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So schlief der kleine Hanni denn die erste Nacht im Himmelbett des verstorbenen Irmchens unter all ihren Puppen und Spielsachen. Als seine Pflegemutter am nächsten Morgen ins Zimmer trat, den Kleinen zu wecken, saß er längst im Nachthemd auf dem weißen Kinderstühlchen. In seinen Armen wiegte er die große Lockenpuppe Irmas. Und gerade, als die Gutsherrin die Tür öffnete, gab er ihr einen Gutenmorgenkuß, wie er es sonst mit seinem Schwesterchen getan.
Da fühlte Frau von Breskow, die sich während der Nacht entschlossen hatte, den sechsten Jungen keinesfalls im Hause zu behalten, da ihr gerade an einem zärtlichen kleinen Mädchen, als Ersatz für ihren Liebling, gelegen hatte, daß dies kein wilder Schlingel war, wie ihre fünf. Ihre Empfindungen, dem unerwünschten kleinen Gast gegenüber, wurden wieder freundlichere.
»Ei, schon auf? Na, hoffentlich hast du gut geschlafen, mein Sohn. Ja, siehst du, all die Spielsachen und Kleider waren für das kleine Mädchen bestimmt, das ich statt deiner erwartete. Nun kann ich alles wieder fortkramen«, ein leiser Seufzer stahl sich von den Lippen der Dame.
»Ach, ich spiele auch sehr gern mit Puppen«, kam leise und schüchtern die Antwort.
»Haach – ein Junge spielt mit Puppen! Pfui – das tut ja nicht mal mehr unser kleiner Jörg!« klang es da verächtlich von der Tür her. Fritz, den die Neugierde auf den kleinen Hausgenossen früher als sonst aus den Federn gejagt, tauchte halbangekleidet hinter seiner Mutter auf. Und – »haach – der spielt mit Puppen – tleiner Jörg pielt nich mehr mit Puppens!« Werner und Jörg, in noch viel mangelhafterer Bekleidung als Fritz, echoten hinterdrein.
Hannis rundes Kindergesicht färbte sich blutrot vor Scham. Eben noch hatte er das Fremdsein in dem großen Gutshause beim Spielen vergessen, aber jetzt fühlte er sich wieder so unbehaglich und gedemütigt wie am Tage zuvor.
»Wollt ihr wohl in euer Zimmer, ihr Banditen, und euch erst anziehen,« die Mutter jagte die drei Ausreißer wieder zurück. Dann wandte sie sich an Hanni.
»Wie ist denn nun eigentlich dein richtiger Name, mein Sohn? Ich kann dich doch unmöglich mit dem Mädchennamen ›Hanni‹ rufen.«
»Haach – Hanni ist überhaupt gar kein Junge. Jungs, die Hanni heißen, gibt's gar nicht«, schmetterte Fritz, der größte Frechdachs, ehe er sich in sein Zimmer verfügte, noch einmal zurück.
»Wenn ich doch aber so heiße«, ganz weinerlich klang's wieder. »Mutti und Vater und meine Schwester Peter haben immer so zu mir gesagt«, um die Lippen des kleinen Jungen zuckte es.
Frau von Breskow schüttelte verständnislos ihren Kopf. Eine Schwester, die Peter hieß, hatte der Kleine, und den Jungen hatten die Eltern Hanni genannt? Was mochten das bloß für merkwürdige Leute gewesen sein!
»Wir werden dich Hans nennen«, entschied sie dann. »Ein Junge muß einen Jungennamen haben. Zieh dich rasch an, Hans, und komme dann zum Frühstück auf die Veranda.« Die Dame verließ das Zimmer.
So hatte auch der kleine Hanni, gleich dem Schwesterchen, den ihm lieb gewohnten Namen in seiner neuen Umgebung verloren.
Allzu rasch ging es nun nicht mit dem Anziehen. Erstens war Hanni gewöhnt, daß Muttchen oder Peter ihm ein wenig behilflich dabei war. Und dann lockten die schönen Spielsachen des toten Irmchens doch gar zu sehr. Anstatt sich selbst zu seifen, begann Hanni in der Puppenstube großes Reinmachen zu veranstalten. Und als Frau von Breskow wieder hereinschaute, weil es ihr doch gar zu lange dauerte, stand der Kleine noch ungewaschen und ungekämmt, ganz in sein Spiel vertieft.
