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Jungfer Rührmichnichtan

»Mama – Mutti – Mama–a–a–a–«

»Aber, Kinder, müßt ihr euch denn immer und ewig zanken, könnt ihr denn keinen Frieden halten? Es ist ja ganz –«

»Mama – uuuh – der Erwin läßt mich gar nicht arbeiten – uuuh – immerzu ziept er mich am Zopf – und – und ich schreibe doch gerade meinen deutschen Aufsatz ins reine – sieh nur – uuh –« Schluchzend wies Ulli auf die düsteren, schlangenartigen Linien, seltsamen Krähenfüße und niedlichen Kleckschen, welche die saubere Reinschrift einer geographischen Landkarte ähnlich machten.

»Aber, Erwin!« Die Mutter wandte sich mit erzürnter Miene dem übermütigen Tertianer zu.

»So 'ne Heulrike!« sagte Erwin verächtlich, »du kennst doch die Jungfer Rührmichnichtan, Mutter – ganz freundlich habe ich sie um das große französische Lexikon, das ihr Onkel Theodor zu Weihnachten geschenkt hat, gebeten, da wurde sie gleich garstig und patzig. ›Laß mich in Ruh‹ – ich hab' jetzt keine Zeit, und nachher brauch' ich's selbst, so fuhr sie mich an; na, da mußte ich sie doch zur Strafe natürlich ein wenig ärgern. Und aus Wut darüber hat sie die mit Tinte gefüllte Feder auf ihre Reinschrift geworfen –«

»Petze,« unterbrach Ulli empört den Bruder, »pfui – – –«

»Jetzt bitte ich mir aber Ruhe aus,« rief die Mutter. »Hier, Erwin, ist das Lexikon, und nun marsch an deine Arbeit, und du, Ulli – Kind, was soll bloß daraus werden, wann wirst du endlich lernen, freundlich und gefällig zu sein, und nicht immer gleich häßlich und schroff.« Die Mutter schaute ganz bekümmert drein.

»Ja – natürlich – ich habe wieder alle Schuld – immer ich –« schluchzte Ulli gekränkt, das Taschentuch gegen das tränenüberströmte Gesicht pressend. Und eins – zwei – drei – war sie an der Mutter vorüber zur Tür hinaus.

Im Kinderzimmer nebenan spielten die kleinen Zwillingsschwestern, Annelies und Lieselott, mit der neuen Puppenküche. Mandeln, Schokolade, Pfefferkuchen und Zucker wurden zu gar geheimnisvollen Gerichten verarbeitet.

»Komm, Ulli, willst du auch ein – Stückchen Pfefferkuchenbraten mit Schokolodensauce oder lieber Mandelsuppe?« fragte Annelies freundlich. Ulli gab keine Antwort.

»Bist du unartig gewesen?« fragte Lieselott mitleidig.

Doch ohne zu antworten, verließ Ulli das Kinderzimmer und entschlüpfte in ihren Schmollwinkel auf den entlegensten Papierboden in Vaters Fabrik, die sich mit ihren qualmenden Schornsteinen und rasselnden Maschinen gleich hinter dem Wohngebäude erhob.

Und da saß sie nun, das große, zwölfjährige Mädchen, in dem halbdunklen Bodenraum zwischen Riesenrollen Packpapier, mächtigen Ballen Sackleinwand, zwischen großen und kleinen Schachteln, Stricken und Bindfaden und weinte zum Erbarmen.

»Kein Mensch hat mich lieb – alle hacken sie auf mich herum – immer habe ich an allem schuld –« so klagte das törichte Kind. Natürlich, Erwin, der einzige Junge, war Vaters Liebling, und die Kleinen – ach, denen mußte man ja gut sein! Ja – wenn sie noch wenigstens die Älteste gewesen wäre, wie Schwester Ilse, die half der Mutter schon im Haushalt, die war doch schon ein ganz richtiger Backfisch mit halblangem Kleid, und richtige Backfische imponierten Ulli ungeheuer. Zur Tanzstunde ging Ilse auch schon, sie hatte ein eigenes reizendes kleines Stübchen, während Ulli selbst noch im Kinderzimmer schlafen mußte. Das war's ja eben, immer wurde sie zu den Kleinen gerechnet. Sie war doch kein Baby mehr, war doch schon zwölf Jahre alt, aber Ilse und Erwin, das waren nun mal die Großen. – überhaupt Erwin – der quälte und foppte sie, wo er nur konnte? den gräßlichen Namen »Jungfer Rührmichnichtan« hatte er auch für sie herausgetüftelt.

