Else Ury
Vierzehn Jahr' und sieben Wochen
Else Ury

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Auf der Insel Wight.

An der Waterloostation in London erregte ein blondes Mädchen mit krankhaft weißem Gesicht, das im Rollstuhl durch die sich überstürzende, auf und ab hastende Menge geschoben wurde, die Aufmerksamkeit vieler Reisenden. Manch mitleidiger Blick folgte der kleinen Karawane, die möglichst schnell die für sie belegten Plätze in einem Abteil zweiter Klasse zu gewinnen bestrebt war.

Der elegante Herr mit dem kurzgeschnittenen Backenbart hob zart und behutsam das federleichte Kind auf den Eckplatz des Abteils, den die schlanke Dame im grauen Reisekostüm mit weichen Kissen belegt hatte. Jetzt beugte sie sich besorgt zu der Kranken herab.

»Nun, Lizzie, darling, wie fühlst du dich? Hat dich die Wagenfahrt sehr angegriffen, Kind?«

Lizzie lächelte ein wenig müde, aber ihre Augen blickten dankbar zu der Mutter empor. Ein glücklicher, zufriedener Ausdruck verschönte seit der Krankheit ihr Gesicht, das früher oft mürrisch und verdrossen ausgesehen hatte.

»Es wird alles wieder gut, wenn ich nur erst das Meer sehe, nicht wahr, Leni?« Sie wandte sich erwartungsvoll an das Backfischlein, das ihr gegenüber Platz genommen hatte.

Leni nickte strahlend. Sie freute sich »bannig« auf die Reise und blickte mit großen Augen auf alles Neue.

»Wie ulkig! Hier in London liegen ja die Hotels gleich im Bahnhof drin,« rief sie verwundert.

Bobby und die Miß hatten die großen und kleinen Gepäckstücke gut verstaut. Nun ging es ans Abschiednehmen.

»Well, Dick, sieh zu, daß du bald nachkommen kannst, und überanstrenge dich ja nicht! Bobby, benimm dich bei Charles Edward gentlemanlike, hörst du, mein boy!« Die Mutter sah mit bedauerndem Blick auf ihren armen Sprößling, der mit Rücksicht auf das nahe Ende der Ferien nicht mit ins Bad genommen wurde. Leni hatte einige Wochen Urlaub von der Schule erhalten; bei Bobby aber, mit dessen Versetzung es ziemlich wackelig stand, war die Sache zu bedenklich.

Noch einmal erschien Onkel Richards Gesicht über der schon geschlossenen Waggontür.

»Good-bye, Lizzie! Schaff dir rote Wangen an, mein Kleines! Du auch, Lenchen; kannst es gebrauchen! Sorg dich nur nicht um mich, Jane. Die schlimmste Zeit liegt ja nun hinter mir. Good-bye, Miß Brown!«

Mit schrillem Pfiff setzte sich die Lokomotive in Bewegung.

»Lizzie, eine Windmühle! Lizzie, ein Storch! Sieh nur, wie drollig wichtig er auf seinem Bein steht! Ach, so viel Schwalben! Nein, ein richtiger Gänsjunge hütet da seine Gänse, und die lütten Gössel all! So was gibt es in England auch?«

Alles das, was Leni früher als selbstverständlich und alltäglich erschienen war, erweckte jetzt nach dem langen Stadtaufenthalt ihr helles Entzücken. Wie einem gefangenen Vogel, der die goldene Freiheit endlich wieder winken sieht, war ihr zumute.

»Was 'n herrlicher roter Mohn! O je, die prächtigen Pflaumenbäume! Aber die müssen gestützt werden. Gören, wollt ihr woll aus den Runkelrüben rut? Jürgens wird euch!« Ach, sie war ja nicht daheim; sie sauste pfeilgeschwind in der rasselnden Eisenschlange über fremde Erde!

»Lizziechen, haste schon mal Garben gesehen? Da, Dirn, dort drüben! Aber snaksch richten eure Landlüd die Schober aus; die sehen ja auf 'n Haar wie Frauenzimmer aus. Kiek eins, einen richtigen Kopf, und darunter der bauschige, weite Ährenrock, und eine immer achter der anderen! Die spielen woll ›Greifen‹? Bei uns da reift das Korn all aus; da ist die Aust längst vorbei. Nee, und hier sind ja woll noch nicht mal die Tüften gehäufelt.«

»Wer?« fragte Lizzie, die Lenis jubelnde Ausrufe nur zum Teil verstand.

»Die Tüften, die Kartoffeln!« Unbewußt kam Leni beim Anblick der sie an die Heimat gemahnenden Scholle wieder der heimatliche Dialekt.

