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So hockte denn Annedore auf der niedrigen, weinumrankten Steinmauer des Hofgärtchens, gähnte und baumelte zum Zeitvertreib mit den Beinen, anstatt zu Lillis Geburtstagsgesellschaft zu gehen.
Aber nicht lange gab sie sich trübseligen Gedanken hin. Im Nachbarsgarten erschien der kleine Paul, ein sechsjähriges Bürschchen, mit dem sie bereits Freundschaft geschlossen hatte.
»Au, sieh mal, was ich Feines habe, Annedore«, rief er herüber. »Mein Onkel ist aus dem Krieg gekommen und hat mir ein großes Schaukelpferd, einen Schimmel, geschenkt. Sieh bloß mal!«
Annedore sah nicht bloß, der Wildfang war auch bereits mit einem Satz über die Mauer. Das schöne Schaukelpferd mußte sie sich doch aus der Nähe besehen und ein bißchen darauf reiten.
Aber Paul wollte es nicht hergeben. Er war selbst zu selig über seinen neuen Besitz, um einen anderen in den Sattel zu lassen.
Eine freundschaftliche Rauferei um den Schimmel begann. Paul zog an den Zügeln, und Annedore am Schwanz. Diesen entgegengesetzten Kräften hielt das Schaukelpferd nicht stand. Annedore stieß plötzlich einen Laut des Entsetzens aus – sie hielt den Schwanz des Schimmels in der Hand.
Paul begann aus Leibeskräften zu brüllen.
»Meinen Schimmel, mein schönes, neues Pferdchen hat mir die alte Annedore entzweigemacht!« Herzbrechend jammerte der Knirps.
»Sei doch still, Paulchen, weine doch bloß nicht so doll. Ich mach' ihn dir bestimmt wieder ganz«, so tröstete sie den Jungen.
»Das geht ja nicht mehr, der Schwanz ist doch ganz zerfetzt«, schmerzlich wies der Kleine auf die spärlichen Überreste in des kleinen Mädchens Hand.
»Annedore – Annedorchen, wo steckst du denn wieder, Kind – komm zum Abendbrot«, erklang da Tante Gines Stimme jenseits der Mauer.
Die Kleine legte den Finger auf den Mund und verhielt sich mäuschenstill. Tante Gine durfte sie hier nicht erwischen, sonst setzte es wieder ein Strafgericht für das unmädchenhafte Klettern. Sie hatte heute gerade genug auf dem Kerbholz.
Erst, nachdem die Tante das Hofgärtchen in heller Aufregung verlassen, wo die Kleine denn nun schon wieder hingekommen sei, schickte sich der Kobold zum Rückweg an.
»Weine nicht mehr, Paulchen«, flüsterte sie ihrem kleinen Freund noch zu. »Laß dein Schaukelpferd hier an der Mauer stehen, morgen früh ist es bestimmt wieder ganz. Das verspreche ich dir.«
Hops – war Annedore drüben im Hofgärtchen.
Einsilbig saß das Plaudertäschchen heute beim Abendessen. »Sie ist noch zerknirscht wegen ihrer Ungezogenheit«, dachte der Professor. »Das arme Annedorchen ist traurig, daß es nicht zur Kindergesellschaft gehen durfte«, mitleidig blickte Tante Ginchen auf das stille Kind.
Beide irrten sich.
Annedore dachte weder an ihre Ungezogenheit noch an Lillis Kindergesellschaft. Nur an den Schwanz von Paulchens Schimmel dachte sie. Wie brachte sie denselben bloß wieder in Ordnung?
Auch als sie in ihrem Alkoven neben Tante Gines Schlafzimmer zur Ruhe gegangen, fand sie keinen Schlummer. Tante Ginchen schnarchte bereits und pfiff dabei wie eine kleine Dampfmaschine. Annedore sann und sann. Ob sie sich eins ihrer Zöpfchen abschnitt und damit den Schwanz des Holzgauls ausbesserte? Aber ihre Zöpfchen waren dunkelblond und kurz, und Paulchens Pferd hatte einen langen grauen Schwanz gehabt.