Aber wenn Erwin sie ganz besonders ärgern wollte, dann rief er sie »Rike« – einfach Rike –, wie Ulli diesen Namen haßte! War doch die leider nicht mehr zu ändernde Tatsache, daß sie in der Taufe den altmodischen Namen Ulrike erhalten hatte, der größte Schmerz ihres zwölfjährigen Lebens. Alle hatten sie hübsche Namen, Ilse, Erwin, Annelies und Lieselott, nur sie war einer längst verstorbenen Urgroßtante zu Ehren Ulrike genannt worden.

Und dabei hatte Ulli doch alle im Grunde des Herzens so lieb, die Eltern, Ilse und die Kleinen, und vor allem Bruder Erwin, der ihr im Alter am nächsten stand. Warum sie sich wohl gerade mit Erwin am meisten zankte? Ganz sicher, er war in den Flegeljahren? die Mutter hatte es erst neulich gesagt. Daß sie selber durch ihr häßliches, unverträgliches Wesen die meiste Schuld an dem ewigen Streit und Hader trug, das sah unsere Ulli nicht ein.

Sie hockte auf einem großen Ballen, baumelte mit den Füßen, sah blinzelnd durch das verstaubte Dachfensterchen zu, wie die Winde drüben am Speicher quietschend schwere Säcke emporzog, wie Peter, der graue Kater, am Dachfirst entlang balancierte, und dachte allerhand törichtes Zeug.

Wenn sie den Eltern und den Geschwistern doch mal zeigen könnte, wie man sie verkannt, wie gut und edel sie eigentlich war, wenn doch mal etwas Großes, Außergewöhnliches geschehen wollte, wobei sie sich als mutige Heldin zeigen konnte. Eine furchtbare Feuersbrunst etwa – wie die glühenden Funken sprühten, wie der schwarze Qualm durch Tür und Fenster jagte, und mitten unter den Rettern sie, die kleine, schwache Ulli. Trotz lodernder Flammen und erstickendem Rauch drang sie mit Lebensgefahr in das brennende Haus und rettete das Kostbarste.

Oder auch Annelies und Lieselott wurden geraubt – es war schrecklich – von Zigeunern, Landstreichern ober sonstigem Volk, und sie, Ulli, führte die weinenden Kleinen wieder im Triumph den geängstigten Eltern zu. Ja, da würde man sie schon liebhaben. Ulli drückte aufs neue das Taschentuch gegen die brennenden Augen und weinte heiße Tränen aus innigem Mitleid über sich selbst.

»Üüüüüü! –« Ein durchdringendes Tuten riß Ulli aus ihrer Trauer. Entsetzt starrte sie um sich. Sieben Uhr – sie war plötzlich aus ihren Heldenträumen erwacht – es pfiff schon Feierabend in der Fabrik – ach, und ihre Schularbeiten, die hatte sie ja ganz vergessen. Drohend stand der noch einmal abzuschreibende deutsche Aufsatz vor ihren Blicken, und das französische Gedicht » Le petit savoyard« war auch noch nicht ordentlich präpariert. Hastig tastete sich Ulli durch den fast dunklen Bodenraum zur Treppe. Wie gejagt flog sie die Stufen hinab – das war Vaters Stimme, der mit dem Werkmeister sprach – glücklich war sie unbemerkt zwischen den berußten Arbeitern durch das breite Fabriktor hinausgeschlüpft.