»So, my dear Ellen, nun wollen wir mal unsere Rekonvaleszentin ganz in Ruhe lassen! Auch zum Freuen muß man Kräfte haben. Jetzt wird Lizzie schlafen, und wir anderen sind ganz still; talking not allowed

Die Mutter hüllte Lizzie weich und warm in Decken und strich ihr mit der Hand über die blaugeäderte Stirn.

Lizzie schloß gehorsam die Augen. Ihre noch immer blutlosen Lippen öffneten sich ein wenig; ein wohliges Mattigkeitsgefühl durchströmte ihre Glieder. Sie griff nach der Hand der Mutter. Ach, wie segnete Lizzie ihre Krankheit, wie dankbar war sie dafür! Hatte sie doch das, wonach sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt, endlich durch diese gefunden – die Mutterliebe!

Als sie zum ersten Male aus dem fieberhaften Dämmerzustande die Lider klar und bewußt aufgeschlagen hatte, da waren es die Mutteraugen, in die sie zuerst blickte, und die sich voll Angst und Liebe auf sie richteten. Das hatte Lizzie schneller gesund gemacht als alle Medizin.

Ach, und nun ging es nach der Insel Wight, wo das Meer rauschte. Die einschläfernde Rasselmusik des Zuges verwandelte sich allmählich in das brausende Lied der Meereswogen; ein erquickender Schlaf umfing die Rekonvaleszentin.

Die drei übrigen gaben ihren Gedanken Audienz.

Leni dachte eigentlich gar nichts; aber sie verwandte kein Auge von den gelbreifen Getreideschwaden, zwischen denen die blanke Sense im grellen Mittagsonnenlicht funkelte, von den dunklen Waldungen, durch die grüngoldene Funken zuckten, und den sauberen Anwesen, an denen sie vorüberflog. Schnuppernd hob sie das Näschen. Durch das halb heruntergelassene Fenster kam frischer Erdgeruch; es duftete nach gemähten Wiesen und getrocknetem Gras. Ihre bleich gewordenen Wangen begannen sich wieder ein klein wenig zu färben.

Tante Jane lehnte den Kopf an das Lederpolster und blickte starr auf das gegenüberhängende Plakat.

»Rauchen verboten.« Immer wieder las sie die beiden Worte, ohne zu wissen, was sie sagten.

Ihre Gedanken gingen andere Wege. Sie dachte daran, wie viel sie an diesem Kinde gutzumachen habe, das auch für das geringste Körnchen Liebe dankbar war. Dann flog ihr Sinnen rückwärts nach London in die City, wo ihr Mann arbeitete und kämpfte, um die großen Schwierigkeiten, in die viele überseeische Geschäfte Londons verwickelt worden waren, klug und besonnen zu entwirren. Auch im Geschäftsleben eine Krisis, gerade wie bei Lizzies Krankheit, aber der Himmel würde auch hier helfen; es war ja schon viel besser geworden, als sie gefürchtet hatten.

Auf der anderen Seite in der Ecke saß aufrecht die Miß. Selbst hier hatte sie sich nicht von ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem endlosen Streifen Madeirastickerei, trennen mögen. Sie zog die schwarzen Augenbrauen noch dichter zusammen und überlegte nach einem jeden Stich kritisch, ob er auch ganz so gleichmäßig geworden sei wie sein Vorgänger.

In Portsmouth, der Hafenstadt, ging man zu Schiff. Lenis munteres Plaudern war verstummt. Die massigen englischen Kriegschiffe, die ringsum im Hafen lagen, einförmig grau, ernst und wuchtig, mit ihren Riesenmaschinen und ragenden schwarzen Schornsteinen, wirkten fast beklemmend auf das fröhliche Backfischchen. Nach kurzer Seefahrt bestieg man in Ryde noch einmal das fauchende Dampfroß, und endlich war das Ziel, Ventnor auf der Insel Wight, erreicht.

Lizzie hatte gehofft, daß sie nun gleich zum Meer hinuntergehen dürfe, aber für heute hieß es mal erst ausruhen.

»Leni, das ist das Dornröschenschloß aus dem deutschen Märchen, das du mir erzählt hast,« jubelte sie, in die abgezehrten Hände klatschend.

Wirklich, es war wie ein Märchen! Das leuchtend weiße Haus, in dem man bereits Zimmer bestellt hatte, war über und über mit schimmernden, tiefroten Rosen, crimson rambler, überwuchert. Wie in einem purpurnen Rosenkleid schaute das blitzsaubere Landhaus aus dem Gerank. Daheim in Nedderdorf hatte man auch Kletterrosen, wunderschöne weiße, längs der Veranda, aber vor dieser Fülle und Farbentiefe mußte selbst Leni die Waffen strecken. Was für eine Pracht!

