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Droben im zweiten Stockwerk saß die junge Enkelin und schrieb mit der Schreibmaschine einen Brief an Tante Mariechen nach Neu-Trebbin, daß sie der Oma unbedingt die Freude machen und am Pfingstsonnabend zum Jubiläums-Maienkränzchen anläßlich dessen sechzigjährigen Bestehens in Person erscheinen müsse. Und sämtliche Enkel solle sie mitbringen.
Auch die Großmama schrieb einen herzlichen Einladungsbrief an die Freundin ihrer Jugendtage.
Welcher von den Briefen nun seine Schuldigkeit getan hatte, ob das Schreiben der alten oder das der jungen – das Wunder geschah: Mariechen meldete sich für den Pfingstsonnabend mit ihrer Enkelin Annemarie zum Maienkränzchen an.
Bei den gemeinsamen Mahlzeiten – man hatte in der Grunewaldvilla aus praktischen Gründen das Einküchensystem eingeführt – war jetzt ebensoviel vom Maienkränzchen die Rede wie von den aktuellen Tagesfragen. Frau Fränzes Tochter und Enkel brachten Omas Jubiläumskränzchen fast noch mehr Interesse entgegen als diese selbst. –
Der letzte Mai war in wolkenloser Bläue herangekommen, ein goldener Frühlingstag, als ob er noch einmal die wonnige Lenzzeit, die dahin war, in sich vereinigen wollte.
Frau Fränze merkte heute nichts davon, daß sie die Sechsundsiebzig schon überschritten hatte. Geschäftig, wie als Siebzehnjährige, sah sie voller Freude dem Jubiläums-Maienkränzchen entgegen. Alle würden sie kommen, die Freundinnen. Frau Lisabeth hatte zwar zuerst abgelehnt. Der Weg von ihrer Wohnung bis hinaus in die Grunewaldkolonie war mit dem Rollstuhl zu weit und zu anstrengend. Aber Illa hatte sich hinter Tante Lisabeths Enkelin, hinter ihre Freundin Hannelore, gesteckt. Natürlich mußten die alten Maienkränzlerinnen alle vereinigt sein. Wozu gab es denn Autos? Der Rollstuhl wurde einfach mit aufgeladen. Die Jugend wußte stets jedes Bedenken zu zerstreuen.
Ob es für die alten Damen auch nicht zu kühl sein würde, im Garten Kaffee zu trinken? Illas Mutter stimmte dafür, lieber im Wintergarten den Kaffeetisch zu decken. Aber die Großmama war heute ebenso leichtsinnig, wie es sonst nur Enkelkinder zu sein pflegen. Unter maigrünen Bäumen, inmitten der Frühlingsblüte, sollte noch einmal Maienkränzchen sein – wie einst im Mai.
Illa, die durch die Pfingstferien schulfrei war, hatte es sich nicht nehmen lassen, Tante Mariechen und Annemarie aus Neu-Trebbin von der Bahn abzuholen. Zwar war sie in Sorge, wie sie die alte Freundin der Großmama aus der Menschenmenge heraus erkennen würde. Die Bilder, die Oma von der Jugendgefährtin besaß, waren alle aus dem vorigen Jahrhundert. Aber Mariechen Küttner hatte geschrieben, sie bringe einen Käfig mit lebenden Tauben mit. Es war anzunehmen, daß die andern Reisenden dieses Gepäckstück nicht aufzuweisen hatten. Auch behauptete die Oma, Mariechen aus Neu-Trebbin sei unverkennbar.
