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Mary hielt nicht immer Wort. Es war zu schwer, stets des Versprechens eingedenk zu sein, das sie Tante Lisabeth am Erntefest reumütig gegeben hatte. Sie war bereits so daran gewöhnt, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen und gelegentlich ein wenig zu flunkern und zu mogeln, daß sie sich stets zu spät auf ihrem alten Fehler ertappte, und nicht immer besaß sie den Mut, es Tante Lisabeth einzugestehen.
Der klugen Frau entgingen die kleinen Unwahrheiten meistens nicht – Marys scheuer Blick war der beste Verräter – aber sie wußte, daß auf einen Hieb kein Baum fällt; mit gleichmäßiger Liebe kam sie daher dem jungen Mädchen entgegen. Auch der »hochnäsige Spleen« der jungen Engländerin, wie Karl Heinz sich drastisch ausdrückte, war noch nicht völlig geheilt; das »Prinzeßchen« kam allenthalben wieder einmal zum Vorschein. Jürgens und die alte Dörthe, die doch eine Vorzugsstellung unter dem Gesinde einnahmen, wußten ein Lied davon zu singen.
Mary hatte von Lizzies schwerer Krankheit erst erfahren, als die Gefahr vorüber war. Sie dachte jetzt mit zärtlicher Sehnsucht an die arme Schwester, die so viel aushalten mußte; vergessen war, wie oft sie Lizzies trauriges Dasein durch kindische, häßliche Zänkereien noch unerfreulicher gestaltet hatte. Auch Tante Lisabeth hörte mit warmer Teilnahme von den bösen Wochen, und das Mutterherz fühlte noch nachträglich den schweren Ernst der trüben Zeit nach, die Leni mit durchlebt hatte.
Auf Nedderdorf hatte sich viel verändert, nicht nur draußen auf den Feldern, wo die liebe Sonne jetzt ihre wärmsten Herbststrahlen auf leere Stoppeln, dickfleischige Rübenblätter und bräunliches Kartoffelkraut spielen ließ. Zarte, silbrige Sommerfäden flatterten durch die Luft; sie hingen sich an den plumpen Spaten, der, von kräftigen Männerfäusten gestoßen, in das braune Erdreich drang. Das »Tüftenbuddeln« hatte begonnen. Nebeneinander schritten die Leute die langen Furchen ab, hinter jedem Knecht eine Hofdirn, zum Auflesen der Kartoffeln. Aus den Kraut- und Rübenäckern flog zuweilen ein Volk Rebhühner auf; Schüsse knallten lustig über Wald und Feld. Die dreisten Häschen, die zu Marys Ergötzen im Sommer oft possierliche Männchen gemacht hatten, setzten jetzt im gestreckten Galopp durch die Wälder; nur selten wagte sich noch eins bis zum Krautacker.
Vating hatte die helle Leinenjoppe mit dem grünen Jagdwams und dem kecken Jägerhütchen vertauscht; das Gewehr über der Schulter, strich er des Morgens und Abends durch die Waldungen. Die Gutsbesitzer ringsum, die während der arbeitsreichen Sommer- und Erntezeit nur wenig Muße zu nachbarlichem Verkehr gefunden hatten, wurden jetzt wieder gesellig.
Auch Mary war schon einige Male mit Tante Lisabeth über holperige Landwege zu befreundeten Familien gefahren. Die Fahrt war zwar für das ängstliche Stadtdämchen immer ein wenig aufregend. Hü und hott ging es über Stock und Stein; gar oft klammerte sie sich furchtsam an Karl Heinz. Der übermütige Nichtsnutz rief alle Augenblicke mal: »Prinzeßchen, du fällst! Kiek nur den großen Stein; da fahren wir sicher an! Jürgens, smet uns man blot nich hier in 'n Watergraben!«
Aber nachher auf den Gütern war es very interesting indeed! Es schmeichelte Marys Selbstgefühl nicht wenig, daß die Tante sie manchmal mitnahm, freilich nur da, wo es Mädchen in ihrem Alter gab.
In England mußte man bis zum achtzehnten Jahr in der Kinderstube hocken. Mary hatte bereits in London jedes achtzehnjährige Mädchen beneidet, das sein Haar hochstecken durfte und ausgeführt wurde. »She comes out,« das ist der Zeitpunkt, der jedes englische Backfischherz höher schlagen läßt.
Mit Mieting Dürenfurt auf Staveneck hatte Mary innige Freundschaft geschlossen; man traf auf der Waldwiese, die gerade die Mitte zwischen den beiden Gütern bildete, jede Woche wenigstens einmal zusammen.