Als sie nun erst mit Miß Brown einen kleinen Besichtigungsgang durch den Badeort unternahm, da verblaßten die Farben der Heimat vollends. Ventnor glich einem blühenden Blumengarten. Terrassenförmig bauten sich die Straßen übereinander; man sah die blendend weißen Häuser kaum hinter ihrem duftigen Blütenschleier. Hier war ein Haus ganz und gar von Fuchsien umklettert, dort ein größeres von leuchtenden Pelargonien, so groß und üppig, wie Leni sie nie gesehen hatte.

»Miß Brown, richtige lebendige Palmen wachsen hier im Freien!« rief sie plötzlich so laut, daß Miß Brown ihr mitteilen mußte, palmtrees seien durchaus kein Grund, sich ungehörig zu benehmen.

Leni ließ sich ihre gute Laune dadurch nicht verderben. Als sie nun endlich wieder ihr liebes Meer sah, als sie unten an dem weißen Strande stand und mit leuchtenden Augen auf die heranrollenden Meereswogen schaute, die bald tiefblau, bald durchsichtig grün flimmerten, als auf den weißen Wellenköpfen in der untergehenden Sonne bald rote, bald goldene Sprühlichter wie verstreute Diamanten aufblitzten, da traten Leni die Tränen in die Augen. Aber schnell und verstohlen trocknete sie sie mit dem Handrücken ab. Schauderhaft, was für 'ne Heulrieke sie in der Stadt geworden war!

Auch die Miß schritt mit sorgsam gerafftem Rock, in die hehre Schönheit des ersterbenden Tages vertieft, langsam und nichts Böses ahnend, am Meeresrand dahin. Da hörte sie ein seltsames plätscherndes Geräusch dicht hinter sich. Ein wenig mißtrauisch wandte sie sich zurück.

Good gracious! Harmlos ragten aus dem weißen Sande Ellens braune Stiefel und Strümpfe. Das Unglückskind selber hatte den blauen Leinenrock aufgeschlagen und patschte mit den bloßen Füßen seelenvergnügt bis an die Knöchel in dem silberig weißen Schaum umher. Eine tückische Welle trieb sie wieder an den Strand zurück; jauchzend wischte sie sich den sprühenden Gischt von dem heißen Gesicht. Ringsum aber auf den Strandbänken saßen elegante Damen und Herren, schauten durch ihre Lorgnetten zu dem ungenierten Backfisch herüber und lachten oder kicherten.

Leni ahnte nichts davon, auch nichts von dem drohenden Ungewitter, das sich auf Miß Browns Stirn zusammenzog.

»Man merkt den Golfstrom,« rief sie lachend der Miß zu. »Herrlich warm ist das Wasser, wie in einer Badewanne! Und morgen schreibe ich Karl Heinz, daß ich im Atlantischen Ozean gepanscht habe!«

»Ellen, ziehe dir Strümpfe und Schuhe an, make haste! Schämst du dich denn gar nicht, you naughty girl, dich so unanständig zu benehmen?« Die Miß sagte es mit erregter, aber gedämpfter Stimme.

Leni sah sie verständnislos an.

»Wir sind doch immer am Strande gewatet, Karl Heinz, Cäsar und ich, und Vating hat sogar noch ein Stück Holz hineingeworfen, wer von uns dreien es zuerst wiederbringe. Meistens war es Cäsar; der brauchte ja keine Angst zu haben, daß seine Kleider naß würden.« Leni lachte in der Erinnerung hell auf.

Miß Brown, die schon viele junge Ladies erzogen hatte, sogar zwei vornehme little countesses, von denen Leni längst nichts mehr hören mochte, weil sie ihr allenthalben als Muster aufgestellt wurden, schüttelte verzweifelt den Kopf. Hier war alle Arbeit vergebens, Ellen blieb unverbesserlich!

»Du bist doch kein Kind mehr, Ellen, sondern ein Mädchen von bald fünfzehn Jahren! Was du damals getan hast, schickt sich heute nicht mehr für dich.«

Die Miß versuchte ihr Ehrgefühl zu wecken. Das war jedenfalls der richtigere Weg, um bei Leni etwas zu erreichen.

Miß Brown hatte recht; sie war kein Gör mehr. Aber wenn das Erwachsensein nur in Verboten bestand und so langweilig ehrpusselig war, dann – nein, doch nicht, ein Gör wollte sie trotzdem nicht mehr sein!

Als Leni mit ihrer Handvoll Muscheln zu Lizzie zurückkam, konnte sie dieser nicht genug erzählen von all dem Schönen, was ihrer in Ventnor wartete. Aber auch Miß Brown erzählte der Tante, und zwar weniger erfreuliche Dinge. Seit Lizzies Krankheit war es das erste Mal, daß Tante Jane mit Leni unzufrieden war. Ein für allemal erging das Verbot, außerhalb der Badestunde weder im Meer zu waten noch zu panschen.