Halt – Annedore machte plötzlich einen Satz in ihrem Bett, daß es in allen Fugen knackte. Lag da drin im Kasten von Tante Gines Frisierspiegel nicht ein wunderschöner, falscher grauer Zopf? Die Tante wußte wohl gar nichts mehr von seinem Dasein, denn sie hatte ihn noch nie getragen. Für gewöhnlich trug sie nur ein schwarzes Spitzenhäubchen auf ihrem spärlichen Haar, da sie öfters an Kopfschmerzen litt. Der graue Zopf paßte wunderschön zu Paulchens Schimmel.
Leise, wie ein Mäuschen, erhob sich die Kleine von ihrem Lager und schlich sich zur Spiegeltoilette nebenan. Wenn Tante Gine bloß nicht erwachte!
Der Kasten knackte bedenklich. Aber Tante Ginchen schnarchte ruhig weiter.
Glückselig entwischte Annedore mit dem falschen Zopf der Tante wieder in ihr Bett. Und jetzt schlief sie sofort erleichtert ein, bis zum andern Morgen.
Da galt es noch, vor der Schule die Flasche mit flüssigem Gummi heimlich von Onkel Adalberts Schreibtisch zu entwenden und ungesehen einen kleinen Abstecher über die Mauer in den Nachbarsgarten zu unternehmen. Paulchen sollte seinen Schimmel tadellos vorfinden – was man verspricht, muß man halten.
Hurra – geglückt! Das Schaukelpferd nahm sich ganz famos mit Tante Ginchens Zopf aus. Paulchen war getröstet. Und Annedore hatte die Sache bald vergessen.
Einige Zeit darauf fand in Tante Gines Stricknachmittag ein Basar statt zugunsten von Marinesoldaten der in der Zoppoter Bucht liegenden Kriegsschiffe.
Wochenlang vorher hatten die Damen dazu fleißig die Finger geregt und Handarbeiten verfertigt, die dort verkauft werden sollten. Tante Gine war eine der fleißigsten gewesen. Außerdem hatte sie versprochen, einen Kaffeeausschank zu übernehmen und dazu selbstgebackene Waffeln zu liefern. Die alte Tante war sehr aufgeregt, denn das Fest bildete ein Ereignis in ihrem beschaulichen Leben.
Auch Annedore freute sich darauf. Denn Onkel Adalbert hatte ihr versprochen, auf ein Stündchen den Basar mit ihr zu besuchen.
Nun war der Tag herangekommen. Tante Gines »Lilaseidenes« lag schon bereit. Die Tante selbst aber saß vor ihrem Frisierspiegel. Zu dem »Lilaseidenen«, dem Staatskleid, gehörte auch der falsche Zopf, den sie nur bei ganz besonders feierlichen Gelegenheiten zu tragen pflegte.
Nachdem die alte Tante ihren Scheitel mit Pomade so blank gebürstet hatte, daß man sich beinahe darin spiegeln konnte, zog sie den Kasten auf, um den Festzopf aufzustecken.
Nanu?!
Sie legte ihn doch immer hier in den mittelsten Kasten der Frisiertoilette.
Der Kasten war leer.
Tante Gine suchte in den übrigen Kästen, trotzdem sie bei ihrer Ordnungsliebe ganz genau wußte, daß sie ihn dort nicht hingelegt hatte. Alles vergebens. Der Zopf war verschwunden.
Die alte Dame war ebenso pünktlich wie ordentlich. Sie pflegte immer eine halbe Stunde früher bereit zu sein, als notwendig war. Jetzt geriet sie in große Aufregung, ob sie auch noch zur festgesetzten Zeit fertig werden würde. Und vor allem der Zopf – der Zopf mußte doch da sein! Ohne den Zopf konnte sie nicht gehen.