»Kind, wo hast du nur gesteckt?« kam ihr die Mutter entgegen. »Dein Abendbrot steht schon drin im Kinderzimmer, die Kleinen sind längst dabei.« Um Ullis Mundwinkel zuckte es schon wieder verräterisch. Daß sie doch immer noch mit den beiden Kleinen um sieben Uhr zu Abend essen mußte, während Ilse und Erwin um acht Uhr mit den Eltern speisten – sie hatte es wirklich zu schlecht!

»Ulli, wo hast du dich denn herumgetrieben?« fragte Schwester Ilse, plötzlich loslachend. »Mädel, du siehst ja wie ein Maurer aus. Die ganze Kalkwand hast du auf deinem Makrosenkleid. Brrr – und der Staub auf der Schürze, selbst im Haar Staubflocken – na, und die Hände– schnell, wasch' sie dir, so kannst du doch nicht essen.«

Ulli brummte etwas von »Das geht dich gar nichts an« vor sich hin, fand es aber doch geraten, die schwesterliche Weisung zu befolgen.

Unlustig stocherte Ulli in ihrem Lieblingsessen herum, der Appetit war ihr vergangen, der deutsche Aufsatz mußte jetzt unbedingt geschrieben werden. Mutter würde sehr böse sein. – – –

»Noch nicht fertig, Ulli?« Die ab und zu gehende Mutter warf unzufriedene Blicke auf das mit heißen Wangen in fliegender Hast noch immer schreibende Töchterchen. »Es ist bald neun Uhr, du mußt ja ins Bett.«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn Erwin mir meine Reinschrift verdirbt, nun muß ich's noch mal schreiben.« Ulli empfand wieder tiefes Mitleid mit sich.

»Was, ich – ich hab' es dir verdorben?« fragte Erwin kampfbereit.

»Du bist jedenfalls schuld daran,« knurrte Ulli, eine Lüge brachte sie doch nicht über die Lippen.

»Na also, komm her, Kleinchen, du dauerst mich, ich werde dir diktieren, dann geht's schneller.« Der gutmütige Erwin griff nach dem Diarium.

»Laß!« wollte Ulli schon wieder abwehren, denn das »Kleinchen« war ihr in die Krone gefahren? aber zum Glück dachte sie noch daran, daß Erwins Hilfe nicht zu unterschätzen sei.

»Also, paß auf: In erster Reihe ist es neben Maria Stuarts Schönheit ihre große Sanftmut, die wir an ihr bewundern, – hörst du, Jungfer Rührmichnichtan, ihre große Sanftmut, merke dir's – mit der sie Elisabeths Beleidigungen zurückweist. Aber ihre feste Absicht, die Unterredung auch friedlich endigen zu lassen, scheitert an Elisabeths Spott, denn wie Schiller in seinem Tell so schön sagt: ›Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.‹ – Ha, ha, ha! der hätte dich mal kennen sollen, Jungfer Rührmichnichtan, der Herr Friedrich von Schiller, was er dann wohl erst geschrieben –«

Erwin konnte den Satz nicht vollenden, denn Ulli hatte ihm so ungestüm das Heft aus der Hand gerissen, daß ihr Diarium ein bedenkliches Aussehen erhielt.

»Wenn du mich uzen willst, du dummer Junge, dann kannst du auch drin bleiben, für so 'ne Hilfe danke ich.« Ulli warf beleidigt die braunen Zöpfe zurück und machte sich mit tränenden Augen wieder allein an die Arbeit.

So, die Unterredung zwischen Maria und Elisabeth war zu Ende, und ihr Aufsatz auch, nun noch schnell Striche ziehen. O je, da hatte es gekleckst, das kam von der Eile. Und gerade für Fräulein Busch, die Schulvorsteherin, na, das konnte sie ja morgen in der Schule noch ausradieren. Jetzt noch » Le petit savoyard« übersetzen, obgleich sie schon so müde war, daß sie kaum noch aus den Augen sehen konnte.