Wirklich, unverkennbar war sie, als sie umständlich von ihrer Enkelin aus dem Bahnabteil verladen wurde, zuerst der Käfig mit irgend etwas Flatterndem, dann eine rosenbestickte Reisetasche, die sicher noch auf ein Geschlecht mehr zurückblicken konnte als ihre Besitzerin, und zuletzt diese selbst! Füße, die in hohen Gummizugstiefeln steckten, wie man sie wohl vor sechzig Jahren getragen haben mochte, wurden auf dem Trittbrett sichtbar. »Misttreter« stellte Illa wenig ehrerbietig fest. Dann erschien eine rundliche alte Frau mit einem bis auf die Füße herabhängenden Mantel von vorsintflutlichem Schnitt. Auf dem glattgescheitelten weißen Haar wippte ein merkwürdiges Ding von Hut mit lila Flieder und Bindebändern. »Eine Futterkrippe für Kühe« – unwillkürlich drängte sich dem kritischen Großstadtmädel dieser Vergleich auf.
Illas erste Regung war – zu ihrer Schande muß es gesagt sein –, in dem Menschenstrom unterzutauchen und sich nicht zu erkennen zu geben. Auch Annemarie, Tante Mariechens Enkelin, wirkte etwas merkwürdig mit den langen, den Rücken herabhängenden Blondzöpfen, den fast bis zu den Fußknöcheln reichenden Kleidern und dem Spankorb am Arm. Da aber blickte Illa in ein Paar Vergißmeinnichtaugen von so klarer Güte in dem alten, immer noch frische Farben zeigenden Frauengesicht, daß alle äußerlichen Bedenken davor zerrannen. Omas liebe Jugendfreundin war es ja. Alle peinlichen Empfindungen kämpfte Illa tapfer hinunter und trat auf die ratlos Umschau Haltende zu. »Guten Tag, Tante Mariechen!« sagte sie herzlich. »Ich bin Illa Becker und bringe dir viele Grüße von der Großmama.«
Beide Hände streckte die alte Dame dem jungen Mädchen entgegen. »Fränzchens Enkelin – ja, du bist das wirklich, mein Dirn! Zug um Zug ganz die Fränze, dieselben Augen, die gleiche Haarfarbe, man bloß allens so 'n bißchen neumodischer, als ob sechzig Jahre versunken wären.« Es waren verarbeitete, in Halbhandschuhen steckende Hände, welche die jungen kräftig drückten.
Illa wandte sich jetzt der schüchtern danebenstehenden Annemarie zu, sie freundlich begrüßend. Auch sie schien das Ebenbild ihrer Großmutter zu sein. »Seid herzlich willkommen! Ihr glaubt nicht, wie die Großmama sich auf euch freut!«
»Ja, ich hab's nicht gedacht, daß ich noch mal von meiner Klitsche runterkrabbeln würde, und nun noch gar nach dem Sündenbabel Berlin. Aber ich habe selbst den Wunsch, vor meinem Tode noch mal alle die alten Schulfreundinnen wiederzusehen. – So, Kind, du kannst den Käfig mit Tauben nehmen. – Behalt du man deine Eier, Annemarie, daß sie nicht kaputt gehen! – Die Tasche nehme ich selbst, Dirn; da ist mein Reisegeld drin. Man muß in Berlin vorsichtig vor Spitzbuben sein.« Sie schien in jedem harmlos Vorübergehenden einen zu wittern.
Illa griff, wie die alte Tante ihr geheißen, nach dem Käfig. Aber um ein Haar hätte sie ihn wieder hingeworfen. Es begann sofort wieder angstvoll darin zu flattern. Illa schien nicht weniger angstvoll. »Bitte, Annemarie, nimm du die Tauben! Dich kennen sie schon. Ich werde die Eier ganz behutsam tragen.« Dann schon lieber den Spankorb am Arm, wenn er sich auch merkwürdig genug zu Illas elegantem Frühjahrskostüm ausnahm.
Die Karawane setzte sich in Bewegung. »Wir können mit der Untergrundbahn fahren und dann in die Elektrische umsteigen«, schlug Illa Becker vor. Tante Mariechen hatte ihren Arm genommen. Aber als sie jetzt Miene machte, die unter die Erde führende Treppe zur Untergrundbahn hinabzusteigen, zog die Tante nachdrücklich den Arm zurück. »Nee, mein Dirn, da bringen mich keine zehn Pferde 'rein! Unter die Erde komme ich noch früh genug.«
»Ja, wie wollen wir dann nach Hause?« entgegnete Illa lachend. »Dann müssen wir uns eben ein Auto nehmen.« Das konnte eine Menge Geld bis nach dem Grunewald kosten.
