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2. Kapitel.
Wo Peter und Hanni aufwachen.

Ganz merkwürdige Tage kamen jetzt. Vater, der sonst stets vergnügt war und mit seinen Kindern scherzte und tollte, sah meistens ernst aus und furchte die Stirn. Dabei war solch herrliches Erntewetter, an dem mußte doch jeder Landwirt seine Freude haben.

Auch Muttchen war nicht wie sonst. Zwar arbeitete sie genau so emsig in Haus und Garten. Aber es kam vor, daß sie mitten im Bohnenabfädeln, bei dem die Kinder gar zu gern halfen, das Messer sinken ließ und mit sorgenvollen Augen in die Ferne blickte.

»Bist du böse, Muttchen?« erkundigte sich Peter angelegentlich, denn irgend etwas hatte sie eigentlich immer ausgefressen, manchmal sogar, ohne daß sie's wußte.

»Nein, mein Herzchen, nur – –«, ein tiefer Seufzer hob Mutters Brust.

»Nur?« Peter und Hanni spitzten neugierig die Ohren.

»Nichts, gar nichts – für euch, Kinderchen, ist das nichts – Gott schütze uns alle!« Muttchen betrachtete das Gespräch als erledigt. Aber nicht die beiden Kleinen.

»Du, Peter, weißt du nicht, warum Vater jetzt immer so ärgerlich aussieht, auch wenn's noch so gutes Essen gibt?« fragte Hanni nach dem ziemlich einsilbigen Mittagbrot. »Und als ich ihm nachher ›Gesegnete Mahlzeit‹ wünschte, da hat er mich gar nicht Huckepacke genommen, wie sonst, sondern mir bloß mal übers Haar gestrichen.«

»Und Muttchen hat so wenig gegessen und immerzu traurige Augen gemacht, als ob ich Gott weiß wie ungezogen gewesen wäre. Und die Blaubeerflecke in meiner weißen Schürze hat sie überhaupt nicht gesehen – und ›Gott schütze uns‹ hat sie heute vormittag gesagt. Du, Hanni, am Ende geht die Welt unter!«

»Ei, nein!« Hanni, der Held, packte erschreckt Peters Arm und sah ängstlich zum Himmel empor, von dem goldener Sonnenschein herniederlachte.

Die Überlegungen der Kinder wurden plötzlich durch Peitschengeknall unterbrochen. Beide stürzten zum Hof.

Nanu – Vater fuhr in die Stadt. Vor dem gelben Korbwägelchen wurde gerade der Schimmel eingespannt.

»Vatchen – ach, liebes Vatchen, nimm uns doch mit! Du hast neulich versprochen, wenn du das nächstemal nach Soldau einkaufen fährst, dürfen wir mit!« schmeichelnd angelte Peter in die Höhe nach Vaters Hals. Auch Hanni versuchte von rückwärts her eine zärtliche Umarmung.

Aber ungeduldig machte sich der sonst so liebevolle Vater los.

»Heute nicht – es gibt wichtige Dinge heute in der Stadt zu besprechen. Wer weiß, wann ich wieder nach Hause komme.«

»Du kannst uns ja inzwischen auf dem Marktplatz lassen, da gibt's so viele schöne Schaufenster anzugucken«, schlug Peter bittend vor.

»Nein, mein Herzchen, das ist heute dort wirklich nichts für Kinder! Ein andermal, wenn alles noch gut wird, wie wir hoffen wollen – –« Da knallte der Vater auch schon mit der Peitsche. Noch einmal nickte er seinen Lieblingen zu. Dann zog der Schimmel an. Der Wagen ratterte zum Hoftor hinaus.

Hannis Blauaugen hatte die Enttäuschung mit Tränen gefüllt. Peter aber ballte die kleinen Fäuste und trampste sogar mit dem Fuß auf.

»Immer ist man zu klein, nie darf man mit – und erfahren tut man auch nicht, was los ist. Ach, ich wollte, wir wären auch schon große Leute!« rief sie empört.

»Seid froh, daß ihr noch klein seid und keine Ahnung habt von dem Schweren, das kommen kann«, sagte die Mutter, welche dem abfahrenden Vater ebenfalls nachgeschaut, mit feuchten Augen.