»Die jungen Lämmer gehen auf die Freundschaftswiese grasen,« sagte dann Karl Heinz, der Bösewicht; aber der war nur »tücksch«, daß Mary ihn nicht mitnahm.
Tante Lisabeth freute sich darüber, daß Mary nun auch mit jungen Mädchen zusammenkam, und begünstigte den Verkehr gern. Minder gefiel es ihr freilich, daß die Nichte dabei immer eitler wurde. Keine Haarschleife war ihr jetzt breit genug, und neulich – es zuckte Tante Lisabeth noch in der Hand, wenn sie daran dachte – neulich war die unvernünftige Dirn gar mit vollständig abgesengten Haaren erschienen! In die Plättküche hatte sie sich eingeschlossen, und die Scheren, womit die Spitzen an den Windelhöschen gekräuselt wurden, zum Haarbrennen benutzt! Zahllose Locken und Löckchen krausten sich um ihre Stirn. »Wie Kantors weißer Peter siehste aus, Prinzeßchen; es fehlen nur noch die dalhängenden Ohren!« rief Karl Heinz lachend.
Tanting aber lachte nicht, sondern fuhr kräftig dazwischen, und alles Betteln und Heulen half nichts, Mary mußte das weiße Kleid wieder ausziehen und zu Hause bleiben, denn »mit einem solchen Pudelkopf fahre ich nicht über Land!« erklärte die Tante streng.
Auf dem Gutshof selbst war auch manches anders geworden.
Hänschen und Fränzchen, die beiden Lütten, waren Fräuleins Spielschule entwachsen und hatten ihre Balgereien jetzt auf die Dorfstraße verlegt. Sie waren seit dem Herbstanfang zu Abcschützen aufgerückt, und der gute alte Herr Kantor, der stets trennend zwischen den beiden kleinen Kampfhähnen saß, mußte mit seinen Beinen manchen brüderlichen Stoß und heimlichen Knuff unter dem Tisch auffangen.
Die größten Fortschritte aber hatte sicher klein Suschen gemacht. Tap – tap – tap – ging es den ganzen Tag auf den Strampelbeinchen durch Haus und Garten; wie ein Wiesel kroch die kleine Dirn in allen Ecken und Winkeln herum. Kein Kasten war mehr vor ihr sicher. Dreimal hatte sie Muttings Nähtisch schon einer gründlichen Prüfung unterzogen, Knöpfe, Haken und Ösen wie ein Sämann im Zimmer umhergestreut und die vielen Meter Band zu weißen Schlangen aufgerollt. Als Mutting hinzukam, stand sie gerade mit der Schere bewaffnet vor dem Spiegel, um sich die Haare abzuschneiden; so hatte es Fräulein neulich mit ihr gemacht. Die Mutter wußte nicht, wie sie der Kleinen schnell genug das gefährliche Instrument entreißen sollte. Mary aber, die nur ein Viertelstündchen hatte achtgeben sollen, saß in eine Freundschaftsepistel an Mieting Dürenfurt vertieft am Schreibtisch, mitten in diesem Drüber und Drunter! Sie hatte nichts von all dem Unheil gemerkt.
Suschens erste Sprechversuche bildeten Marys höchstes Entzücken. Das süße Plappermäulchen, in dem jetzt neun kleine Zähne blitzten, stand keinen Augenblick mehr still. Aber als Karl Heinz Mary den Schabernack spielte und Suschen heimlich das verhaßte Wort »Mieze« beibrachte, so daß Kleinchen sie plötzlich »Miesche« rief, mit demselben Namen, womit sie jede Katze auf dem Hof benannte, da weinte Mary heimlich Tränen heißen Zornes. Wenn sie doch Karl Heinz auch mal eins auszahlen könnte!
Heute herrschte reges Leben auf dem Gutshof. Die Obstbäume, die bei Marys Einzug in schimmernder Blüte gestanden hatten, wurden geplündert. Reich behangene Zweige beugten sich unter der schweren Last der goldgelben, rotbäckigen und rötlich violetten Früchte. Lange Leitern waren angesetzt; aus dem breitästigen Gezweig der Äpfelbäume schimmerte es graugrün; Jürgens trieb darin sein Wesen. Mit umständlicher Ordentlichkeit nahm er die prächtigen Grafensteiner und Goldparmänen ab. Drei oder vier Äpfel aber ließ er, wie es der Landmannsglaube will, an jedem Baume hängen; das gibt im nächsten Jahr dann eine um so reichere Ernte.
In dem frischgrünen Blätterdach der Birnbäume tauchte sogar Vatings braunrotes, bärtiges Gesicht auf; eigenhändig pflückte er mit inniger Freude Stück für Stück seine Edelbirnen, die Gute Luise von Avrenges und die goldgelbe William-Christ-Birne. Am Fuß der Leiter stand Mutting, um die kostbaren Exemplare behutsam zum Nachreifen zu verpacken; niemand anderem überließ Vating das.