»Das fängt ja hier nett an,« dachte Leni, als sie abends im Bette lag, »das kann noch gut werden!«

Aber es wurde viel herrlicher, als die Mädchen sich den Sommeraufenthalt jemals gedacht hatten. Einen Tag wie den anderen lachte goldener Sonnenschein vom wolkenlosen Himmel; die Luft war von jener wunderbaren Klarheit und Frische, wie sie nur schönen Herbsttagen eigen ist, und das Meer erschillerte jeden Tag in anderen Farbentönen. Und nun erst Ebbe und Flut! Das war etwas ganz Neues für Leni, die bisher nur die Ostsee kannte. Von frühmorgens an lagen die beiden Mädchen am Strande; Lizzie blühte zusehends bei dem milden Seeklima auf. Leni, die stets einen weißen Leinenhut trug, behauptete von sich, sie sehe damit aus wie ein Mohrenkopf mit Schlagsahne, so braungebrannt war sie bereits. Aber sie machte sich ihr Gesicht auch immer mit Seewasser naß und legte sich dann zum Trocknen in die grelle Sonne. Das sei das beste Mittel, um braun zu werden, hatte Karl Heinz immer gesagt, und der wußte in solchen Dingen Bescheid.

Leni und Lizzie kamen sich in diesen Wochen ständigen Beieinanderseins womöglich noch näher. Der Altersunterschied zwischen ihnen war vollständig ausgelöscht; sie wurden Freundinnen fürs ganze Leben.

Wenn sie still in dem warmen Sande ruhten, in die blaue Luft hineinträumten, auf das Meeresrauschen lauschten oder zu den blühenden Gärten und den sich in der leisen Brise wiegenden Palmen emporblinzelten, dann sagte Lizzie oft schwärmerisch: »So muß es in Italien sein!« Sie hatte recht. Der Badeort, zugleich Winterstation, trug den Typus der südlichen Länder. Wight wird ja auch der Garten oder die Kornkammer Englands genannt.

Wie herrlich spielte es sich am Strande! Unzählige Spiele wußte Leni, und viele davon hatte sie selbst erfunden. Die Hauptsache war natürlich »das Buddeln«. Auch Lizzie durfte sich bald daran beteiligen. Hei, wie die Sandschollen flogen! Leni äugte zu Lizzie hinüber, und Lizzie zu Leni, wessen Burg wohl schon höher sei. Ein richtiger Sandwall wurde errichtet, ein Bollwerk mit Luglöchern und Schießscharten; Leni pflanzte dann auf ihr Sandtürmchen die deutsche Flagge, und Lizzie die britische. Am nächsten Tage aber hatte die Flut die ganze Herrlichkeit davongespült, und die Arbeit begann von neuem.

Auch eine Muschelcottage mit Garten wurde für Lizzies doll gebaut, breite Wege angelegt, eine kleine Laube aus Zweigen für das Püppchen geflochten, und zwei schwarze Krebse lagen vor der kleinen Blätterhundehütte an der Kette als Haushunde.

Wie verstand Leni aus brauner Baumrinde winzige Borkenschiffe zu schnitzen, eine richtige elegante kleine Jacht mit weißen Papiersegeln und bunten Wimpeln! Die Sportmützen wurden zu diesem Spiel in das Haar gedrückt und mit lautem »Hip-hip-hurra!« setzte jedes sein Schiffchen aus. Wettsegeln spielten sie, wie es Bobby mit seinen Freunden in größerem Maßstabe auf dem serpentine im Hydepark zu betreiben pflegte. Die Augen blitzten, die Wangen brannten, und die Hände klatschten.

»Look here, meins ist schon hinter dem Anlegesteig – well, I see, meins hat ein Haifisch verschluckt,« rief Leni dann schließlich, wenn die Wellen das winzige Ding überspült hatten. Lizzie aber blickte mit geheimnisvollen Augen in das unabsehbare Wasser und malte sich aus, wo das Schiffchen wohl ans ferne Gestade gespült würde. Ob es in einer großen Hafenstadt in Amerika landen, ob kleine Cowboys es auf ihre einsame Farm ziehen, oder gar little niggers an der afrikanischen Küste das weitgereiste Schiffchen mit Gold und Elfenbein befrachten würden? Stundenlang konnte das Mädchen so in die Ferne schauen und sinnen.