Peter schüttelte das hübsche Köpfchen. Muttchen schalt nicht, daß sie mit den Füßen getrampelt hatte ... sie hatte Tränen in den Augen und war doch sonst so lustig mit ihnen ... Das kleine Mädel zuckte die Achsel. Daraus sollte ein anderer klug werden!

Aber im Laufe des Nachmittags gab es noch viel mehr zum Staunen. Da hatte man soviel zu sehen, daß die Kinder den Marktplatz in Soldau mit all seinen Schaufensterherrlichkeiten darüber vergaßen.

Zog denn das ganze Dorf heute um?

Karren und Leiterwagen mit allerlei Geräten, Möbeln, Körben, Kisten und Truhen beladen, schwankten die Dorfstraße entlang, der Eisenbahnstation zu. Aufgeregte Menschen liefen daneben, hastig und laut durcheinander rufend und ängstlich zurückschauend. Kühe, Schweine und Ziegen wurden vorbeigetrieben – ach, und da! – laut auf mußte Peter lachen.

»Sieh doch bloß mal, Hanni, da haben sie lauter Hühner in einen Kinderwagen gepackt, hör' nur, wie es durcheinander gackert, nein, ist das komisch!« Das kleine Mädchen wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Aber jetzt erst, Peter, guck' bloß mal, jetzt« – Hanni, der neben seinem Schwesterchen auf dem Dach des niedrigen Gerätschuppens, dem besten Aussichtspunkt, thronte, wies begeistert auf eine neue Gruppe. »Schuster Anders und seine Frau schleppen ihre kleinen Zwillinge in einem Waschfaß davon – hahaha –« Hanni konnte nicht weiter. Es war zu köstlich!

»Ja, ist denn das ganze Dorf verrückt geworden, Hanni?«

»Peter – Peter – da trägt ja die alte Mutter Stine ihr Kälbchen huckepack, wie der Vater mich immer – –«

»Nein, es ist ja zum Totlachen!« Die Kinder jauchzten und jubelten von ihrem Dach herunter.

Sie ahnten in ihrer kindlichen Unbefangenheit nicht, wie schwer und traurig all diesen Menschen zumute war, die von Haus und Hof flüchten mußten vor den russischen Kosaken.

»Frau Kaschuba, wissen Sie es schon? Der Krieg ist erklärt!« Eine Nachbarin rief es über den Zaun der Mutter zu.

Es war das erstemal, daß Peter und Hanni das furchtbare Wort »Krieg« vernahmen.

Der Mutter entfiel vor Schreck die Gartenschere, mit der sie gerade die Tomatensträucher ausschnitt. Jäh brach der Zweig in ihren bebenden Fingern ab.

»Erbarm sich – Krieg mit Rußland – dann sei der Himmel uns hier an der Grenze gnädig! Ei, du Grundgütiger, und mein Mann gerade in der Stadt! Er wollte hören, ob es Gefahr hat, und inzwischen können uns die Russen schon das Dach über dem Kopf anzünden!« So aufgeregt hatten die Kinder ihre Mutter noch nie gesehen.

Hanni ließ sich angstvoll von seinem Auslug herabgleiten.

Wenn die Russen das Dach anzündeten, war es entschieden ratsam, es nicht als Sitzgelegenheit zu benutzen.

Peter aber blieb mit klopfendem Herzen. Sie mußte noch mehr erfahren.

»Ich würde Ihnen doch raten, Frau Kaschuba, sich und Ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Feind kann hier sein, ehe man sich's versieht. Vergraben Sie auch irgendwo im Garten oder Keller, was Sie an Silberzeug oder sonstigen Wertsachen haben, die Russen haben lange Finger.« Das letzte erklang nur noch im Flüsterton. Aber Peter hatte scharfe Ohren.

»Barmherziger, wenn mein Mann doch nur da wäre! Er hat Pferd und Wagen mit. Wer hätte denn gedacht, daß es so schnell kommen könnte. Ohne meinen Mann rühre ich mich nicht vom Fleck.«

»So geben Sie uns wenigstens Ihre Kinder mit, daß die in Sicherheit sind. Wir fahren in einer Stunde.« Die gutherzige Nachbarin eilte davon, denn sie hatte noch alle Hände voll zu tun.

Frau Kaschuba schlug die Schürze vors Gesicht. Da war es, das Furchtbare, vor dem sie schon seit Tagen zitterte, was ihren Mann ernst und wortkarg gemacht, und an das man doch immer noch nicht hatte glauben wollen – der Krieg!