»Aber Hans, du bist ja noch immer nicht angezogen! Wie lange soll denn das Frühstück für dich stehen bleiben?« Frau von Breskow war mit Recht ärgerlich.
Hanni begriff nicht gleich, daß er mit der ihm fremden Anrede »Hans« gemeint war. Dann aber schlug er die blauen Augen treuherzig zu der Erzürnten auf und sagte mit einem so strahlenden Lächeln, wie er es in seiner neuen Heimat noch nicht gezeigt: »Ich habe so schön gespielt.«
»Zum Spielen ist Zeit, wenn man fertig ist.« Aber der Blick der großen Kinderaugen hatte Frau von Breskows Unmut entwaffnet. Sie schickte das Kindermädchen, um dem Kleinen zu helfen, da sie selbst in Haus und Garten in Anspruch genommen war.
Als Hanni endlich die Veranda betrat, fühlte er sich von den zehn Augen der Breskowschen Jungen förmlich durchbohrt. Das bewirkte, daß er die seinen wieder scheu niederschlug, und daß man sein leises »Guten Morgen« nicht vernahm.
»Du, man sagt hübsch ›Guten Morgen‹, wenn man an den Kaffeetisch tritt«, meinte Lothar, der sich als Ältester in Abwesenheit der Mutter für die Erziehung des fremden Jungen verantwortlich fühlte.
»Jörg sagt immer hübs duten Morgen«, fiel der Kleinste ein.
Da wollte die schöne fette Milch, die Hanni sich eben schmecken ließ, gar nicht mehr recht rutschen. Der Tränenkloß würgte schon wieder im Halse.
»Biste taub?« Fritz stieß den Kleinen, der aus Schüchternheit keine Antwort gab, so ungestüm an, daß die ganze Milch sich über Tisch und Erde ergoß.
»Haach – der hat seine Milch verschwappst – haach, der kriegt Mutzköpp von Mutti – – –«, trompetete Werner entzückt. daß heute mal ein anderer als er die Tasse umwarf.
»Jörg is atig, Jörg meißt seine ßöne Mils nis um«, jubelte Nesthäkchen hinterdrein.
Von dem wilden Tumult angelockt, schaute die Mutter vom Garten her nach der Ursache der lauten Fröhlichkeit. Da gewahrte sie die ganze Bescherung.
»Aber Hans, schämst du dich denn gar nicht! Wie kann man nur so ungeschickt sein«, meinte sie vorwurfsvoll.
Hanni schwieg verlegen. Dem gutherzigen kleinen Kerl kam der Gedanke nicht, Fritz als schuldige Ursache anzugeben.
Fritz wiederum dachte gar nicht daran, sich freiwillig zu melden.
Da sagte plötzlich Edmund, der bisher als einziger geschwiegen: »Der kleine Hans kann nichts dafür, Mutter, Fritz hat ihn gestoßen.«
Ein dankbarer Bück aus Hannis Blauaugen flog zu dem großen Jungen, der sich seiner annahm. Da ward es dem ganz merkwürdig zumute.
Hatten sie sich nicht alle fünf, ehe der fremde kleine Junge die Veranda betreten, miteinander verabredet, den ungebetenen Eindringling sobald wie möglich wieder aus dem Hause zu graulen? Wie kam es nur, daß Edmund erst bei dem Blick der seelenvollen Kinderaugen fühlte, wie unrecht sie gegen das heimatlose Flüchtlingskind handelten?
Unbehaglich stand er von seinem Platz auf und folgte Bruder Lothar zur gewohnten vaterländischen Vormittagstätigkeit. Denn es waren augenblicklich noch Ferien.
Hanni bekam andere Milch, die diesmal in seinen Magen wanderte.
»Nun spielt schön miteinander, und haltet Frieden, hörst du, Fritz?« so entließ die Mutter ihre drei Jüngsten und den Pflegesohn.
Frieden beim Spiel gab es jetzt für den unbändigen Fritz nicht. Er kannte kein schöneres Spiel augenblicklich als »Krieg«.
»Ich bin Deutscher, Werner kann Engländer sein, Jörg Franzose und Hans Russe«, bestimmte er.