Karl Heinz hatte seine Tätigkeit »mang 'n Plummenboom« verlegt; sein heißes, ewig kauendes Knabengesicht wurde immer da sichtbar, wo die meisten Früchte hingen. Er machte sich die Sache einfacher; er schüttelte seine Bäume, daß ein blauer Pflaumenregen plötzlich herabprasselte.
»Achtung, Steinschlag!« schrie er. Zu spät! Mary und Mieting, die zur Obsternte nach Nedderdorf geladen war, hielten sich lachend und zankend die Hände über den Kopf. Dann sammelten sie das Schüttelobst in große Kiepen und vergaßen bei dieser lustigen Arbeit auch den eigenen Magen nicht.
Aber was hatten die beiden Mädel da plötzlich geheimnisvoll zu flüstern? Karl Heinz ließ, um sie auseinander zu bringen, wieder einen derben Pflaumenguß auf sie hinabhageln. Hui, wie sie da sprangen!
»Na täuw du man, min oller Jung!« rief Mieting übermütig und begann, den wehrlos in den Zweigen Sitzenden mit Pflaumenkernen zu werfen.
Mary aber hatte mit aller Kraft die lange Leiter ergriffen; mit einem Ruck zog sie sie zur Erde.
»Well, my boy, nun bist du gefangen; ohne mir kannst du nicht wieder auf das Erde! Now mußt du dir nähren only von Pflaumens,« rief sie lachend und um den Baum herumtanzend.
Dear me – was war das? Sie fühlte sich plötzlich von oben gefaßt; ihr langer Blondzopf wurde in die Höhe gezogen, und ehe sie sich losmachen konnte, war sie schon mit der seidenen Haarschleife an einem knorrigen Ast festgebunden. Nicht einmal bewegen konnte sie sich, denn das schmerzte horribly. Karl Heinz aber, der Racker, war an dem Stamm heruntergerutscht und machte der kläglich winselnden Mary eine verbindliche Verbeugung nach der anderen, freilich auf armlange Entfernung.
»Kiek, Prinzeßchen, so kommt meines Vaters Sohn ›ohne dir‹ vom Baum herunter! Du kennst doch das schöne deutsche Sprichwort: ›Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.‹ Nee – nich? Na, denn kannste mal 'nen lütten Aufsatz darüber machen; überleg dir's man immer schon 'n beten, Prinzeßchen! Mieting und ich benutzen dich inzwischen als Zielscheibe. So, meine Herrschaften, großes Scheibenschießen mit Pflaumenkernen auf Miß Miezeken Sürsen!« verkündete er mit Jahrmarktstimme und begann geschickt zu zielen.
»Mein Kleid, o, mein weißer Kleid! It will get Obstflecker – au, not in die Gesicht! Ich ekle mir vor abgelutschter Steine. Mieting, dear Mieting, help me!« So jammerte Mary ohne Unterlaß.
Die Freundin hatte sich schon längst um den Stamm geschlichen, um Mary heimlich loszubinden; vergebens, sie langte nicht bis zu dem Ast hinauf.
»Wirst schon noch wachsen, Mieting,« tröstete Karl Heinz, dem man nicht leicht ein X für ein U vormachen konnte, mit verschmitztem Augenblinzeln. »Bis dahin bleibt das Prinzeßchen aber am Pflaumenbaum hängen. So ein nettes Früchtchen hat der olle Baum noch kein Jahr getragen.«
»Tante Lisabeth – Tanting – der gräßlicher fellow! Oh, come here, please – er wirft mir mit fortgespuckte Kerner!«
Tante Lisabeth hörte nicht; sie bettete die Lieblinge ihres Mannes gerade in den Obstkammern in weiches Stroh. Aber Fränzchen und Hänschen wurden von dem Geschrei angelockt.
Hurra, da taten sie auch mit! Dem Beispiel des großen Bruders folgend, bewarfen sie die lange Cousine, vor der sie sonst einen heillosen Respekt hatten, frechdachsig mit kleinen grünen Äpfeln, dem Fallobst, das sie für die Schweine und Karnickel auflesen sollten.
Sie rechneten nicht mit der Möglichkeit, daß Mary jemals wieder freikommen könnte. Denn als es der treuen Mieting nach vielfachen Versuchen endlich geglückt war, die Leiter hinter dem Baum anzulehnen und heimlich die Fesseln ihrer englischen Freundin zu lösen, waren sie so starr vor Staunen, daß sie sogar das Fortlaufen vergaßen. Erst als Marys fünf Finger sich rot auf ihren Wangen abzeichneten – denn ihren ganzen Zorn über die unfreiwillige Gefangenschaft hatte Mary in diese beiden Ohrfeigen gelegt – liefen sie aufheulend zu Mutting.