Am liebsten war es Lizzie, wenn Leni ihr Märchen erzählte. Von dem funkelnden Kristallpalast auf dem Meeresgrund, wo die schöne Nixe mit dem schimmernden Goldhaar und dem häßlichen Fischschwanz haust – da – flimmerte es dort nicht wie lichtes Nixenhaar in der grünen Tiefe, tönte es nicht wie weicher Frauensang in dem einförmigen Brausen der Wogen und des Windes? Wie viel Sagen kannte Leni, von den lustigen Waldkobolden, die den müden Wanderer necken, von den schlanken Nebeltöchtern, die des Abends ihre Schleier über dem Moor waschen, und der Roggenmuhme, die am hellen Mittag durch die sich vor ihr neigenden Ähren schreitet! All die Märchen der Heimat, die Leni längst vergessen glaubte, wurden hier im fernen Lande wieder lebendig und erweckten in Lizzies phantastischem Kopf einen Widerhall.

Aber es wurde nicht den ganzen Tag am Strande gefaulenzt. Zur Flutzeit ging Leni baden, einen Tag um den anderen; das war ihr größtes Vergnügen. Die Badeeinrichtung war ziemlich einfach, aber Leni dünkte sie ideal. Sie kannte das Hinausfahren in den hochräderigen Karren von der Ostsee her nicht; das war entschieden das Wonnigste an ganz Ventnor.

Sie bedauerte Lizzie heimlich, die diesen Genuß ihrer immer noch zarten Gesundheit wegen entbehren mußte. Da wurde eine lange Kette am Ufer abgerollt, und ihr fahrendes Häuschen glitt weit ab vom Strand, mitten in das Meer hinein. Lustig sah das aus, wenn viele Badekarren draußen hielten. Ein Mann in hohen Wasserstiefeln – »Transtiebel« nannte Leni sie – ging am Badestrand auf und ab, um bei irgendwelcher Gefahr gleich bei der Hand zu sein. Das gab ein beruhigendes Gefühl. Aber Leni fürchtete sich sowieso nicht.

Freilich, das erste Mal wäre sie am liebsten in ihrem netten Badehäuschen geblieben; sie fand es zu gemütlich darin. Eine kleine Puppenwohnung war's, mit Fensterchen und einer Treppe, die ins Meer hinunter führte. Aber die Miß rief aus dem Nachbarkarren: »Ellen, where are you? Come here!« bis Leni in ihrem neuen roten Badeanzug mit weißer Borte und dem reizenden Badehut, den sie von der Tante erbettelt hatte, auf der Treppe erschien. Prüfend berührte sie das Wasser mit der Zehenspitze; dann sprang sie mit einem kühnen Entschluß und lautem »Hoiho« mitten in die anstürmende Welle.

Sie machte die Bekanntschaft des Meeres gleich gründlich. Sie hatte vergessen, den Strick zu ergreifen, der vom Dach des Karrens herabhing. In den Mund, in die Augen, in Ohren und Nase drang ihr das salzige Seewasser. Sie spuckte und schüttelte sich wie Cäsar, wenn er aus dem Dorfteich kam.

Leni war eine flotte Schwimmerin, aber als sie jetzt ihre Künste recht stolz vor der Miß, die immer nur an ihrer Treppe auf und nieder tauchte, zu entfalten gedachte, schluckte sie wieder eine gehörige Menge Wasser. Es war hier doch nicht so leicht zu schwimmen wie daheim. Als sie dann endlich heraus hatte, daß man sich von jeder Welle heben lassen muß, machte die Miß diesem neuen Vergnügen ein jähes Ende.

»Dear me, Ellen, daß du nicht die Füße vom Grund hebst! So ein leichtsinniges Ding! Es ist nicht die Ostsee. Schwimmen ist hier sehr gefährlich!«

Leni verzog den Mund. So 'ne Bangbüx! Die Miß ließ ja keinen Augenblick den Rettungsstrick los! Ja, als es gerade anfing, am schönsten zu werden, verschwand die Miß wieder in ihrem Karrenhäuschen und befahl auch Leni, sich schnell anzukleiden, da das lange Verweilen im Seewasser schwäche.

Leni aber dachte nicht daran zu gehorchen. Jetzt, da sie sich sicher wußte, wurde es ja erst fein! Sie schwamm wie ein Aal um ihren Karren herum, vorwärts und auf dem Rücken; sie trat lustig wie ein Scherenschleifer Wasser, und versuchte sogar den Kopfsprung von der obersten Treppenstufe aus, wobei sie sich allerdings tüchtig weh tat.

Am Karrenfenster erschien drohend die geballte Hand der Miß.

Da trommelte es aufgeregt gegen das Karrenfenster der Miß. O je, das hatte Leni ja rein vergessen. Die Miß stand mit empörtem Gesicht an dem kleinen bespritzten Glas, und machte seltsame Zeichen zu Leni hin, auf die diese zuerst nur mit einem verständnislosen Achselzucken antwortete. Als aber am Karrenfenster die geballte Hand der Miß erschien, hielt das nichtsnutzige Backfischchen es doch für geratener, sich ebenfalls in seinen Karren zurückzuziehen.