Zu Illas Erleichterung lehnte aber Tante Mariechen dies nicht weniger bestimmt ab. »Auto – mit dem modernen Höllenwagen fahre ich nicht. Klärchen Doussins Mann hat dran glauben müssen.« Es dauerte ein Weilchen, bis es Illa dämmerte, daß Tante Klärchen Weber mit Klärchen Doussin gemeint war. Das Ereignis, auf das die alte Dame anspielte, lag mindestens dreißig Jahre zurück.
»Pferdebahn oder Droschke«, entschied Frau Mariechen inzwischen.
»Beides gibt es nicht mehr.« Illa lachte wie ein Kobold. »Der letzte Droschkengaul ist längst zu Beefsteak verhackt. Wir können ja auch mit der Elektrischen fahren.«
Dieser Vorschlag wurde schließlich auch angenommen.
Na, angenehm war es nicht, mit Tante Mariechen aus Neu-Trebbin in der Elektrischen zu sitzen! Natürlich fielen Illas beide Begleiterinnen durch ihre vorsintflutliche Kleidung und das flatternde Reisegepäck auf. Das machte Tante Mariechen aber durchaus nichts aus. Im Gegenteil, sie musterte die Mitfahrenden noch unbekümmerter. »Wie alt bist du eigentlich, mein Dirn?« fragte sie Illa.
»Ich werde sechzehn, Tante.«
»Nicht möglich! Ich glaubte, du wärst man erst zwölf, weil du so kurze Kleider trägst wie 'ne lütte Dirn.« Mißbilligend blickte die alte Dame auf Illas schlanke, in seidenen Strümpfen steckende Beine.
Ilse begann unbehaglich an ihrem kurzen Rock zu zupfen. Die Tante aber fuhr fort: »Wie die Leute hier in Berlin aussehen! Daß sie sich nicht schämen, so auf der Straße 'rumzulaufen! Alles trägt die dünnen Seidenfähnchen und die durchsichtigen Schleierstrümpfe. Da könnt ihr doch schon lieber gleich barfuß gehen wie die Gänse bei uns in Neu-Trebbin.« Sie war wirklich ein Unikum, die alte Tante. Wenn man mit ihr bloß nicht gerade in der elektrischen Bahn gesessen hätte! Illa schielte auf Annemaries in braunen Baumwollstrümpfen und derben Schuhen steckende Füße. Unter dem Rocksaum lugte weiße Häkelkante hervor. War's möglich? Die Annemarie trug wohl gar noch Unterröcke wie vor hundert Jahren!
»Herrje, wie hat sich Berlin in den letzten fünfundzwanzig Jahren verändert! Ich kenne mich hier nicht mehr aus, Kind. Diese Paläste, diese Menschenmenge und dieser Autobetrieb! Da lob ich mir doch mein ruhiges Neu-Trebbin.«
»Ihr müßt es erst mal abends sehen, wenn die Lichtreklamen überall aufleuchten. Oma sagt, so war es früher noch nicht mal an Kaisers Geburtstag zur großen Illumination.« Illa war doch froh, als man endlich am Ziel war; denn mit Annemarie wußte sie vorläufig auch noch nicht viel anzufangen. Die schien ganz eingeschüchtert von dem Betrieb der Millionenstadt.
Als aber die beiden alten Damen sich dann nach so langer Trennung in den Armen lagen, dachte Illa nicht mehr an Tante Mariechens provinzielles Aussehen und an ihre kleinstädtische Art. Sie sah Tränen in den Augen der beiden Jugendfreundinnen, und wenn sie als modernes Mädel auch gegen jede Empfindsamkeit war, es griff ihr doch ans Herz. –
Unter maiengrünen Bäumen standen zwei Kaffeetafeln. Die schönsten Maiblumen hatte Illa für Großmutters Maienkränzchen gepflückt. Jede der alten Damen fand auf ihrer Tasse einen Frühlingsstrauß.