»Ei nein, ich bin auch Deutscher«, zum erstenmal wagte Hanni eine leise Einwendung. Aber ein Russe wollte er auf keinen Fall sein. Vor denen hatte er zuviel Angst ausgestanden. Die allein waren ja schuld, daß er nicht mehr in seinem hübschen Häuschen bei den Eltern daheim sein durfte.
»Du bist Russe«, entschied Fritz und drang auch schon mit seiner Kinderflinte auf den Feind ein.
Hanni wehrte sich nicht. Er begann zu weinen, weil Fritz ihm weh tat, und weil er Russe sein mußte.
»Kämpfe doch, du feiger Kerl, mit Heulen gewinnt man keine Schlacht«, diesmal erhielt Hanni einen tüchtigen Stoß von Fritzens Säbel.
Werner und Klein-Jörg dachten nicht daran, ihrem bedrohten Bundesgenossen zu Hilfe zu kommen. Im Gegenteil, sie machten gemeinsame Sache mit Fritz und fielen ebenfalls über das weinende Rußland her.
Hanni hielt nicht, wie sein deutsches Vaterland der Übermacht der Feinde stand, sondern er lief davon.
»Feigling – feige Memme –!« Siegesgebrüll klang hinter dem Fliehenden her.
»Feide Nenne«, schrie selbst Jörg, der Knirps. Die Verfolger blieben Hanni dicht auf den Fersen. Ja, wenn er sein Peterchen hier gehabt hätte! Die würde Fritz schon Respekt vor ihren Fäusten beigebracht haben. Aber er hatte nie gerauft. Das hatte Hanni stets der Schwester überlassen. Und gegen ihn war Peter niemals zu Felde gezogen. Dazu hatte sie ihren kleinen Bruder viel zu lieb.
Hanni konnte schließlich nicht weiter. Das Herz hämmerte von der schnellen Flucht in seiner Brust. Ganz ermattet sank er an einem Feldrain, denn soweit war die wilde Jagd gegangen, nieder.
Aber die Sieger kannten kein Erbarmen. »Ha – jetzt haben wir ihn – auf den Feind – fangt ihn!« kommandierte, ebenfalls nach Luft schnaufend, der Anführer Fritz.
Mit Taschentüchern wurde Hanni geknebelt. »Jetzt bist du unser Gefangener. Werner und Jörg können dich bewachen«, damit gab der Führer dem Gefesselten, recht wenig ritterlich, noch zum Schluß einen tüchtigen Stoß mit dem Gewehrkolben.
O weh – der war gegen die Nase gegangen. Das Blut stürzte in Strömen. Es ergoß sich über den hübschen blauweißen Waschanzug, den die Mutter dem Pflegesohn von Werner hatte anziehen lassen, da seine eigenen Sachen ihm nicht recht paßten und nicht nett waren. Es wollte sich gar nicht stillen lassen, das rote Blut. Die Taschentuchfesseln reichten nicht aus. Entsetzt blickten Werner und Nesthäkchen auf den blutenden und wie am Spieß schreienden Jungen. Fritz, der Raufbold, ließ sich aber nicht einmal dadurch einschüchtern.
»Feine Verwundung«, verkündete er. »Nun können wir famos Lazarett spielen.« Die kühnen Angreifer verwandelten sich augenblicklich in Stabsarzt, Sanitätssoldat und Krankenwärter. Der Verwundete wurde auf einen Heuhaufen gebettet, und Werner tauchte ein Taschentuch in den unweit gelegenen Ententümpel, um einen Nasenverband anzulegen. Dabei bekamen natürlich auch die Anzüge des Lazarettpersonals Blutspuren.
Der arme Hanni atmete auf. Er fand es herrlich, »Verwundeter« zu spielen. Da hatte er doch wenigstens Ruhe vor den Fäusten von Fritz, wenn Werner ihm auch beim Verbandanlegen fast die Nase abquetschte. Durch die liegende Lage hörte allmählich das Nasenbluten auf und damit auch das Schreien des kleinen Verwundeten.
Aber nicht lange gewährte der Stabsarzt Fritz seinem Patienten Schonung. »Jetzt wirst du aus dem Lazarett entlassen und bist wieder kampffähig. Wenn du willst, kannst du dich durch Boxen auslösen, Hans.«
Aber Hans wollte ganz und gar nicht. »Ich bin noch viel zu doll verwundet, und Fieber habe ich bestimmt noch«, behauptete er.
