Zither nehmen müssen, wenn kein Brot mehr im Hause war, wenn es galt, die notwendige Pflege für die Mutter zu beschaffen. Die Ernährerin der Familie lag danieder, da mußte Else wieder von Hof zu Hof ziehen, um wenigstens den Hunger, den bitteren Gast, aus dem Dachstübchen zu bannen.

Heute hatte die Else einen schweren Kampf mit sich selbst zu kämpfen. Morgen war das Konzert, sie hatte soeben das rotkarierte Stieglitzkleid einer letzten Musterung unterworfen. Das Ergebnis war niederschmetternd. Sie mußte in den letzten Wochen noch tüchtig gewachsen sein, denn das Kleid reichte trotz der schwarzen Verlängerung ihr noch nicht bis zu den Knien. So sehr Else auch daran zog und zerrte, länger wurde es nicht.

Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. Wenn sie um Brot auf den Höfen gesungen hatte, konnte sie es nicht ebensogut für ein neues Kleid tun?

Dann würden sie die Kameradinnen morgen nicht auslachen, dann konnte sie, ohne sich zu schämen, ihren Platz neben der kaiserlichen Loge einnehmen.

Schon griff sie nach Vaters Zither.

Die gab einen leisen, traurigen Ton von sich. Wie Mutters Jammerlaut damals klang es, als Else ihr zum ersten Male von ihrer Absicht gesprochen. Das Kind bedeckte die Augen mit beiden Händen.

Nein – nein – wegen eines neuen Kleides durfte sie nicht tun, was der Mutter Schmerz bereiten mußte. Wenn sie auch um des täglichen Brotes willen den schweren Schritt unternommen hatte, aus Eitelkeitsgründen durfte sie es nicht.

So kam der Konzertsonntag heran, und Else schlüpfte in das Rotkarierte. Nachdem sie die kleinen Brüder versorgt, trat sie noch einmal ans Bett der Mutter. Die hatte zum ersten Male die Augen voll geöffnet und schaute ihr Kind klaren Blickes an. Heute ganz fieberfrei. Elses Herz jubelte. Sie dachte nicht mehr an das ausgewachsene Stieglitzkleid, glückselig drückte sie einen Abschiedskuß auf die kühle Stirn der Mutter.

Die Schüler und Schülerinnen versammelten sich im Zirkus. Wie der Kinderkreuzzug ins gelobte Land schaute es auf der Straße aus. Scharen von Kindern, immer mehr, immer neue, Knaben und Mädchen, große und kleine – Kinder, wohin man auch blickte.

Im Zirkus wimmelte es von blonden und dunklen Kinderköpfen. Das war ein Flüstern, ein Wispern, Kichern und Lachen, bis jedes von den zweitausend Schulkindern seinen Platz eingenommen hatte. Die Lehrerinnen, die jeder Abteilung beigegeben waren, hatten alle Mühe, die aufgeregten jungen Sänger im Zaume zu halten.

Hier zog ein Bruder die gerade vor ihm sitzende Schwester übermütig am Zopf, daß sie losschrie, dort probten zwei Jünglinge trotz der Enge im Boxen ihre kraftvollen Muskeln. Drüben pufften sich zwei um einen Platz, hier weinte ein kleines Mädel, das den ihrigen durchaus nicht finden konnte.

Im allgemeinen ging es bei den Mädchen leiser und gesitteter zu als bei den Jungen. Die Mädel hatten genug damit zu tun, die eingeschmuggelten Bonbons zu vertilgen, und vor allem gegenseitig ihre Kleider zu bewundern. Wer nur einigermaßen dazu imstande war, hatte ein weißes angelegt.

»Habt ihr schon Else Reinhardt gesehen, sitzt die Erste und hat nicht mal ein weißes Kleid an – «

»Wie unser Flickenkasten sieht sie aus!« lachte eine andere.

»Ja, und zum Ballett scheint sie gehen zu wollen, so kurz ist ihr Rock,« flüsterte es wieder.

Else saß wie auf Kohlen. All die spöttischen Bemerkungen der übermütigen Schulkameradinnen fing ihr Ohr gequält auf, wenn sie auch noch so leise geflüstert waren. Aber sie wollte sich ihre frohe Stimmung nicht nehmen lassen. Ihr Mütterchen war wieder gesund, sie hatte heute das erste bewußte Wort zu ihrem Kinde gesprochen, da mochten die anderen sagen, was sie wollten.