»Mieze haut uns, Mutting, huuuh! Mieze hat uns so doll verwichst, kiek bloß mal, Mutting!« Sie wiesen ihre gestreiften Bäckchen.
»Je, Kinnings, seid ihr wehleidig! Was ein richtiger Jung' ist, der wischt sich so 'ne Tracht Prügel bloß ab. Mary, Dirn, ein Klaps schadet den Lütten ja nix, aber gar so arg zu hauen brauchst du auch nicht gerade. Daß das Lüttzeug doch nicht Ruhe halten kann! Nun habt ihr euch so sehr auf die Obsternte gefreut, und jetzt wo es so weit ist, verderbt ihr euch selbst das Vergnügen!«
Mary stand mit trotzigem Gesicht da. Sie schämte sich, daß die Tante sie vor Mieting getadelt hatte. Diese aber zog ein weißes Taschentuch heraus und ließ es im Winde flattern.
»Recht hat dein Tanting, Mary! Wir wollen uns den hübschen Tag nicht verderben, Karl Heinz, komm her; Mary tut dir nichts, die Friedensflagge weht.«
Karl Heinz, der gerade noch rechtzeitig ausgekniffen war, folgte ein bißchen argwöhnisch Mietings Aufforderung.
»So, Kinnings, jetzt geben wir uns alle drei die Hand, und nun wird Urfehde geschworen für den ganzen Tag; verstanden, ihr Raufbolde?«
Das geschah denn auch, und die heitere Arbeit verlief ungestört.
Tante Lisabeth nahm die beiden Mädel ordentlich heran; überall mußten sie mit Hand anlegen. Sie betteten die Winteräpfel in die Streu und halfen, die Riesenbleche mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen zum Dörren belegen. Erstaunt sah das Stadtkind, wie das in London immer gekaufte Backobst hier selbst fabriziert wurde.
Die Hauptsache aber war das Obsteinkochen. Es roch jetzt im weiten Umkreis des Hauses bis zu den Kleefeldern hin nach Essig und Zucker. In ganz Mecklenburg gab es nicht so viele »Hafen«, wie Tante Lisabeth voll herrlicher Früchte, mit Pergamentpapier verbunden und mit einem weißblauen Schild versehen, in ihren Vorratskammern aufreihte. Die eingemachten Früchte waren Frau Lisabeths größter Stolz. Das Bekleben war Karl Heinz' Arbeit, und Mary band die Gläser mit himmelblauen Schleifchen zu. Das gefiel ihr tausendmal besser als das vorangegangene Schälen und Entkernen des Obstes.
Himmel, ihre Hände! Die hätte mal Mama sehen müssen! Und Mieting hatte sie noch dazu ausgelacht, als sie sich zum Pflaumenabziehen weiße Handschuhe über die feinen Finger streifte!
»Du, Mary, sehr zuträglich wird das den hellen Handschuhen nicht sein, und ob die Pflaumen besser danach schmecken, glaube ich auch nicht,« neckte das lustige Mädel die Freundin.
»Ich mag nicht haben Fingers wie ein Kuhmagd,« verteidigte sich Mary.
»Prinzeßchen!« antwortete Mieting lachend, die den Spottnamen von Karl Heinz aufgeschnappt hatte.
Das nahm aber Mary gewaltig krumm.
»Du brauchst ja kein friend zu sein von eine Prinzeßchen! Du brauchst auch nicht more to come auf unserer Freundschaftswiese! Hier hast du dein vierblattriger Kleeblatt back; give me mine!«
Mit zuckenden Lippen riß sie aus ihrem Blusenlatz das in rosa Seidenpapier gewickelte Freundschaftszeichen, das sie in jener himmlischen Stunde auf Staveneck hinter den Dunggruben getauscht hatten. Mieting aber war nicht so zart besaitet; sie dachte nicht daran, auch Mary die Freundschaft zu kündigen.
»Süh, was 'n olle lütte Kratzbürste! Komm her, Marychen, sei kein Starrkopp!« Sie faßte Mary rund um die schlanke Taille und gab ihr einen herzhaften Kuß. »Nun zieh mal deine feinen Handschuh' aus und pell die Pflaumen wie ich ab. Mit den ollen Dingern ist das ja so schmierig, und Bimsstein nimmt nachher das ganze Zeug wieder weg!«
Prinzeßchen geruhte wirklich, Mietings gutem Beispiel zu folgen; sie war ja froh, daß sie beide wieder gut waren.