Minna durchsuchte das ganze Schlafzimmer des Herrn Professors, trotzdem der sicherlich den Zopf nicht getragen hatte.
»Wenn man unser Annedorchen nicht wieder was damit angestellt hat«, meinte Minna schließlich, die ihre Leute kannte.
»Mit meinem Zopf – aber Minna, was hat das Kind damit zu schaffen! Du lieber Gott, ich komme zu spät, noch nie in meinem Leben bin ich unpünktlich gewesen!« so klagte die alte Dame und sank erschöpft auf einen Stuhl.
»Na, es wär' nicht das erstemal, daß unser Annedorchen eine Dummheit gemacht hat.« Minna begab sich in den Hofgarten, in dem die Kleine dem steifbeinigen Hektor durchaus das Marschieren auf den Hinterbeinen beibringen wollte.
»Annedorchen, hast du den Zopf von der Tante gesehen?« forschte sie.
Das kleine Mädchen wurde blutrot.
»Ja«, sagte es dann als aufrichtiges Kind.
Minna frohlockte.
»Schnell bring' ihn der Tante, Annedorchen. Tante Gine wartet schon darauf. Es ist höchste Zeit, daß sie sich anzieht.« Minna eilte zurück ins Haus, um ihrer Herrin die Freudenbotschaft zu überbringen, daß ihr Zopf da sei. Annedore klopfenden Herzens und mit bösem Gewissen hinterdrein. Als letzter der erlöste Hektor, glückselig bellend.
»Annedorchen, du weißt, wo mein Zopf ist, schnell gib ihn«, Tante Gine flog vor eiliger Aufregung.
»Ach, Tante Ginchen, du siehst ja viel hübscher mit deinem schwarzen Spitzenhäubchen aus«, stellte die Kleine voll Gemütsruhe fest.
Die Tante war anderer Meinung.
»Das verstehst du nicht, Kind. Zu solchem Fest kann ich nicht mit dem Häubchen gehen. Wenn ich das Lilaseidene anziehe, trag' ich den Zopf. Rasch – rasch – Annedorchen!«
Das kleine Mädchen überlegte. Die Tante brauchte den Zopf heute unbedingt notwendiger als Paulchens Schimmel. Vielleicht borgte Paul Tante Gine heute mal seinen Schaukelpferdschwanz. Morgen konnte man ihn ja wieder ankleben.
»Einen Augenblick, Tantchen, ich hole ihn sofort«, da war der Wildfang auch schon zur Tür hinaus, quer über den gehüteten Rasen des Hofgärtchens und – hast du nicht gesehen – über die Mauer.
Aber der Nachbarsgarten war leer – weder Paulchen, noch sein Schaukelpferd darin zu entdecken. Vor den Fenstern des Erdgeschosses waren die Staubvorhänge heruntergelassen.
An dem Küchenfenster des ersten Stockwerks stand ein Mädchen und mahlte Kaffee.
»Ach, wissen Sie nicht, wo der kleine Paul ist?« rief Annedore hinauf.
»Der Paulchen, ei, der ist ja mit seinen Eltern nach Oliva auf Sommerwohnung gezogen«, war die Antwort.
»Hat er sein Schaukelpferd mitgenommen?« angstvoll fragte es der rote Kindermund.
»Das wird er wohl, der Paulchen und sein Schimmelchen, die zwei waren ja unzertrennlich.«
Annedore nahm sich nicht mal mehr Zeit, für die freundliche Auskunft zu danken. Spornstreichs ging es zurück zu des Professors Studierzimmer.
»Onkel Adalbert, wann geht der nächste Zug nach Oliva?« atemlos rief es Annedore.