»Feige biste«, entschied der Stabsarzt und versuchte ihn durch Pieken mit Disteln in die Höhe zu bringen. Er schien mit seiner Kur das Richtige getroffen zu haben, denn der Patient sprang sofort, zwar wieder brüllend, aber doch ganz gesund auf seine beiden Beine.
Steine haben manchmal eher Erbarmen als rohe Jungenfäuste. Ehe Fritz noch seine Boxabsichten ausführen konnte, ließ der Kirchturm von Tiemendorf, der mit grauer Schiefermütze herüberlugte, seine Glockenstimme erklingen – es läutete Mittag. Essen war selbst für Fritz wichtiger als Raufen. Im Trab ging es dem väterlichen Gutshaus zu. Denn wer nicht zur rechten Zeit kam, der hatte das Nachsehen. Dadurch hatten die Eltern ihre fünf Jungen zur Pünktlichkeit erzogen.
Sie nahmen sich nicht einmal mehr Zeit, sich Gesicht und Hände zu waschen, die dringend einer Reinigung bedurften. Spornstreichs ging es an den Eßtisch, wo Mutter bereits die Suppe austeilte.
»Na, schön gespielt, Kinder?« Das Wort blieb ihr auf halbem Wege in der Kehle stecken. »Um Himmels willen, wie seht ihr denn aus? Schämt ihr euch denn gar nicht, so zu Tisch zu kommen? Hans, du bist ja voller Blut. Der ganze Anzug ist verdorben. Und auch ihr habt Blutflecke, Kinder. Wie könnt ihr nur so wild miteinander sein!«
»Ja, der Hans ist schuld, der hat Nasenbluten bekommen«, verteidigte sich Fritz.
»Hans ist im Kriege verwundet worden«, fiel Werner ein.
»Hans ist eine feide Nenne!« erzählte der Kleinste strahlend.
Der kleine Hanni hätte sich am liebsten in ein Mausloch verkrochen. Es kam ihm jetzt bei den Berichten der drei selbst so vor, als ob er allein die Schuld an allem trüge.
»Macht euch erst sauber,« befahl die Mutter streng, »so kommt ihr mir nicht zu Tisch.« Sie war recht unzufrieden. Wie ganz anders wäre alles geworden, wenn das Pflegekind ein kleines Mädchen gewesen wäre. Das hätte mit seinen Puppen neben ihr im Garten friedlich gespielt, wie Irmchen einst. So aber brachte der sechste Junge noch mehr Tumult in ihr ohnehin schon recht lebhaftes Sprößlingsquintett. Wenn Frau von Breskow es sich auch nicht verhehlen konnte, daß das kleine schüchterne Kerlchen wohl kaum mit der Rauferei begonnen haben mochte. Dazu kannte sie ihren Fritz zu gut.
Endlich saßen sie vollzählig gesäubert um den Mittagstisch. Hanni vergaß seine Verwundung und seine Furcht vor Fritz. Denn die Grießklöße mit Pflaumenkompott mundeten gar zu gut.
Die Mutter lächelte, wie der Berg Klöße allmählich in die Magen der hungrigen Jungen wanderte. »Na, Hans, möchtest du noch etwas haben?« fragte sie freundlich.
Der nickte dankbar. »Ja, bitte, Frau – – –«, da stockte er. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er ja gar nicht wußte, wie er die Dame, die statt seines Muttchens für ihn sorgte, anreden sollte. »Frau – Frau – – –«, wiederholte er noch einmal verlegen stotternd.
»Frau – Frau – Frau – der Hans ist aber schlau«, begann Fritz sofort zu schmettern, und die Kleinen machten es ihm, wie stets, natürlich nach.
»Weiß der Hans noch nicht mal, daß unsere Mutter Frau von Breskow heißt«, lachte auch Edmund.
»Er kann ja ebensogut ›gnädige Frau‹ sagen.« Lothar wollte eine möglichst weite Kluft zwischen ihnen und dem fremden Jungen, der scheinbar nicht bis drei zählen konnte, errichten.
Aber der Gutsherrin tat das vor all den spöttischen Augen der Jungen wieder erglühende Kind leid. »Nein, der Hans sagt ›Mutter‹ zu mir, wie ihr – falls wir ihn behalten«, aber das letzte setzte sie nur in Gedanken hinzu, nicht laut.