»Mary – Mary!« Karl Heinz kam wie ein junges Füllen über den Hof zur Weinlaube gesprungen. »Du, Mary, Vating will mich morgen früh mit auf die Jagd nehmen; ich wollt' schon immer mal so bannig gern. Möcht' ihr auch mit, Dirns?«
Mary warf das Messer in den Napf, steckte die Pflaume, die sie gerade in der Hand hielt, in den Mund, weil sie in der Eile keinen passenderen Platz dafür fand, und sprang auf.
»O yes, indeed – aber poor Mieting muß zum Abend wieder home; sie kann nicht auf Jagd. Glaubst du, daß Onkel will nehmen mir mit, boy?«
»Frag ihn; er ist bei den Futterspeichern.« Karl Heinz half Mieting, die der Meinung war, schlafen sei zehnmal besser als die schönste Jagd, beim Abziehen der Früchte.
Mary sauste ähnlich wie Karl Heinz vorhin über den Gutshof. Sie achtete nicht einmal der ihr unsympathischen, rotgelappten Puten. Ein Bild, das daheim in London im smoking-room hing, eine Fuchsjagd, Herren und Damen im grellroten Frack zu Pferde darstellend, erstand vor ihrem Auge.
O yes, sie würde ihr rotes Jäckchen anziehen und die weiße Jockeimütze aufsetzen, dann war sie allright!
»Onkel U–aldemar, dear Onkel U–aldemar!« Die sonst sehr kühle, zurückhaltende Mary schlang die Arme bettelnd um den Hals des ihr den Rücken kehrenden Onkels. Der schob sie erstaunt nach vorn.
»Miezeken – ih, daß dich! Was ist denn in dich gefahren, Dirn? Diese Liebe kommt mir zu plötzlich! Hast woll wieder wat utfreten, min Gör, wat?«
Mary schüttelte stumm den Blondkopf.
»Nee nich? Na, wo fehlt's denn? Man 'n bischen tau!«
»O Onkel, ich würde lieben very much, zu kommen heute abend auf Jagd. Nehme mir doch mit, please, dear Onkel U–aldemar!«
Der Onkel zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Hm, so, so, euch Lüttzeug mit auf Anstand nehmen! Na – ja – hm – wollen mal hören, was Tanting dazu meint. Freut mich aber, daß du so viel Courage hast, Dirn; hätt' dir's nicht mal zugetraut.«
Mary stürmte bereits dem süßen Essigduft nach in die Küche; der Onkel folgte langsamer. Aber an der Tür machte er kehrt; es waren ihm da unten zu viel Frauenzimmer bei der Obstkocherei.
Das Backfischchen drang bis zu Tante Lisabeth durch, die, mit einem Schaumlöffel bewaffnet, wie ein Feldherr ihre an großen Kupferkesseln beschäftigten Truppen befehligte.
»Tante Lisabeth – –«
»Einen Augenblick, Kind, ich kann jetzt nicht – –«
Mary wartete geduldig. Sie mußte den günstigen Augenblick abpassen, sonst konnte sie schon von vornherein auf ein kurzes »Nein« gefaßt sein.
Als die großen Kessel endlich vom Feuer waren, und der Obstbrei recht langsam und bedächtig durch die Seihbeutel sickerte, hielt Mary ihre Zeit für gekommen. Sie wagte einen kühnen Vorstoß.
»Tante Lisabeth, Onkel will Karl Heinz und mir schrecklich gern mitnehmen auf Jagd –« es kam ihr jetzt wirklich selbst so vor, als ob der Onkel keinen sehnlicheren Wunsch hätte – »nicht wahr, dear Tanting, will you allow it?«
»Körlin, zieh das Pflaumenmus vom Feuer,« war Tantes Antwort.
Mary brachte noch einmal ihre Sache vor. Jetzt wünschte der Onkel schon auf ›jeden Fall‹, sie beide mitzunehmen.
»Aber Mary, am späten Abend oder am Morgen zu nachtschlafender Zeit . . .?«
»O, Tante Lisabeth, bitte, bitte!«
»Na, meinetwegen, wenn es euch Spaß macht! Mir dünkt das ein Vergnügen etwas zweifelhafter Natur zu sein. – Herrje, Mining, die Dirn läßt ja woll gar den Zucker anbrennen!« Tante Lisabeth war mit ihren Gedanken schon wieder bei den Früchten.
Mary genügte der Bescheid auch vollends; jubelnd teilte sie ihrem Gefährten Karl Heinz die Freudenkunde mit.
Mietings Besuch war jetzt ein bißchen ins Hintertreffen gekommen. Marys Gedanken drehten sich nur noch um die bevorstehende Jagd.