Plötzlich fühlte sie sich von zärtlichen Kinderarmen umfangen.

»Weine nicht, Muttchen.« Das Töchterchen, dem das Lachen vergangen war, schmiegte den Kopf stürmisch an der Mutter Brust. »Wir fahren nicht mit der Nachbarin fort, wir bleiben bei dir. Und wenn die alten Russen kommen, jage ich sie mit der Mistgabel vom Hof!« Mit blitzenden Augen griff Peter nach der in der Ecke lehnenden Forke.

»Und ich hole meine Flinte und meinen Säbel.« Hanni, der sonst nicht gerade allzu mutig war, wollte nicht hinter der Schwester zurückstehen.

Die Mutter mußte unter Tränen lächeln.

»Gott gebe, daß dies nicht nötig sein wird und daß man uns in unserem Häuschen ungeschoren läßt. Ja, wir bleiben beisammen – es wird ja nicht so schlimm werden. Unser Vater wird auch bald zurückkommen und uns, wenn's nottut, holen.«

Jedoch Frau Kaschuba irrte sich. Es wurde Abend, das Essen stand auf dem Tisch, aber der Vater war noch nicht heimgekehrt. Auf der Dorfstraße hatte der Tumult allmählich abgenommen. Hinter dem Walde ging die Sonne purpurn unter – so schön, so friedlich lag das Dörfchen in grüne Matten gebettet da, als wäre der aufregende Tag, die drohende Gefahr ein böser Traum gewesen.

Unwillkürlich übte der köstliche Abendfrieden auch auf der Mutter erregtes Gemüt seine beruhigende Wirkung aus. Wer weiß, ob die Leute nicht alles viel schwärzer ansahen, als es in Wirklichkeit war. Wenn einer den Kopf verlor, verloren alle anderen ihre Überlegtheit mit. Stände es wirklich so schlimm, dann hätte ihr sorgsamer Mann ihr sicher Nachricht gesandt, wenn er nicht selbst kommen konnte.

Den Gartensteg entlang zwischen den schon schlummernden Levkojen und Reseden huschte der Sandmann. Keines wurde des kleinen unsichtbaren Männleins gewahr. Bis er hinter den Kindern stand und ihnen – schwabb – eine Handvoll aus seinem grauen Säckchen in die Augen streute.

Da begannen sie beide herzhaft zu gähnen.

»Es ist Schlafenszeit, Kinder, der Sandmann ist da.« Die Mutter nahm ihre Lieblinge an die Hand und ging mit ihnen ins Haus.

»Vater ist doch noch nicht zurück, ich wollte so gern aufbleiben, bis er wieder da ist.« Dabei fielen Peter die Augen beinahe zu.

»Das könnt ihr nicht abwarten, Herzchen, es mag spät werden. Nun schlaft gesund und der liebe Gott beschütze euch!« Zärtlich küßte die Mutter ihre Kleinen.

Wirklich, der Sandmann hatte seine Sache zu gut gemacht. Kaum vermochte Hanni sein Nachtgebet zu Ende zu sprechen und Peter zu überlegen, ob Russen und Diebe wohl dasselbe seien, daß man sein Silber vor ihnen verstecken müsse, da – schliefen sie auch schon fest.

Im Nebenzimmer am weitgeöffneten Fenster aber saß die Mutter und bewachte den Schlummer ihrer kleinen Lieblinge. Sie lauschte in die linde Sommernacht hinaus. Nur das gleichmäßige Murmeln des Bächleins. Ließ sich denn noch immer nicht das Rollen des heimkehrenden Wagens hören? Was war das für ein rötlicher Schein, der dort hinter den dunklen Wäldern aufzog? Es wurde der einsamen Frau bang in der nächtlichen Stille zumute.

Plötzlich wurde dieselbe jäh unterbrochen. Hektor schlug an. Peitschengeknall und Rädergeratter, erregtes Rufen, Kinderweinen und brüllendes Vieh – doppelt laut erschien es in der Ruhe der Nacht.

Das war nicht ihr heimkehrender Mann – um Gottes willen, was konnte das sein?

Frau Kaschuba machte den Hund los und eilte auf die Straße. Da zog beim Schein des Mondes wiederum Leiterwagen auf Leiterwagen vorüber, vollgepfropft mit Menschen, Tieren und Betten. Diesmal aber in ungleich größerer Hast als am Tage.