Der Zirkus füllte sich. Lange vorher schon waren sämtliche Billette ausverkauft. Trotz des gewaltigen Rundbaues konnte bald kein Apfel mehr zur Erde fallen. Allenthalben sah man Kinder ihrem Vater, der Mutter oder einem Onkel mit dem Taschentuch zuwinken.

Else hatte niemand hier, dem sie zunicken konnte. Aber sie ließ sich dadurch nicht traurig machen, nein, sie hatte ja heute allen Grund, dem lieben Gott dankbar zu sein.

Da geht es plötzlich wie ein elektrischer Schlag durch die vieltausendköpfige Menge. Auf einen Ruck haben sich all die Schulkinder von ihren Plätzen erhoben.

Der kaiserliche Hof ist erschienen.

Ganz vorn an der Brüstung der golden glänzenden Loge sitzt der Kaiser. Neben ihm die Kaiserin mit grauem Federhut. Dahinter Kronprinz und Kronprinzessin, die junge Prinzessin im weißen Spitzenkleid und einige Prinzen. Im Hintergrunde das Gefolge.

Elses Herz pocht bis in den Hals hinein. Keine zehn Schritte von ihr entfernt der Kaiser und die Kaiserin. Auch in ihren kühnsten Träumen hatte Else niemals gehofft, sie so nahe zu sehen.

Aber jetzt war keine Zeit zum Staunen. Der Dirigent hatte mit dem Taktstock auf das Pult geklopft, das Zeichen zum Beginn.

Wie eine einzige Stimme setzten Tausende von klaren Kinderstimmen überwältigend ein: »Der Herr ist mein Hirt.«

Da feuchtete sich manches Auge bei dem herzinnigen Sang der jungen Kehlen, beim Anblick der reinen Kindergesichter.

Elses Stimme jubelte heute. Als ob sie all das große Glück, daß es ihrem Mutterchen besser ging, in Tönen herausjauchzen wollte.

Das erste Lied war verklungen.

Endloses Beifallklatschen.

Das aber war es nicht allein, was Elses Herz höher schwellen ließ. Deutlich, ganz deutlich hatte sie gehört, wie der Kaiser ein vernehmliches »Bravo!« gerufen. Und was das merkwürdigste war, es schien ihr, als ob er sie ganz besonders dabei angesehen.

Das zweite Lied, der Kaisergruß: »Heil unserm deutschen Kaiser! Heil Kaiser Wilhelm, dir!« Wie die Wangen der jugendlichen Sänger in vaterländischer Begeisterung glühen, wie die glänzenden Kinderaugen glücklich stolz zur Kaiserloge hinübergehen!

Der Kaiser winkt den kleinen Patrioten lächelnd seinen Dank zu.

Der Knabenchor schmettert jetzt »Lützows wilde, verwegene Jagd«, und darauf der Chor der Mädchen ein neckisches Maienlied.

Die Blicke der kaiserlichen Familie sind nach rechts gerichtet, man flüstert leise miteinander, aller Augen haften auf der Stelle, wo ein blondzöpfiges Mädel selbstvergessen wie eine Lerche in den Lüften jauchzt und jubiliert.

Aber plötzlich wurde Else aufmerksam.

Blutübergossen nahm sie ihren Platz wieder ein. Kein Zweifel, ihr galten die Blicke der hohen Herrschaften! Nein, nicht ihr, sicher ihrem häßlichen, rotkarierten Kleide, vielleicht waren sie darüber böse, daß sie sich nicht feiner gemacht hatte.

Zum Glück war der Knabenchor jetzt wieder dran. Else konnte sich von dem beschämenden Gefühl, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, noch ein wenig erholen.

Aber als die Mädel dann wieder ihr übermütiges Kinderlied »Der Bauer hat ein Taubenhaus« zu singen begannen, da dachte die Else nicht mehr an ihr Rotkariertes. Sie sang, als ob sie daheim im Dachstübchen ihre Stimme erschallen ließ.

Pause.

Der Kaiser ließ den Chordirigenten zu sich rufen, um ihm seine Anerkennung auszusprechen.

Einige Minuten später trat der Dirigent mit heißem Kopf vor die nichtsahnend einen geschenkten Bonbon lutschende Else.