Was für einen Rock sollte sie zu dem roten Jäckchen anziehen? Am flottsten war der gute weiße, neue; der war fashionable. Wenn Tante Lisabeth nur nicht Einspruch erhob! Ob die lustigen Herren von Neu Dobberow auch wieder dabei waren? Diese behandelten sie schon völlig wie eine Lady.
Oh Lord – es fiel ihr plötzlich schwer auf das Herz – sie konnte ja nicht reiten! Auf dem Bilde in London waren alle zu Pferd, sie aber – daß sie sich es nur eingestand – hatte insgeheim sogar Angst vor Pferden! Selbst wenn eins der niedlichen Füllen ihr Zucker und Mohrrüben aus der Hand fraß, blickte sie mit ängstlichem Lächeln auf das drollige Schnuppern und besah nachher genau ihre Finger, ob auch noch alle heil waren.
Nicht einmal ihrer Busenfreundin Mieting, mit der sie doch erst vor kurzem das Gelöbnis getauscht hatte, kein Geheimnis voreinander zu haben, teilte sie ihre Bedenken mit. Oh no! Wenn etwas davon verlautete, mußte sie am Ende daheim bleiben!
So kam der Abend heran. Die Einmachgläser standen alle in Reih' und Glied; die Tüftenbuddler rückten, den Spaten über der Schulter, heiß und bestaubt wieder auf dem Hofe ein, und die saure Milch nebst den großen Schinkenbroten hatte herrlich gemundet. Mary allerdings nicht. Sie war zu aufgeregt zum Essen. Die Jagdvorbereitungen nahmen sie zu sehr in Anspruch.
Selbst der Abschiedskuß für Mieting, die Jürgens im Affenkasten nach Hause fuhr, fiel heute etwas lau und gleichgültig aus.
»Mary – pst – Mary!« Karl Heinz winkte ihr mit den Augen.
In der dunklen Ecke hinter dem großen, weitausladenden Mottenschrank erwartete er sie.
»Da, Prinzeßchen,« – er drückte ihr etwas Kaltes, Blinkendes in die Hand – »wenn du auf die Jagd gehen willst, mußt du auch 'n Gewehr haben, da!«
Mary wagte nicht zuzugreifen. Sie hielt das unheimliche Ding auf der flachen Hand.
»Das ist keine Ge–u–ehr,« sagte sie ein wenig furchtsam.
»Nee – ich hab' nur noch ein altes von Vating gefunden; das brauch' ich aber selber. Das Ding hier tut's auch; das ist eine von Vatings Pistolen «
»For goodness sake!« Mit lautem Krach warf Mary die gefährliche Waffe weit von sich und sprang entsetzt nach der anderen Seite.
»Kinnings, was geht denn da draußen vor? Ich bitte mir Ruhe aus; die Gören schlafen doch schon!« Tante Lisabeth steckte den Kopf aus der Stubentür.
»Nix nich, Mutting.« Karl Heinz hatte die Pistole schnell unter seiner Joppe verborgen.
»Dämliches Gör,« knurrte er dann Mary verächtlich an, »hat Angst vor 'ner Pistole und noch dazu vor 'ner ungeladenen!« Er trug sie wieder auf ihren alten Platz.
Mary sagte gute Nacht; um vier Uhr am anderen Morgen wollte der Onkel sie wecken.
»Kind, willst du denn nun im Ernst in finsterer Nacht mitgehen? Ausschlafen tät' dir besser,« sagte die Tante.
»Oh dear Tante, du jagst mir doch sonst immer aus der Bett!« Wirklich, nie machte sie Tante Lisabeth etwas recht!
Doch als es nun mitten in der Nacht plötzlich laut gegen ihre Tür pochte – »Vier Uhr, Dirn! Raus, fixing! Wir brauchen den Mondschein noch für unseren Weg!« – da hielt auch Mary eine solche Jagd für ein recht zweifelhaftes Vergnügen. Ja, hätte sie sich nicht vor Karl Heinz geschämt – ach, wie süß die Gören da drin schlummerten; die hatten's gut!
Hu – Mary bebte förmlich vor Kälte. Noch nie war sie vor Tagesanbruch aufgestanden! Mit zitternden Händen warf sie sich in Gala.
»Holla, Dirn! Wo steckst du denn? Wir marschieren jetzt los,« rief Onkels polternde Stimme wieder.
Noch ein neidischer Blick auf die schlafenden Kinder, ein sehnsüchtiger nach ihrem schönen, warmen Bett, dann knarrten die Treppenstufen durch das stille Haus.