»Jochen« – Frau Kaschuba erkannte plötzlich einen im andern Dorfe wohnenden Großvetter. »Jochen, was hat denn diese eilige Flucht zu bedeuten?«

»Daß uns die Russen schon auf den Fersen sind! Siehst du nicht den rötlichen Schein am Himmel, Kathrin? Das sind die brennenden Dörfer, durch die sie ziehen. Kein Haus verschonen sie, alles wird niedergemacht, nicht Kind, nicht Vieh ist vor den Unholden sicher.«

»Flink, Kathrin, hole deinen Mann und die Kinder, ehe du dich versiehst, können die Russen hier sein«, rief Stine, seine Frau, in höchster Erregung vom Wagen.

Das Herz der armen Frau Kaschuba setzte vor Entsetzen aus. »Mein Mann ist noch nicht aus Soldau zurück, ich trenne mich nicht von ihm, ich gehöre zu meinem Mann. Aber die Kinder, Jochen, nein, die darf ich der furchtbaren Gefahr nicht aussetzen. Wenn du für meine Kinder sorgen willst, bis wir nachkommen, Stine, – mein Lebtag will ich's dir danken.«

»Ei freilich, nur rasch, rasch – warten können wir nicht!«

Frau Kaschuba war schon ins Haus geeilt.

»Peter – Peterchen, wach auf, zieh dir Strümpfe und Schuhe an, ihr müßt fort, die Russen kommen!« Sie rüttelte das fest schlafende Kind am Arm.

Aber Peter war nicht so leicht zu ermuntern.

»Ich gehe morgen erst um acht in die Schule«, brummte sie und legte sich auf die andere Seite.

Hanni jedoch gab überhaupt keinen Muck von sich. Der schlief wie ein Murmeltier.

Zeit zum Überlegen blieb nicht. Die Mutter griff nach der Bettdecke, hüllte das schlafende kleine Mädchen warm hinein und trug es, wie es war, zu dem Wagen draußen. Dort wurde es von Vetter Jochen in Empfang genommen und »aufgeladen«. Indessen eilte die Mutter in fliegender Hast zurück, um auch noch ihren kleinen Jungen in Sicherheit zu bringen. Hanni wurde in das große türkische Umschlagetuch, das noch von der Urgroßmutter herstammte, eingeknotet. Ein paar Sekunden später lag er neben seinem ruhig weiter schlummernden Schwesterchen auf dem Leiterwagen.

»Sitz mit auf, Kathrin, es geht dir schlecht, wenn die Russen kommen«, noch einmal versuchte Base Stine ihr Heil.

»Und wer weiß, ob dein Mann überhaupt noch von Soldau zurück kann«, fiel auch Jochen überredend ein.

»Nein – nein – ich lasse meinen Mann nicht im Stich. Die Kinder sind mit Gottes Hilfe in Sicherheit, mir wird unser Vater droben schon beistehen. Grüßt Peter und Hanni, wenn sie aufwachen, von ihrer Mutter. Dir vertraue ich sie an, Stine – –« Da setzten sich die Pferde schon in Trab.

»Wir fahren mit der Bahn weiter nach Königsberg«, rief der Vetter noch zurück.

Hektor, die gute alte »Kinderfrau«, blickte fragend zu seiner Herrin auf. Sollte er die Kinder nicht wie sonst begleiten?

»Ja, lauf, Hektor, lauf, du braves Tier, und gib gut acht auf unsere beiden – ich bin ruhiger, wenn ich dich bei ihnen weiß.« Frau Kaschuba klopfte den schwarzen Hundekopf aufmunternd. Hektor sprang in weiten Sätzen hinterdrein.

Ganz still stand die Mutter und sah dem Wagen nach, der ihre kleinen Lieblinge davontrug und alsbald mit der nächtlichen Dunkelheit verschwamm. Nur der da droben wußte, wie schwer ihr das Opfer gefallen, sich von ihren beiden Kleinen zu trennen, aber – eine Mutter denkt ja stets nur an das Wohl ihrer Kinder.

Frau Kaschuba stand und lauschte, bis das letzte Rollen der Wagen verklungen und der Bach nur wieder sein eintöniges Lied sang. »Der liebe Gott beschütze euch, meine geliebten Kinder, und führe uns bald wieder zusammen!« flüsterte sie aus tiefstem Herzensgrunde. Dann ging die mutige Frau in das einsame Haus zurück.