»Ihre Majestät die Kaiserin wünscht dich zu sprechen. Du bist in die kaiserliche Loge befohlen!« flüsterte er erregt.

Else wäre fast vor Schreck an ihrem Bonbon gestickt. Mit zitternden Händen beförderte sie ihn unauffällig in ihr Taschentuch und folgte dem Herrn, an allen Gliedern bebend.

Jetzt kam's – jetzt würde die Kaiserin ihre Mißbilligung über das wenig festliche Kleid aussprechen.

Ihr schwindelte, als sie die mit roten Teppichen belegte Kaiserloge betrat, es ward ihr schwarz vor den Augen. Kaum unterschied sie blitzende Uniformen, kaum vermochte sie ihren tiefen Knicks zu machen.

Da traf eine freundliche Stimme ihr Ohr.

»Wie heißt du, liebes Kind?«

Else nannte mit niedergeschlagenen Augen ihren Namen.

»Du hast ja eine ganz wunderbare Stimme, kleine Else, die wollen wir uns und unserm Volke erhalten. Wo wohnst du?« In herzgewinnender Freundlichkeit sprach die hohe Frau zu der verschüchterten Kleinen.

Ein Begleiter notierte die genannte Adresse.

Dann sagte auch der Kaiser lächelnd, sie würde sicherlich einmal eine große Sängerin werden, und – sie war entlassen.

Wie Else wieder auf ihren Platz gekommen, das wußte sie nicht. Die Blicke des Publikums, der Lehrerinnen und Kinder, alle suchten sie das kleine, ärmlich gekleidete Mädchen, das Majestät so ausgezeichnet.

Wieder schwindelte es ihr, aber diesmal vor seligem Glück. Trotz des ausgewachsenen, rotkarierten Stieglitzkleides hatten Kaiser und Kaiserin mit ihr gesprochen, sie gelobt – ach, sie hätte die ganze Welt umarmen mögen.

Es wurde ihr schwer, den nicht endenwollenden Applaus am Schluß des Konzertes abzuwarten. Sie lief wie gejagt durch die Straßen, sie flog die Treppen zum Dachstübchen empor, um nur ja keine Minute Zeit zu verlieren. Ihr Mutterchen mußte sich mit ihr freuen.

Gottlob! Klaren Blickes grüßte die Mutter ihr Kind, und mit deutlicher, wenn auch noch etwas matter Stimme fragte sie: »Na, war's schön, Else?«

Ach, die Else fand kein Ende, zu erzählen, wie schön, wie herrlich es gewesen.

Freude soll die beste Medizin sein, das bewahrheitete sich auch an Frau Reinhardt. In glücklichem Mutterstolz blickte sie auf ihr blondes Mädel.

Am nächsten Tage erschien ein Herr vom kaiserlichen Hof, um Erkundigungen über die Familie einzuziehen.

Er mußte wohl die bittere Armut und Krankheit, die in dem Dachstübchen herrschte, recht anschaulich geschildert haben, denn schon in wenigen Tagen sprachen Damen vom Komitee des Schulkinderkonzertes vor und steuerten tatkräftig der ersten Not.

Else hatte nicht mehr nötig, in Sturm und Schnee mit Vaters Zither auf den Höfen zu singen. Als sie der Mutter gestand, wie sie das Geld zur Pflege und zum Lebensunterhalt erworben, vergoß diese wieder Tränen. Aber das waren Freudentränen über die Kindesliebe ihrer Else.

Ihre Majestät die Kaiserin setzte der kleinen Sängerin bis zum Abschluß ihrer musikalischen Studien eine jährliche Summe aus, die so reichlich war, daß alle Sorgen ein Ende hatten.

Frau Reinhardt durfte dieses Geld ohne Skrupel annehmen, galt es doch, ihre Else zu einer tüchtigen Künstlerin auszubilden.

Heute ist Else Reinhardt eine der beliebtesten und gefeiertsten Opernsängerinnen. Ihr Gesang begeistert Tausende, die Herzen des Publikums fliegen ihr zu, sobald sie die Bühne betritt.

In das kaiserliche Schloß wird die berühmte Künstlerin jetzt oft geladen, viele Auszeichnungen werden ihr dargebracht. Keine aber hat sie je wieder so glücklich gemacht wie die, welche dem kleinen Mädel im ausgewachsenen, rotkarierten Kleide bei ihrem ersten Konzert zuteil geworden.


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