»Dunnerkiel, Miezeken – willst du etwa in dem Aufputz da gehen? Du verscheuchst mir ja mit der hellen Kledasche das Wild! Hier, nimm mein Cape!« Der Onkel zog ihr zum Überfluß auch noch die Kapuze über den Kopf.
Ein bitterböser Blick lohnte ihm. Die feine Frisur, die sie mit vieler Mühe zustande gebracht hatte, war verdorben!
»Prinzeßchen, du siehst mit dem kurzen roten Jäckchen und der Mütz' grad' so aus wie 'n Aff' auf dem Leierkasten,« neckte sie der unhöfliche Vetter.
Mary stieß ihn etwas unsanft in die Rippen, verbrannte sich in der Eile den Mund mit dem heißen Kaffee und folgte dann, in allen Tonarten gähnend, dem voranschreitenden Onkel. Cäsar sprang blaffend nebenher.
Über die im milchweißen Mondlicht träumenden Felder und Äcker ging's. Der Onkel machte lange Schritte; Mary trabte, fest in ihr Cape gewickelt, hinterdrein.
Jetzt bog man in den düsteren Wald.
Dear me, war das hier dunkel! Durch das dicht verzweigte Eichendach stahlen sich nur vereinzelte Mondstrahlen. Dort drüben lag das Ried. Was hatte die alte Dörthe neulich von den bösen Moorgeistern erzählt? Kalter Angstschweiß perlte Mary auf der Stirn. Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben!
»Karl Heinz, dear boy faß mir an; ich stolpere über das Wurzel,« bat sie ängstlich.
Karl Heinz griff nach ihrer Hand, und von seinem frischen Jungenmut strömte etwas auf das furchtsame Backfischchen über. Sie hielt eine Weile rüstig Schritt.
»Wo ist das meeting?« fragte sie endlich, stehen bleibend.
»Was für 'n Ding?« Karl Heinz sah sich mit leuchtenden Augen in dem märchenhaft schönen Nachtwald um.
»Die Treffpunkt, wo man das Gesellschaft trifft?«
»Ja, weiß der Himmel, wo Vating die Gesellschaft treffen wird; das ist bannig swer vorherzusagen. Dort nach dem Sturzacker zu sollen sie ihren Wechsel haben – kiek, Prinzeßchen, Vating scheint sich hier auf Anstand zu legen.«
»Brav gestiebelt, Miezeken!« Onkel Waldemar umkreiste prüfend eine breitästige Blutbuche am Waldrand. »So, hier wollen wir dem Rehwild mal den Wechsel verlegen.« Er trat auf einen moosbewachsenen Stein und schwang sich elastisch in das tiefhängende Geäst.
Mary sah mit großen Augen zu. Das sollte eine Jagd sein?
»So, Dirn die Eberesche dort wird deine vierzig Kilo wohl tragen. Jung', hilf ihr mal 'n beten in den Sattel! Na, hopp, Dirn, allons! Ach, was ist das Mädel steifbeinig, wie ein oller Schimmel! Hopp! Meine Leni müßtest du mal sehen; die klettert wie 'ne Katze – – –«
Karl Heinz hatte Mary endlich schnaufend in den niedrigen Ebereschenbaum hinaufbefördert.
»Na, Jung', du nu ein End davon weg, auf den nächsten Baum und fixing Ansitz genommen! Die Frühdämmerung kommt uns auf den Hals. Und daß mir keines von euch Gören irgendwelches Geräusch macht! Mäuschenstill geblieben! Verstanden?«
»Ja, Vating, aber wenn eins zu mir ran kommt, kann ich's doch mit Hussa – ho – zu dir hinjagen?« fragte Karl Heinz eifrig, der für sein Leben gern Jagdgeschichten las.
»Untersteh dich, Jung! Mir die Beute vertreiben, was?« Vating hielt das Gewehr im Anschlag.
Beide Arme ängstlich um den Baumstamm geschmiegt, hockte Mary mit unglücklicher Miene auf ihrem schwankenden Sitz. So was nannte man »auf Anstand liegen«? O, da hatte man in London doch einen anderen Begriff von Anstand! Miß Brown würde sicherlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie ihren Zögling hier nachts auf einem Ebereschenbaum sitzen sähe. Das war nicht ladylike; oh no, shocking war das! Und noch dazu so ganz allein in dem dunklen Baum! Dear me, was für ein Rauschen war das in der Blätterkrone? Mary spähte zitternd in die Höhe. Gestern erst hatte Karl Heinz ihr etwas vom wilden Jäger vorgelesen; mit weitaufgerissenen Augen starrte die junge Engländerin in das grünliche Dämmerlicht.