Inzwischen holperten die Wagen mit den aus der Heimat Flüchtenden die Landstraße entlang. Keines der beiden schlummernden Kinder ahnte, daß jede Sekunde sie weiter von ihrem Vaterhause, von dem treuen Mutterherzen entfernte. Sanft und ruhig schliefen sie inmitten des Wirrwarrs wie daheim in ihren Betten.

Da holperte der Wagen gegen einen Prellstein. Peter wurde auf etwas Weiches, Wolliges geschleudert. »Mäh« – machte das ganz ängstlich, und nochmals »mäh«.

Das kleine Mädchen rieb sich verschlafen die Augen. Hatte ihr Bett nicht eben »mäh« gemacht? Oder war es schon morgens früh, daß die Schafe auf die Weide getrieben wurden?

Während sie sich noch nicht recht ermuntern konnte, erklang von der andern Seite Hannis verschlafene Stimme: »Du, Peter, es ist heute so eng in meinem Bett. Und solch Radau ist draußen im Hof – und – ach, Peterchen, wo sind wir denn nur? Ich bin ja überhaupt gar nicht in meinem Bett!«

Des Bruders weinerlicher Ton machte die Schwester, so müde die auch war, vollends wach. Peter setzte sich auf und stellte mit grenzenlosem Erstaunen fest, daß sie ebenfalls nicht in ihrem gewohnten Bette lag.

Ja, aber, wo war sie denn da bloß?

Über ihr der Sternenhimmel, neben ihr das merkwürdige Wollige, das ab und zu »mäh« machte. Fremde dunkle Gestalten ... »Hanni, um Himmels willen, wir sind nicht in unserm Bett, wir müssen gestohlen worden sein!« In höchster Erregung flüsterte das kleine Mädchen dem Bruder diese furchtbare Erkenntnis zu.

»Von Zigeunern?« Hanni blieb das Wort vor Schreck fast in der Kehle stecken. Voriges Jahr zur Messe waren Zigeuner in einem grünen Komödiantenwagen auf der großen Dorfwiese gewesen. Die sollten kleine Kinder stehlen, hatte die Mutter ihnen erzählt, damit sie nicht allein dort hinliefen.

Aber der Leiterwagen hier sah ganz anders aus als das nette fahrende Häuschen mit den Fenstern damals.

»Ei nein, Hanni,« Peter schaute sich scheu um. »Ich glaube eher von den Russen!« Wenn die silberne Löffel mausten, konnten sie auch Kinder stehlen.

Doch kaum war das Wort »Russen« den Lippen des kleinen Mädchens entschlüpft, als der jüngere Bruder auch schon in ein lautes Gebrüll ausbrach. »Muttchen – Mutter – Vater –« Hanni schrie, als hätten ihn die Feinde bereits am Schlafittchen. Denn die Russenfurcht, welche das ganze Dorf in Aufregung gesetzt, hatte auch die Kinder ergriffen.

Was sollte Peter da tun? Sie war ja bloß ein Jahr älter als Hanni, und Angst vor den Russen hatte sie ebenfalls, sogar mächtige. Das richtigste war sicher, sie stimmte mit ein in das Gebrüll. So heulten sie alle beide im Duett.

»Aber Kinder – Kinderchen, was ist denn los? Weint doch nicht, euer Muttchen kommt ja bald hinterdrein«, eine beruhigende Stimme versuchte das zweistimmige Konzert zu übertönen.

Jetzt neigte sich ein Gesicht zu Peter herab – lieber Gott, war das ein russischer Kosak?

Nein – ein ältliches, gutmütiges Frauengesicht im schwarzen Kopftuch war's, das hatte die Kleine doch schon irgendwo mal gesehen. Wo denn nur?

»Kennt ihr denn die Base Stine nicht mehr, Kinderchen?« fragte da die freundliche Stimme aufs neue.

Richtig – die Base Stine war's, bei der es immer den guten Quarkkuchen gab.

»Bist du auch von den Russen gestohlen worden, Base Stine?« fragte Peter im scheuen Flüsterton.

»Gestohlen – du hast wohl geträumt, mein Goldchen. Auf und davon sind wir alle vor den Russen. Und was eure Mutter, die Kathrin ist, hat euch uns mitgegeben, daß die Kosaken euch nichts tun.«

»Und Muttchen – wo ist Muttchen?« Angstvoll wie aus einem Munde riefen es die beiden Kinder.