Hatte Frau von Breskow gedacht, dem scheuen Jungen durch die Erlaubnis eine Freude zu bereiten, dann hatte sie sich gründlich geirrt. Mit einem jähen Ruck legte der Kleine den Löffel aus der Hand und schüttelte lebhaft den Flachskopf.
»Ei, nein, du bist doch nicht mein Muttchen, die ist zu Hause. Aber ich kann ja ›Tante‹ sagen«, setzte er tröstend hinzu. Denn er wollte die Dame, die gütig zu ihm war, nicht kränken.
»Sei doch nicht so dumm – deine Mutter ist doch nicht zu Hause«, belehrte ihn Lothar.
»Du bist ja ein Flüchtlingskind – deine Mutter und dein Vater sind überhaupt tot«, so riefen die Jungenstimmen mitleidslos durcheinander.
»Das ist nicht wahr – ihr lügt – Vater ist nach Soldau gefahren, und Muttchen ist zu Hause«, niemand hatte dem kleinen schüchternen Hanni eine so energische Gegenrede zugetraut. Das Kind zitterte vor Aufregung am ganzen Körper.
Frau von Breskow war zwar durchaus nicht mit ihren Söhnen einverstanden, daß sie dem Kleinen die grausame Wahrheit so unverhohlen mitgeteilt hatten. Aber da es nun mal geschehen, war es wohl das beste, man ließ den Jungen dabei. So lebte er sich am schnellsten in der neuen Umgebung ein und vergaß sein früheres Zuhause. Es war ja auch kaum denkbar, daß die Eltern noch am Leben waren, sonst hätten sie doch schon Schritte zur Wiederauffindung ihrer Kinder unternommen. Darum sagte Frau von Breskow herzlich: »Nun sei mal verständig, mein kleiner Hans. Deine Eltern sind wohl sicherlich beim Einfall der bösen Russen ums Leben gekommen, sonst hätten sie sich schon nach euch umgesehen. Aber wir hier wollen dich ebenso lieb haben, mein Jungchen. Und magst du mich nicht Mutter anreden, so sagst du Tante zu mir. Das soll unserer Freundschaft keinen Abbruch tun, Hans.«
Doch der Kleine hörte die gütigen Worte gar nicht mehr. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er vor sich hin. Noch konnte er kein Wort herausbringen.
»Muttchen ist tot« – nach einer langen stummen Pause, die selbst der laute Fritz nicht zu unterbrechen wagte, rangen sich schließlich die drei Worte von Hannis Lippen. Nicht als Frage, nein so, als ob er etwas Auswendiggelerntes hersagte, als ob er es sich für die Schule einprägen müsse.
Der kleine Junge konnte sich bei dem Worte »tot« nicht viel vorstellen. Er wußte nur, daß die großen Leute traurig waren und weinten, wenn jemand tot war. Er selbst hatte einmal einen toten Sperling gesehen, der bei der Winterskälte erfroren war. Den hatte der Vater in eine Zigarrenkiste gebettet, und Peter und er hatten ihm ein Grab unter dem Schnee geschaufelt. Aber sein Muttchen – Hanni schüttelte hilflos den Flachskopf. Er fand sich mit seiner Kinderweisheit nicht in diesem fremden Gedanken zurecht.
»Kommt – kommt mein Muttchen denn gar nicht wieder, wenn sie tot ist?« Atemlos hingen seine Augen an den Lippen der Dame.
Die schüttelte mitleidig den Kopf. Bis in innerster Seele weh tat ihr diese Frage.
Da ging ein Zittern durch Hannis Körper, und plötzlich brach er in ein herzbrechendes Schluchzen aus.
»Der dosse Junge heult ßon wieder«, meldete Jörg, das Breskowsche Nesthäkchen, das den Ernst der Unterhaltung nicht begriff. Diesmal stimmte keiner von den Brüdern ein. Selbst Fritz verlachte den weinenden Hanni nicht. Denn er war kein schlechter Junge, nur ein wilder Unband.
Edmund, der neben Hanni saß, streichelte seinen Arm. Hanni merkte es nicht. Da stieß ihn Fritz, der auf der andern Seite seinen Platz hatte, aufmunternd mit dem Ellenbogen an. »Du, iß doch deine Klöße auf.« Die mußten nach Fritzens Meinung auch die tiefste Trauer lindern.