»Nach Oliva? Da muß ich erst mal den Fahrplan studieren. Aber was kümmert das dich, mein Kind?«
»Ich muß hin – ganz schnell, Onkel Adalbert. Bitte, sieh den Fahrplan doch bloß rasch nach«, drängte die Kleine und trippelte vor Ungeduld hin und her, denn der Onkel griff mit langsamer Umständlichkeit nach Brille und Kursbuch.
»Ja, aber um alles in der Welt, was willst du denn in Oliva?«
»Ich muß doch Tante Gines Zopf holen, sonst kann sie heute nicht zum Basar gehen«, kam es ziemlich kleinlaut heraus.
»Aus Oliva?« Der alte Herr sah das Kind an, als ob es irre rede. Oder sprach es etwa im Fieber?
»Ja, Paulchens Schimmel hat Tante Gines Zopf als Schwanz, weil ich ihm seinen ersten ausgerissen hatte. Da habe ich ihm dafür den Zopf angeklebt. Und nun ist der Schimmel auf Sommerwohnung in Oliva. Aber ich hole Tante Gine ihren Pferdeschwanz, ach nein, ich meine ja den Zopf vom Schimmel.« Die Kleine war schon ganz verwirrt.
»Na, das ist ja eine nette Geschichte!« Der alte Herr nahm Annedore an die Hand und ging mit ihr in das Zimmer seiner Schwester.
Dort rieb Minna der alten Dame die Schläfen mit Kölnischem Wasser und gab ihr Brausepulver zu trinken. Denn Tante Gine war ganz verstört, daß sie gerade zu dem Wohltätigkeitsfest zum erstenmal in ihrem Leben unpünktlich sein mußte.
»Ginchen, setz' dein schwarzes Spitzenhäubchen auf, dein Zopf befindet sich in Oliva«, teilte der Professor mit.
»Wie – wa – as?« Tante Gine begann an dem Verstand ihres Bruders zu zweifeln.
»Es ist schon so, wie ich sage. Annedore, das böse Kind, hat dem Schaukelpferd des kleinen Nachbarsjungen den Schwanz ausgerissen und ihm stattdessen deinen Zopf angeklebt. Der Kleine ist zur Sommererholung in Oliva, und das Schaukelpferd nebst deinem Zopf ebenfalls.«
Die arme Tante war einer Ohnmacht nahe. »Meinen Zopf hat ein Pferd, nun kann ich den Basar nicht besuchen! Was wird jetzt bloß aus dem Kaffeeausschank, den ich übernehmen sollte, und aus all den Waffeln?« Die Tante hielt sich ihren schmerzenden Kopf.
»Du gehst eben mit dem Häubchen«, redete der Professor zu.
»Ausgeschlossen – zu dem Lilaseidenen gehört der Zopf! Es wird ja auch viel zu spät. Und ich habe bereits wieder meine Migräne«, so stöhnte die alte Dame.
»Ich fahre nach Oliva, Tante Ginchen, sei nicht traurig. Ich hole dir deinen Pferdeschwanz, damit du dich feinmachen kannst. Paulchens Schimmel borgt ihn dir sicherlich mal – – –«
»Meinen Zopf borgt er mir – – –«
Da ließ die alte Stutzuhr unter der Glasglocke vier altersheisere Schläge erklingen.
»Nun ist es überhaupt zu spät – das Fest hat bereits begonnen!« Tante Gine war nicht mehr zum Gehen zu bewegen.
Im verdunkelten Zimmer lag sie und legte kühle Zitronenscheiben auf den schmerzenden Kopf.
Das Lilaseidene mit den echten Spitzen wanderte in den Schrank zurück. Und die Waffeln, auf die Annedore sich schon gespitzt, als Ersatz dafür, daß sie nun auch nicht zu dem Fest gehen konnte, trug die Minna mit einer Entschuldigung ihrer Dame zum Basar.
In Oliva aber stand Paulchens Schaukelpferd und ahnte nicht, was für Aufregung sein Schwanz verursacht hatte.