»Ulli, nun ist es genug,« rief Vater plötzlich ernst aus dem Nebenzimmer, »pack deine Sachen zusammen und geh schlafen. Was jetzt noch nicht fertig ist, bleibt, dann mußt du die Strafe eben morgen in der Schule auf dich nehmen.«

Ulli wagte kein Wort der Erwiderung, sie kannte Vaters Bestimmtheit; aber während sie gähnend die Bücher zusammenpackte, stellte sie, wieder einmal unzufrieden mit ihrem Los, fest, daß ihr auch gar nichts erlaubt werde, nicht einmal Schularbeiten zu machen.

»Komm, Ullichen, ich wecke dich morgen zeitiger,« tröstete Ilse sie, »dann lernst du es morgen früh noch.«

Am anderen Morgen aber mühte sich Ilse vergeblich, Ulli wach zu bekommen. Die späte Abendarbeit rächte sich, wie ein Igel lag Ulli zusammengerollt im Bett und hatte die Bettdecke zum Schutz gegen den Störenfried Ilse bis über die Ohren gezogen. Ilse bat, schalt – vergebens – nur ein unwilliges Murren wurde ihr als Antwort zuteil. »Ulli, es ist ja schon ein Viertel auf acht Uhr – um Himmels willen – an Lernen ist ja gar nicht mehr zu denken, aber du versäumst auch noch obendrein die Schule, geschwind, steh auf!« beschwor sie die große Schwester.

Ulli rührte sich noch immer nicht.

Da griff Ilse zum letzten Mittel. Sie zog Ulli geschickt die Bettdecke vom Kopf und bespritzte sie mit dem nassen Schwamm. Das half. Weinend und schimpfend sprang Ulli empor und bekam nun selbst einen Schreck über den vorgerückten Uhrzeiger.

Glücklicherweise hatte Ulli nicht weit bis zur Schule, aber in der Nacht war, trotzdem man bereits den zweiten März schrieb, wieder starker Schnee gefallen. Ulli rutschte und rutschte, sie kam nur langsam vorwärts.

Als sie in den mit weißglitzernden Bäumen bestandenen Schulhof einbog, läutete es gerade, und wie der Wind huschte Ulli die große Treppe hinauf.

Herzklopfend blieb sie an der Klassentür III stehen. O weh, sie war bereits geschlossen, Professor Winkelmann war schon drin.

»Nanu, Ulrike Heßler,« – der Herr Professor schob sich die goldene Brille hoch und sah Ulli, welcher die Anrede »Ulrike« wieder einen Stich ins Herz gegeben hatte, mißbilligend an – »hast du nicht aus den Federn finden können?«

Ulli hörte das unterdrückte Kichern der Klasse, sie wurde rot, und die Jungfer Rührmichnichtan in ihr begehrte bereits wieder auf.

Sie schwieg verstockt.

»Na, wenn du nicht einmal ein Wort der Entschuldigung findest, Ulrike Heßler, dann hast du heute mittag von eins bis zwei vielleicht Zeit genug, hier in der Klasse darüber nachzudenken, wie ein großes Mädchen sich entschuldigt.«

Der Herr Professor vertiefte sich wieder in seine gelehrte Abhandlung über den Ackerbau in Südafrika, und Ulli versuchte vergebens, die in die Augen steigenden Tränen zurückzudämmen. Mit zuckender Lippe nahm sie ihren Platz ein. Nachsitzen, sie, solch eine Schmach; seit ewigen Zeiten war es nicht vorgekommen, daß eine Schülerin nachsitzen mußte! Tief senkte Ulli den Kopf, daß nur keine die glühende Schamröte sah, die ihr übers Gesicht jagte.

»Ullichen, nimm dir's doch nicht so zu Herzen,« flüsterte ihr ihre beste Freundin, Martha Wendler, die hinter ihr saß, tröstend zu und gab ihr einen kleinen Aufmunterungspuff in den Rücken.

Aber das nahm Jungfer Rührmichnichtan heute gewaltig krumm. »Laß mich!« Unwirsch machte sie sich von der Freundin frei.