Horch! Flatterte es da nicht im Gezweig? Hatten etwa Nachtvögel hier im Baum ihren Schlupfwinkel? Marys Herz klopfte hörbar.
»Karl Heinz!« rief ein furchtsames Stimmchen.
»Schscht – still doch!«
»Dear Jung, ich drücke mir dreadfully!«
»Macht nix, halt den Schnabel, Prinzeßchen!« flüsterte es von dem Baum, auf dem Karl Heinz saß, aufgebracht zurück.
Wieder tiefe Stille.
Die Gesellschaft, für die sie sich fein gemacht hatte, schien nicht mehr zu kommen; o, war das ein gräßliches Vergnügen, diese Jagd!
Mary gähnte laut und vernehmlich.
»Pst – pst –« Kaum hörbar stieß der Onkel es heraus. Cäsar war unruhig geworden; er schien etwas zu wittern.
Da drüben hinter dem Brachfeld, da schimmerte es graubraun; ein Rudel Rehe wechselte an. Nur näher, immer näher! Jetzt standen sie in der Schußlinie, Vating hob das Gewehr an die Wange, legte die Finger an den Hahn und prüfte das Büchsenlicht.
Plötzlich blieb die führende Ricke äugend stehen und hob den spitzen Kopf; sie sicherte.
Mit entsetzten Augen sah Mary auf die herannahenden Tiere. Oh Lord, was für Ungeheuer waren das? Jetzt machten sie einen Bogen zu ihrem Baum hin; sie wollten sie sicherlich beißen!
»Indeed, sie wollen mir fressen,« schrie Mary los, und – husch, husch – war das Rehwild davon.
»Potz Bomben und Granaten – Dirn, bist du denn ganz des Düwels, mir den feisten Gabelbock zu verjagen? Da soll denn doch –« erscholl es grimmig aus den Zweigen der Blutbuche. Mary hatte den Onkel noch nie so böse gesehen.
»Ich will home – ich will nicht go auf Jagd – I am so tired, oh, I have so viel Angst!« Das große Mädchen weinte wie ein Gör.
»Still, still, Miezeken; du bist mir ja eine nette Diana! Na, Karl Heinz, setz dich man neben den Hasenfuß; aber daß ihr mir keinen Ton miteinander snakt!«
Mary trocknete ihre Tränen, und Karl Heinz kletterte mit einem wenig freundlichen »Wie kannst du bloß so grützdämlich sein, Dirn, und losschreien!« an ihrem Baum empor.
Marys Augen begannen wieder zu tropfen.
»Olle Tränenjule!« Der Vetter äugte angelegentlich übers Brachfeld.
Jetzt fühlte sich Mary sicher. Wenn es auch abscheulich kalt und feucht war, und ihr alle Glieder von der unbequemen Lage weh taten, sie brauchte doch wenigstens keine Furcht mehr zu haben.
Plötzlich kniff Karl Heinz sie aufgeregt in den Arm.
»Ruhig jetzt! Da hinten, sie äsen, da –«
»Wird's auch nicht knallen?« fragte Mary zitternd.
So was ging nun mit auf Jagd! Aber Karl Heinz verschluckte sein »Feigling«, denn die Rehe kamen näher.
Was machte denn die Dirn nun schon wieder? Sie begann plötzlich sich zu bewegen.
»Willst du wohl still liegen!« zischte Karl Heinz sie an.
»Au, mein Bein! Mein rechter Bein ist verschlafen,« wimmerte Mary leise.
»Stst!«
»O, mein Bein ich kann nicht – es krabbelt so!« Mary ließ sich mit einem Jammerlaut an dem Baumstamm niedergleiten. Plumps – lag sie auf der Erde, und in weiten Sätzen sprangen die Rehe feldein.
Karl Heinz zankte wie ein Rohrspecht, während Mary auf dem linken Fuß um den Baum hüpfte und leise winselnd das eingeschlafene Bein rieb.
Von der Blutbuche aber, wo Vating lag, wurde ein dröhnendes Lachen laut; der Humor überwog dort den Ärger über die entwischte Beute.
»So, Kinnings, nun wird wieder abgesattelt; marsch ins Nest! Einmal und nicht wieder! Allenfalls kann man dich noch zu 'ner Treibjagd gebrauchen, Miezeken; du verstehst das Wild famos zu scheuchen!«
Der junge Tag, der im glutroten Streifenkleide über das graue Gelände lugte, beleuchtete drei verfrorene übernächtige Gesichter. Recht wenig erbaut von ihrem Weidmannsheil, zogen die drei stumm wieder nach Haus. Eine Jagdbeute brachte Mary allerdings mit heim: ihr neuer weißer Rock war über und über voll von grünen und braunen Flecken.