Aber zu seiner größten Verwunderung schüttelte Hanni den Blondkopf und weinte weiter: »Ich kann nicht mehr essen, mein Muttchen soll wiederkommen und Vater auch!« Der Schmerz des armen Jungen griff den wilden Breskowschen Sprößlingen ans Herz. Jeder von ihnen sagte sich heimlich, daß er schlecht gegen den kleinen Hans, der keine Eltern und kein Zuhause mehr hatte, gehandelt habe. Keiner wußte sich ganz frei davon.
»Geht in den Garten und arbeitet auf euren Beeten, Hans soll auch ein Beet bekommen,« sagte die Mutter, nachdem man »Gesegnete Mahlzeit« gewünscht. »Was willst du in deinem Gärtchen pflanzen, Hans?« Frau von Breskow wußte, daß man ein Kind von seinem Schmerz ablenken mußte, und daß Beschäftigung die beste Ablenkung war.
»Rosen und Veilchen und – Erdbeeren«, zwar immer noch schluchzend kam die Antwort, aber Hans hatte doch schon wieder Interesse für das neue Gärtchen.
»Ach wo, du pflanzt Hering und Pellkartoffeln«, scherzte Edmund, um den Kleinen, der seinem guten Herzen gar zu leid tat, aufzuheitern.
Und wirklich es gelang ihm. Über das tränenfeuchte Gesichtchen ging es wie die ersten Sonnenstrahlen nach Regenwetter – Hanni mußte unter Tränen lachen.
Die Mutter nickte Edmund anerkennend zu. »So, jetzt geht und seid lieb mit dem kleinen Hans, verstanden, Fritz?«
Es hätte dieser Mahnung heute nicht mehr bedurft. Denn Fritz hatte sich schon selbst vorgenommen, nett zu Hans zu sein, und ihn, falls es zu einer Rauferei käme, nicht allzu doll zu verhauen, weil er doch keine Eltern mehr hatte. Daß er diese gute Vornahme ziemlich schnell wieder vergaß, daran hatte sicher nur schuld, daß er sonst noch allerlei unnützes Zeug und dumme Streiche in seinem Kopf hatte. Jeder der fünf Jungen hatte sein eigenes Gärtchen. Die Großen hatten Gemüse darauf gezogen, auch Tomaten und Spalierobst. Die Kleinen meistens Blumen, je bunter, je schöner. Selbst der unbändige Fritz zeigte sich als echter Landwirtssohn. Sein Gärtchen, das mit Bohnen, Kohlrabi, Blumenkohl und Radieschen bestellt war, machte einen sauberen netten Eindruck. Die Jungen wetteiferten darin, den Eltern das schönste Gemüse auf den Tisch zu liefern. Denn die Mutter bezahlte ihnen jedes Gericht. Für das Geld wollten sie Liebesgaben an die Front schicken. Auch die Kleinen schmückten mit ihren Blumen die in den Kampf ziehenden Feldgrauen.
Hanni begann, das ihm zugestandene Beet nach Lothars Angabe umzugraben. Wenn es auch in diesem Jahr schon zu spät zum Säen war, Spätasterpflänzchen konnte er noch setzen.
So verlief der Nachmittag ruhig und friedlich. Jeder der Jungen war nett mit Hanni, und der Kleine war voll rührender Dankbarkeit dafür. Nur abends erlitt das gute Einvernehmen wieder Schiffbruch.
Lothar und Edmund besuchten das Gymnasium in einer benachbarten Stadt. Dort war es Sitte, wenn ein »Neuer« in die Klasse kam, daß er von den Alten tüchtig zum Empfang verprügelt wurde und einen Krug Wasser über den Kopf bekam. Dies nannte man nach studentischer Sitte die »Fuchstaufe«.
Solche Fuchstaufe hatten sich die Brüder nun auch zum Empfang des kleinen Hans vorgenommen. Am Abend beim Schlafengehen wollten sie ihn verkeilen und ihn dann mit einer Kanne Wasser feierlich von Hanni in Hans umtaufen. Morgens beim Frühstück hatten sie es heimlich miteinander verabredet. Fritz freute sich den ganzen Tag schon darauf.