»Na, was haben denn die beiden da hinten in der Ecke miteinander, Ulrike soll wohl heute mittag noch Gesellschaft bekommen, hä?« Der Herr Professor trommelte ärgerlich mit den Fingerknöcheln auf das Katheder. »Wiederhole, Ulrike Heßler, was habe ich eben gesagt, was wird in Südafrika am meisten gezogen?«

In namenloser Verlegenheit erhob sich Ulli vom Platz. Sie hatte keine blasse Ahnung, ob Herr Professor Winkelmann soeben über Getreidebau oder über den Orang-Utang gesprochen hatte. Sie hatte die ganze Zeit nur an das fatale Nachsitzen gedacht.

»Mais«, flüsterte ihr die gutherzige Martha gefällig zu.

»Reis«, wiederholte Ulli unsicher.

»Reis« – der Herr Professor wiegte nachdenklich den grauen Kopf – »doch nur sehr beschränkt, die Urheimat des Reises ist China; was kannst du mir sonst noch nennen?«

Hilflos hielt Ulli Umschau. »Kaffee«, raunte Martha, die treue Helferin in der Not, wieder hinter ihr. Aber in der Erregung des Augenblicks verstand Ulli sie nicht.

»Der Kaffee,« wisperte Martha noch einmal leise.

»Der Affe,« antwortete Ulli laut und erleichtert – endlich hatte sie verstanden.

Ein nicht endenwollendes Gelächter erhob sich in der Klasse, selbst der gestrenge Herr Professor lachte mit. Verdutzt und weinerlich ließ Ulli die entfesselte Heiterkeit über sich ergehen. Endlich gebot Herr Professor Winkelmann Ruhe.

»Na, Ulrike Heßler, du scheinst heute mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett gestiegen zu sein, das bedeutet einen Unglückstag für dich, setz dich nur wieder hin,« meinte er gut gelaunt. »Aber das dienstbeflissene Fräulein da hinten werde ich mir wohl mal hier nach vorne setzen müssen, daß ich sie etwas mehr vor Augen habe. Vorsagen ist Betrug, merke dir das, Martha Wendler.«

Martha wanderte nach vorn in die erste Reihe, und Ulli fand wieder einmal, daß es keinen bedauernswerteren Menschen auf Erden gäbe als sie.

Es war heute wirklich ein Unglückstag.

Schon in der Zwischenpause kam es zum Ausdruck. Mit Martha war Ulli böse – oder »schuß«, wie sie es nannten –, die war doch durch ihr leises Vorsagen nur schuld an der ganzen Blamage. Das Frühstück lag daheim auf dem Tisch, auch morgens hatte Ulli nichts mehr essen können, und Martha, mit der sie schon öfters freundschaftlich das Frühstücksbrot geteilt hatte, konnte sie doch heute nicht darum ansprechen. Aber die Schicksalsschläge in der Geographiestunde hatte sie ganz vergessen, die verkleckste Schlußlinie im Aufsatzheft auszuradieren. Und erst als die Schulvorsteherin mit dem Paket Hefte unter dem Arm zur Tür hinaus verschwand, fiel Ulli ihre Unterlassungssünde wieder ein. Das gab eine nette Strafpredigt bei der Rückgabe der Hefte. Und dabei hatte sie sich solche Mühe mit dem Aufsatz gegeben – ihr ging eben alles schief! Das schlimmste aber war der französische Unterricht bei Fräulein Horst, sonst ihre liebste Stunde. Ulli hatte geschwankt, ob sie sich nicht gleich lieber vorher entschuldigen sollte, daß sie nicht ordentlich auf den kleinen Savoyarden vorbereitet sei. Aber der leichtsinnige Trost: »Ich werde schon nicht rankommen!« hatte den Ausschlag gegeben.

Und nun war sie doch herangekommen, und Fräulein Horst hatte ihr Stottern und Stammeln ohne ein unterbrechendes Wort mitangehört, aber so seltsam ernst hatte sie Ulli angesehen. Und jetzt nach der Stunde winkte sie ihr. Ullis Herz klopfte zum Zerspringen, als sie zum Katheder schritt. »Ulli, warum hast du nicht gearbeitet?« fragte Fräulein Horst ruhig.

»Ich – ich –« stotterte Ulli; den klaren Augen gegenüber fiel ihr auch gar keine Ausrede ein.