Dieser offenbare Ungehorsam hatte zur Folge, daß Leni drei Tage lang nicht baden durfte. Erst als Lizzie für sie bat, und sie selbst hoch und heilig versprach, der Miß aufs Wort zu folgen, wurde sie wieder mit hinausgenommen.

Nach dem Lunch mußte Leni jeden Tag eine Stunde arbeiten. Sie las mit der Miß »the lay of the last minstrel« und gähnte dabei herzhaft. Als danach die anderen Fächer wiederholt wurden, damit sie nicht allzuviel vergesse, dachte sie mehr an Seemöwen, Quallen, Krabben und Hummern, als an Geschichte, Geographie und Literatur. Sie gab der kopfschüttelnden Miß oft die schnurrigsten Antworten.

Wenn Zauberkünstler oder gar Leute mit dressierten Kaninchen am Strande ihr Wesen trieben, konnte die Miß mit ihrer Arbeitsstunde lange warten. Leni blieb unsichtbar. Sie war von den herumziehenden Gauklern nicht fortzubringen.

Während Lizzie am Nachmittag im Park in der Hängematte mehrere Stunden schlief, spielte Leni mit einigen jungen Mädchen aus Manchester, die in demselben boarding-house wohnten, Tennis, oder sie machten in Tante Janes Begleitung herrliche Spaziergänge in die hügeligen Wälder. Niemals hatte Leni gedacht, daß Tante Jane so lustig sein könne. Lizzie ging nur wenig; sie hatte das Laufen nach der schweren Krankheit fast ganz verlernt.

»Laß man, min oll lütt Dirn,« tröstete Leni sie, »ein paar Wochen noch, dann macht Mr. Humpty dein Knie ganz heil. Paß auf, dann holen wir alles nach!«

Lizzie lächelte ein wenig ungläubig dazu; sie wagte es gar nicht, an das kaum faßbare Glück zu denken.

Lenis Lieblingsausflug war nach dem kleinen weltvergessenen Kirchdorf, das unter blühenden Bäumen Jahrhunderte verträumt zu haben schien. Oft war sie über die downs – so nannte man die Kreidehügel – an dem märchenstillen Teich entlang zu ihrem lieben alten Kirchlein gewandert. Sie ruhte nicht eher, bis auch Lizzie es zu sehen bekam. Ein kleiner Eselwagen wurde gemietet. Leni und Lizzie nahmen vorn Platz; der Eselboy saß hintenauf, und mit lautem Zuruf ging die lustige Fahrt vonstatten. Aber nicht lange dauerte es, so hatte die quecksilberige Leni trotz der angstvollen Augen Lizzies dem boy Leine und Peitsche entwunden. Kerzengerade saß sie auf ihrem Platz. »Hü – ho – hü – ho!« Gerade so, wie sie es von den Knechten daheim kannte, feuerte sie zungenschnalzend ihr Eselchen an. Lizzie brauchte keine Angst zu haben. Wie oft hatte Leni oben zwischen Heubündeln auf dem Leiterwagen gestanden und selbständig die plumpen Ackergäule vom Felde heimgelenkt! Tante Jane aber, die mit einigen Damen zu Fuß gegangen war, starrte mit entsetzten Augen auf das niedliche Eselfuhrwerk, das in flottem Galopp um das Kirchlein sauste.

»Bless me, Ellen, wie unmädchenhaft! Stop! Wenn euch etwas geschehen wäre! Es ist doch gar kein Verlaß auf dich, du großes Mädchen!«

Leni ging jeder Vorwurf Tante Janes jetzt viel mehr zu Herzen als früher, wußte sie doch nun, daß diese es auch mit ihr gut meinte. Daß sie nicht wieder zurückfahren durfte, weil die Tante ihr Lizzie nicht anvertraute, war auch recht schmerzlich. Von nun an wollte sie aber auch bestimmt immer ladylike sein.

»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert,« sagt ein Sprichwort.