»Was über siebzig ist, sitzt hier – was unter siebzehn, dort drüben«, sagte Frau Fränze humorvoll; denn jede der Freundinnen hatte eine oder auch mehrere Enkelinnen mitgebracht. Dann griff sie nach Mariechens Arm. »Dich muß ich heute voll genießen.«
Mit großen Augen blickte die Jugend zu den alten Damen hinüber. Die Oma sah eigentlich am allerjüngsten von ihnen aus; kaum Falten zeigte ihr immer noch blühendes Gesicht, fand Illa. Sie bot ihren jungen Gästen Zigaretten an. Annemarie aus Neu-Trebbin dankte entsetzt.
»Was ist aus uns Maienblüten geworden!« begann Lisabeth aus ihrem Rollstuhl heraus wehmütig. »Eisblumen paßt bester für uns.«
»Nun, wir haben uns doch immer noch ganz gut konserviert«, sagte ein spitzknochiges Stiftsfräulein ziemlich spitz. »Wenigstens bin ich noch ganz gut auf den Füßen.« In ihrem Gesicht fehlte das, was den Zügen der andern Freundinnen selbst im Alter Reiz verlieh: abgeklärte Güte.
»Ich schlage vor, das Maienkränzchen von heute an ›Mumienkränzchen‹ zu taufen«, sagte lachend eine alte Dame, Zigaretten paffend, mit tatkräftigem Gesichtsausdruck, blauer Brille und kurzgeschnittenem Graukopf. Die Hanna hatte sich ihre Spottlust bis ins Alter hinein bewahrt.
»Nun, Mariechen, wie fühlst du dich wieder in Berlin?« erkundigte sich Frau Klärchen, die wie eine Backpflaume eingetrocknet war.
»Wie die arme Seele, die nach tausend Jahren wieder auf die Erde zurückkommt. Ich passe nicht mehr hier herein. Die Mädel rauchen wie die Schornsteine und tragen Jungstollen, ja selbst die alten Weiber schneiden sich die Haare ab.« Diese Schmeichelei galt Frau Lotte, welche die Verbindung zwischen dem alten und dem jungen Tisch bildete. »Im übrigen sind wir in Neu-Trebbin auch gar nicht mehr so rückständig«, fuhr Mariechen Küttner fort. »Wir haben es auch schon zum Kintopp und zum Radio gebracht. Es kommt mir noch immer wie Zauberei vor, wenn ich in meinem Stübchen sitze, Strümpfe stricke und dabei die schönste Musik aus Berlin hören kann. Mein Vater hätte das erleben müssen!«
»Schade, daß man schon so alt ist! Vor sechzig Jahren war's doch besser«, sagte Lisabeth kopfnickend. Sie sah leidend aus.
»Ich denke, wir können mit unserm Leben ganz zufrieden sein«, begann Frau Fränze nachdenklich; »denn ›wenn es köstlich gewesen, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen‹. Wir haben Zeiten und Menschen sich wandeln sehen. Ob es besser geworden ist in der Welt, das wissen immer erst die, die nach uns kommen, die Kinder und Enkel, welche die Früchte unseres Daseins ernten. Eins aber haben wir dem neuen Geschlecht überliefert: soziales Empfinden, daß man sich nicht mehr als Einzelwesen fühlt, sondern als ein Teil der Gesamtheit. Das soziale Pflichtbewußtsein gegen die menschliche Gesellschaft ist unser Erbteil für die Jugend, und darum haben wir nicht umsonst gelebt.«
Still wurde es bei den alten Damen. Eine jede hing ihren Gedanken nach.
Von dem benachbarten Tisch der Enkel aber lachte und zwitscherte es frühlingsmäßig – »wie einst im Mai«.