»Ich glaubte, du hättest mich ein wenig lieb, Ulli,« fuhr Fräulein Horst in einem Tone fort, der Ulli tief zu Herzen ging, »aber ich sehe, ich habe mich in dir getäuscht.«

»Nein – Fräulein Horst – nein,« schluchzte Ulli da auf, »denken Sie nicht schlecht von mir, Sie sind die einzige, die gut zu mir ist, die einzige, die mich lieb hat, hier in der Schule und auch – zu Hause.«

»Aber Ulli,« – Fräulein Horst glaubte ihren Ohren nicht zu trauen – »deine guten Eltern, Kind, die lieben Geschwister – was redest du da für Unsinn!«

Und da kam es heraus, Ullis großer Jammer, daß kein Mensch sie liebhabe, daß sie sich stets zurückgesetzt fühlte, daß man sie »Jungfer Rührmichnichtan« nannte, daß sie noch immer zu den Kleinen gerechnet wurde, alles, alles beichtete Ulli unter stoßweisem Schluchzen der jungen Lieblingslehrerin.

Fräulein Horst schüttelte den Kopf über das törichte Mädchen, aber der Schmerz des unvernünftigen Kindes ging ihr nahe.

»Ulli, hast du denn Eltern und Geschwister so recht von Herzen liebgehabt?« fragte sie bedeutungsvoll.

Ulli nickte eifrig. »Wenn doch mal etwas Großes käme, etwas, wodurch ich Ihnen zeigen könnte, wie lieb ich die Eltern und alle habe, wenn ich mich doch mal für sie opfern könnte.«

Fräulein Horst lächelte unmerklich. »Dessen bedarf es nicht, Ulli,« sagte sie gleich darauf wieder ganz ernst, »wahre Liebe zeigt sich im Kleinen, täglich, stündlich – nicht in großen Taten. Nicht was man tut, sondern wie man es tut, darauf kommt es an. Sei lieb und gehorsam gegen die Eltern, rücksichtsvoll und verträglich mit den Geschwistern, so beweist du ihnen deine Liebe am allerbesten. Hast du das schon einmal versucht, Ulli?«

Ulli schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich will es versuchen, Fräulein Horst,« sagte sie leise, und ehrerbietig zog sie die Rechte der Lehrerin, die ihr aufmunternd die Haare aus dem verweinten Gesicht strich, an die Lippen.

»Und noch eins, Ulli,« rief Fräulein Horst ihr nach, »laß dich durch einen Mißerfolg nicht gleich entmutigen, Kind. Auf einen Hieb fällt kein Baum, es wird nicht immer ganz leicht sein, aber mit der Zelt werden sie zu Hause schon einsehen, daß es dir Ernst mit deiner Besserung ist. Und dann wirst du auch erkennen, daß ein jeder dich lieb hat.« – – –

Fräulein Horst hatte recht, es war nicht immer ganz leicht für Ulli. Gleich heute, am ersten Tage, als sie nach abgebüßtem Nachsitzen Erwin und Fritz Heller auf dem Heimwege begegnete, und ersterer sie mit eigentümlichem Augenzwinkern fragte: »Na, Jungfer Rührmichnichtan, hast du noch den Schnee vom Schulhof fortkehren müssen, daß du so spät kommst?«

Schon öffnete Ulli die Lippen zu einer spitzen Antwort, dachte aber noch rechtzeitig an das, was sie soeben Fräulein Horst versprochen hatte. »Nein,« sagte sie ruhig und so laut, daß es auch Fritz Heller hören konnte, »ich habe nachsitzen müssen, weil ich heute morgen zu spät kam.«

Erwin sah sie verdutzt an, er war auf eine derbe Erwiderung gefaßt gewesen, aber Ullis ehrliches Geständnis imponierte ihm.