Als Leni zu Fuß mit den anderen in Ventnor angelangt war, stieß sie auf ihren kleinen Freund, den Eselboy, der gerade seine Grauchen ausspannte. Da waren alle guten Absichten vergessen. Eins, zwei, drei, hatte sich Leni auf das ein erstauntes »I–ah« ausstoßende Tierchen geschwungen. Ohne Sattel ritt sie zum Gaudium der Badegäste die Strandpromenade bis zu ihrem boarding-house entlang. Da standen sie alle schon im dinner-dress auf der Veranda, die vornehme alte Lady aus Southampton, die wohlerzogenen Mädchen aus Manchester und der nervöse Herr aus Greenwich, der immer zankte, weil Leni die Türen zu sehr zuwarf und die Treppen so laut herabpolterte. Unter ihnen saß auch Tante Jane und Miß Brown. Diese wurden sehr ungehalten, als sie ihr Pflegekind in diesem Aufzug erblickten. Leni, die durchaus nicht begriff, was sie denn nun schon wieder angestellt habe, wurde auf ihr Zimmer verbannt; das Schlimmste aber, das über sie verhängt wurde, war, daß sie nicht am dinner teilnehmen durfte.

Das war peinlich, sehr peinlich sogar, den dämlichen Gören aus Manchester gegenüber; an dem dinner selbst lag ihr nicht viel. Jeden Tag gab's mutton, den Leni gar nicht liebte.

Aber nach dem dinner war es immer wunderhübsch. Da wurden bei den schon ziemlich lang werdenden Abenden im drawing-room oder in der hall Gesellschaftsspiele veranstaltet. Ob sie heute wohl wieder spielten?

Leni schlich die Treppe hinab; sie wollte nur ein ganz klein wenig durch das Fenster lugen. Richtig, da saßen sie alle; selbst der junge lawyer, der lustige Rechtsanwalt aus London, spielte mit. Jetzt tat es Leni doch recht leid, daß sie um das Vergnügen kam.

Was spielten sie denn?

Die fünf dort in der hall waren eifrig beim Ping-pong. »Ach, Tischkrocket ist ja mopsig!«

Leni wandte sich dem hellerleuchteten Fenster des drawing-room zu. Da saßen die anderen alle im Kreise, selbst Lizzie tat mit. Einer erzählte eine Geschichte, in der eine family-coach den Mittelpunkt bildete. Jeder Mitspielende stellte einen Teil der Familienkutsche vor, und sobald er in der Erzählung genannt wurde, mußte er sich drehen. Wer nicht aufpaßte, gab ein forfait. Pfänderspiele fand Leni reizend. Das heutige schien völlig neu zu sein. Aber nein, irgendwo hatte sie schon etwas Ähnliches gespielt. Wo denn nur?

»Ja, ich hab's! Das ist genau so wie ein Spiel bei uns, nur daß die family-coach ein Doktor ist und das Pferd ein Apotheker, und statt Peitsche, Deichsel, Räder und so weiter sind es Pillen und Medikamente, aber sonst ganz genau so!«

Diese Erklärung erscholl plötzlich zum Schrecken der Mitspielenden aus dem nächtlichen Dunkel laut in das Zimmer hinein. Alles stürzte zum Fenster, aber da war nichts mehr zu sehen.

Leni, die im Spieleifer ganz vergessen hatte, daß sie ja in Acht und Bann getan war, hatte, als sie sich bei dem Ausruf ertappt sah, sofort Fersengeld gegeben; nun saß sie herzklopfend wieder oben im Zimmer, der Dinge gewärtig, die da kommen sollten.

Es kam aber nichts; kopfschüttelnd hatte man sich drunten wieder zum Spiel gesetzt.

»Es geistert,« flüsterte der lustige Rechtsanwalt mit einem unheimlichen Blick in alle Ecken den ängstlichen Damen zu. Nur Lizzie lächelte spitzbübisch und verschmitzt. Sie wußte genau, wer der Geist gewesen war. –

Onkel Richard kam endlich auch. Als weißgekleidete Ehrenjungfrauen, mit Rosen in den Händen, empfingen ihn die Mädchen. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Aus dem bleichen, abgemagerten müden Kinde mit den krankhaft großen Augen war in den paar Wochen ein rosiges Mädchen geworden, braungebrannt wie eine Bauerndirn war seine Lizzie, und die Augen blitzten mit denen Lenis um die Wette!

Aber auch Onkel Richard kam mit freiem, frohem Herzen zu den Seinen. Die schweren Geschäftssorgen waren zerstreut; das Fürchten und Hoffen lag hinter ihm, wenn es auch nicht ganz ohne Verluste abgegangen war. Es blieb ihm und den Seinen doch genug zu einem vollständig sorgenfreien Leben, und vor allem war der Glanz seiner Firma rein erhalten. Tante Jane atmete auf. Sie war bisher nur halb auf Ventnor gewesen; ihr Denken hatte sich nicht von London lösen können.

Jetzt unternahm Onkel Richard mit »seinen vier Damen« – Leni und Lizzie waren stolz darauf daß sie dazu gerechnet wurden – auch größere Ausflüge.

Mit der mail-coach ging es nach Cowes, wo die große Königsregatta stattfindet. Leni, die am liebsten auf dem Bock gesessen hätte, wurde von Tante Jane ganz nach hinten gesetzt, denn diese traute ihr nicht wegen des Kutschierens. Auf dem Bock saß auch a young lady nicht.