Und nun kam plötzlich der Edmund und stellte ihnen vor, daß es unrecht wäre, den armen Kleinen, der kaum erst seinen Schmerz um die Eltern ein wenig beim Spielen vergessen, zu verwichsen. Die »Fuchstaufe« sollte nicht stattfinden.
Auch Lothar erklärte sich damit einverstanden. Zwar schweren Herzens, denn er war ein lustiger Bursche und für jeden Ulk zu haben. Aber Edmunds Worte mußten ihn davon überzeugen, daß sie ein Unrecht begehen wollten. Fritz und Werner jedoch waren grenzenlos enttäuscht.
»Vater sagt immer: Einem Jungen schaden keine Prügel«, damit suchte Fritz die Großen wieder zu dem Streich zu bereden. Edmund blieb fest. Und Lothar schämte sich, weniger gutherzig und mitleidig gegen das Flüchtlingskind zu sein als sein jüngerer Bruder.
Dem Fritz aber ließ es keine Ruhe.
»Du, Werner, dann machen wir einfach allein, ohne die Großen, die Fuchstaufe«, tuschelte er dem Kleineren zu. Der war sofort dafür zu haben.
»Verwichsen brauchen wir ihn ja nicht, weil – na weil er keine Eltern mehr hat.« Da regte sich doch das Gewissen bei Fritz, »Aber umgetauft muß er werden, sonst weiß er am Ende gar nicht, daß er jetzt Hans heißt.«
Gesagt, getan.
Die Mutter hatte das Zimmer ihres verstorbenen Töchterchens für Fritz und Hans eingeräumt. Die Puppen, die Spielsachen für kleine Mädchen und das Himmelbett waren daraus verschwunden, als die beiden Knaben es abends zum Schlafengehen betraten. Hanni war nicht sehr begeistert davon, daß gerade Fritz das Zimmer mit ihm teilte. Werner wäre ihm dann schon lieber gewesen, der war nicht so grob.
So hatte Fritz die beste Gelegenheit, seinen bösen Plan auszuführen. Auch Werner war heimlich aus dem Kinderzimmer zu ihnen entwischt.
Als Hanni, nichts Böses ahnend, gerade das Nachthemd über den Kopf zog, ergossen sich plötzlich nasse kalte Ströme über ihn. Wie besessen sprang Hanni davon, schreiend, als ob die Sintflut hinter ihm wäre. Zur Veranda ging's, wo Frau von Breskow gerade an ihren Mann schrieb und ihm von dem Eintreffen des »sechsten Jungen« berichtete.
»Um Himmels willen, was ist denn nun schon wieder los?« entsetzt fuhr sie hoch.
»Hu–u–uh, sie haben mich mit der Gießkanne begossen – hu–uh – das Zimmer und mein Hemd und ich, alles ist ganz naß – hu–uh« – der Knabe bibberte vor Kälte und Schreck.
Frau von Breskow war empört über ihre Schlingel. Sie brachte das triefende Bürschchen selbst in sein Zimmer. Werner hatte sich schleunigst daraus empfohlen. Fritz lag im Bett und schnarchte laut, als ob er ganz unschuldig an der Wasserdusche sei. Nur der große See im Zimmer, die liegengebliebene Gießkanne und der in Scherben gegangene Wasserkrug erzählten, was hier vorgegangen.
Eine mütterliche Ohrfeige ermunterte den kleinen Schläfer jedoch rasch. Jetzt brüllte Fritz mit Hanni um die Wette.
»Wir wollten ihn doch bloß in Hans umtaufen«, so beteuerte er heulend.
Endlich war Hanni wieder getrocknet und auch die Überschwemmung im Zimmer beseitigt. Frau von Breskow konnte wieder zu ihrem Brief zurück.
Aber noch immer kam der arme Kleine nicht zur Ruhe. Denn zur Strafe, daß er ihnen die Fuchstaufe verdorben und gepetzt hatte, bekam er jetzt von Fritz auch noch die Prügel, die ihm eigentlich erlassen werden sollten.
Frau von Breskow aber schrieb an ihren Mann: »Wir können den Jungen keinen Tag länger im Hause behalten, denn Fritz und Werner sind, seitdem er hier ist, wilder und ungezogener, als je zuvor!«