»Sie kommt gleich nach – bald wird sie und der Vater da sein, weint nur nicht wieder, seht mal, das niedliche Schäfchen hier«, so tröstete die gute Frau.

Und wirklich, es gelang ihr, die Kleinen zu beschwichtigen. Sie begannen sich mit dem Schäfchen, dessen »Mäh« Peter vorhin so in Erstaunen gesetzt, anzufreunden.

Die Tränen trockneten, und bald sah der Mond, der hinter einer Wolke neugierig hervorlugte, daß Peter und Hanni schon wieder lachten ... lachten, während sie von Vater und Mutter fort in die fremde weite Welt hinausfuhren, während die Russen dem weißen Häuschen mit dem roten Ziegeldach näher und näher kamen. Beneidenswert sorglose Kinder!

»Nun sind wir gleich an der Bahnstation. Wenn wir nur noch einen Zug bekommen möchten, dann wären wir geborgen«, sagte eine der Frauen angstvoll.

»Schlaft nur nicht wieder ein, Kinderchen, kommt, wir müssen uns fertig machen«, wandte sich Base Stine an ihre kleinen Pflegebefohlenen.

»Ich habe noch gar keine Schuh und Strümpfe an – ach, und wo sind denn bloß meine Sachen?« Peter merkte jetzt erst, daß ihre Kleidung höchst mangelhaft war.

»Erbarm sich, hat sich die Muttchen nicht mal Zeit genommen, euch anzuziehen? Ja, was mache ich denn nun mit euch?« Base Stine, die selbst nie Kinder gehabt, war ratlos.

»Muttchen wird uns unsere Sachen sicher nachbringen.«

»Ja, solange wartet der Zug nicht, mein Jungchen.« Schon hielten die Leiterwagen vor einem schuppenartigen Gebäude, das die Bahnstation vorstellte. Gottlob, die Kleinbahn war noch nicht fort. Ein unglaubliches Durcheinander von schreienden Menschen, Tieren, Gepäckstücken, Möbeln und Betten herrschte auf dem dunkeln Bahnsteig, den nur der Mond mit seiner Silberlaterne beleuchtete.

»Steigt nur ruhig herunter, wie ihr seid, Kinderchen, heute hat keiner Zeit, nach dem andern zu sehen.« Base Stine begann ihre Habseligkeiten abzuladen.

»Im Nachthemd können wir doch nicht mit der Eisenbahn fahren«, wandte Peter ein. So sehr sie es sich auch früher gewünscht hatte, mal mit der Eisenbahn fahren zu dürfen, ihr wurde die Sache jetzt ungemütlich. Kamen denn Mutter und Vater noch immer nicht?

»Und Muttchen hat überhaupt gesagt, wir sollen nicht barfuß laufen«, unterstützte der gehorsame Hanni seine Schwester.

Aber Base Stine hatte keine Zeit zu Auseinandersetzungen. Die hatte genug damit zu tun, ihre vielen Gepäckstücke mit Hilfe ihres Mannes vom Leiterwagen in die bereits überfüllte Kleinbahn zu schaffen. Den Eierkorb, die Schinken, die Mies, das Bettenbündel, den Kasten mit den Hühnern, nun noch die Truhen – »ach Gottchen, und die Kinder!« Base Stine war in höchster Aufregung.

»Flink – flink, Kinderchen, das Zugchen geht ab!« Base Stine hob das kleine Mädelchen, dessen Bettdecke wie ein Schleppkleid hinter ihm herstreifte, in das vollgetürmte Abteil. Vetter Jochen packte Hanni, der sich in seinem festgeknoteten türkischen Umschlagetuch kaum bewegen konnte, und verlud ihn ebenfalls.

Das flehentliche Bitten der Kinder: »Wir wollen nicht im Nachthemd verreisen – wir müssen doch auf Muttchen und Vater warten«, wurde von dem lauten Gegacker der Hühner, dem wilden Rufen der hin- und herhastenden Menschen übertönt. Niemand von ihnen hatte Zeit, zu sehen, daß Peter und Hanni barfuß und im Nachthemd zum erstenmal mit der Eisenbahn fuhren. Nur der Mond droben am Himmel bemerkte es und schüttelte verwundert sein Silberhaupt.


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