»Armes Ding, na, denn mach nur, daß du nach Hause kommst, aber ein anständiger Kerl bist du, daß du es offen erzählst.«

Lange hatte Ulli nichts so froh gemacht wie die wenigen herzlichen Worte des Bruders. Jetzt glaubte sie schon gewonnenes Spiel zu haben, es war ja furchtbar leicht, freundlich und verträglich zu sein. Aber als der Vater daheim mehr im Scherz als im Ernst sagte: »Kinder, die nachbleiben, dürften eigentlich kein Mittagbrot mehr bekommen,« da vergaß Ulli ihre guten Vorsätze. »Dann kann ich ja lieber gleich verhungern,« rief sie ungezogen, »Kaffee habe ich heute früh nicht getrunken, kein Frühstück gegessen, und nun auch kein Mittagbrot!« Sie tat sich wieder jämmerlich leid, um so mehr, als sie nun zur Strafe für ihr unartiges Wesen vom Eßtisch gewiesen wurde und im Kinderzimmer speisen mußte.

Und noch eins war es, was ihr heute gegen den Strich ging und sie daran hinderte, lieb und gut zu sein, wie sie so gern wollte.

Gestern spät am Abend war eine neue Köchin zugezogen, und Ulli zitterte vor Aufregung, ob diese wohl auch zu ihr wie zu Ilse und Erwin »Sie« sagen würde. Sie machte sich so groß wie möglich, stellte sich auf die Fußspitzen und reckte den Hals, so sehr sie nur konnte, als die neue Marie das Zimmer betrat.

Und siehe – o Wonne – »Ich habe das Essen für Fräulein Ulli schon hereingebracht,« sagte Marie laut und deutlich.

»Für wen?« fragte die Mutter belustigt. »Ulli ist ein Kind und kein Fräulein, zu der wird ›du‹ gesagt, was, Ulli, das kommt dir selbst lächerlich vor?«

Und Mutter und Vater lachten, und Ilse kicherte, ja, selbst die kleinen Zwillinge stimmten, ohne zu wissen warum, in das fröhliche Gelächter mit ein. Nur Ulli kam die Sache nicht lächerlich vor, bitterbös sah sie in die lachenden Gesichter ringsum. Und da behauptete Fräulein Horst noch, man habe sie lieb! – – –

Doch mit der Zeit meldete sich die Jungfer Rührmichnichtan immer seltener. Es ging nicht mit einem Male, nur sehr, sehr langsam, und gar oft litt Ulli noch Schiffbruch. Aber die Eltern sahen doch, wie ihr Töchterchen bestrebt war, das häßliche, unfreundliche Wesen in sich zu unterdrücken, und das machte sie sehr froh. Auch Erwins Neckereien verstummten allmählich, als er merkte, daß Ulli sie so harmlos aufnahm, wie sie gemeint waren. Bald trat an Stelle des ewigen Nörgelns und Zankens eine innige Kameradschaft zwischen Bruder und Schwester.

So kamen die Pfingstferien heran, und man rüstete wie alljährlich zum Besuch auf dem schlesischen Gute bei Großmama. Da trat eines Tages die Mutter an das Pult der emsig schreibenden Ulli.

»Ulli, was meinst du, hättest du wohl Lust, mit Vater, Ilse und Erwin eine Fußtour durch das Riesengebirge zu machen?«

Ulli ließ die Feder sinken, erstaunt blickte sie die Mutter an, sie wurde ganz rot vor Freude.

Lächelnd fuhr die gütige Mutter fort: »Ja, Vater hat gesagt, er will mit seinen Großen durch das Gebirge wandern und dann auf dem Gut bei Großmama enden. Und da du uns die ganze letzte Zeit über durch dein Benehmen gezeigt hast, daß wir dich zu den Großen rechnen können, sollst du auch mit, aber du scheinst mir keine rechte Lust zu haben, wie?«

»Ach, Mutti, Mütterchen!« jauchzte Ulli selig und sprang der Mutter an den Hals, »ach, ach, ich bin ja so glücklich!«

Lachender, goldener Sonnenschein lag über der jungen, maiengrünen Frühlingswelt, als Ulli mit dem Vater und großen Geschwistern auf die Pfingstwanderschaft zog. Und lachende, goldene Jugendfreude war auch in unserer Ulli. Jungfer Rührmichnichtan wagte sich nie wieder zum Vorschein.


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