»Ich bin keine young lady, ich bin ein junges Fräulein,« erklärte Leni zur Heiterkeit der übrigen Ausflügler.

Bald aber hatte sie ihre Schmerzen vergessen; die zauberhafte Schönheit des Weges ließ keine kleinlichen Gedanken aufkommen. Vorbei ging es an den ehrwürdigen Ruinen des Schlosses Carisbrooke, wo Karl I. ein Jahr lang gefangen saß. Das Geschichtliche war das einzig Unangenehme an der Fahrt. Miß Brown ließ nicht locker; sie wollte genau von Leni wissen, wann und durch wen Karl I. in London später gerichtet wurde. Leni wußte das nicht zu sagen; sie verwechselte sogar zu Miß Browns Empörung die Jahrhunderte. Ja, als Lizzie, die in der Geschichte ihres Vaterlandes besser bewandert war als die junge Deutsche, ihr zuflüsterte: »Leni, 1649, durch Cromwell«, zuckte der Backfisch ärgerlich die Achsel.

»Ist mir höchst egal, wie der Scharfrichter im Jahre Anno Tobak geheißen hat,« sagte sie stirnrunzelnd, zum Glück in deutscher Sprache.

Osborne-House, der feenhafte Sommersitz der Königin Viktoria, interessierte sie schon eher, und als man nachher den internationalen Hafen in Cowes besichtigte, zeigte sich auch Lenis patriotisches Gefühl.

»Lizzie, sieh bloß mal das deutsche Schiff da, das helle, mit den lustigen Wimpeln! Viel freundlicher und schöner sieht das aus als die grauen englischen; die schauen ja alle so griesgrämig drein wie drei Tage Regenwetter!«

Auch eine Seerundfahrt um die ganze Insel machte der Onkel mit Leni; die drei übrigen blieben daheim, weil sie Angst vor der Seekrankheit hatten. Leni aber fürchtete sich nicht vor »Dod und Düwel«, wie sie dem Onkel lachend versicherte. Es war auch gar nicht arg; als sie mit dem Onkel von Deutschland herüberkam, hatten sie einen großen Sturm erlebt. Das »bischen Seebrise«, das ihnen um die Nase wehte, warf höchstens Mondscheinprinzessinnen um, aber nicht eine kernige Dirn von der Waterkant. Sie mußte doch die Needles sehen, jene schroff zerklüfteten, senkrecht ins Meer abfallenden Felsen, die schon manchem Schiff gefährlich geworden sind.

Einige Tage vor der festgesetzten Heimkehr nach London sprang der Wind plötzlich um. Er brachte Regen mit; grau, vernebelt und trostlos lag der Strand da. Der feine weiße Sand glich einer zähen braunen Breimasse.

»Jetzt waschen die Nebeltöchter ihre Schleier,« sagte Lizzie traurig. Es war kalt und ungemütlich. Der Herbst nahte mit langen Schritten.

Da, am letzten Tag gegen Mittag ein Sonnengruß! Die dicken Wolkenmassen schoben sich auseinander; ein paar armselige Sonnenstrahlen stahlen sich schüchtern zur Erde nieder. Leni, die eben daran gewesen war, ihren Badeanzug in den Koffer zu packen, hielt damit inne. Mit einem Sprunge war sie im Nebenzimmer, wo Tante Jane und die Miß ebenfalls mit Einpacken beschäftigt waren.

»Tante Jane – die Sonne – da ist sie! Nun darf ich noch einmal baden gehen, nicht? Du hast es mir versprochen, Tante; sowie die Sonne scheint!« Leni rollte bereits das Badezeug in den Riemen.

»Ellen, ich weiß wirklich nicht – Miß Brown kann nicht mitgehen, und du allein? Bleib lieber hier, Kind! Es wird auch schon wieder dunkel.«

»Nein, die Sonne scheint, und was man verspricht, muß man auch halten,« beharrte Leni weinerlich.

Tante Jane wandte sich seufzend wieder ihrem Koffer zu. »Well, you may go, aber daß du ganz vorsichtig bist, Ellen, hörst du?«

Leni hörte aber nicht mehr; längst war sie schon zur Tür hinaus.

Sie stapfte über den noch immer nassen Strand. Gar nicht schön sah ihr liebes Meer heute aus. Schmutziggrau zerschellten die Wogen am Ufer. Muscheln, tote Fische und schwarzen Seetang warfen sie aus.

Kein einziger Badekarren war draußen. Die Sonnenstrahlen hatten sich wieder verkrochen; düstere, zerfetzte Wolkentücher flatterten über dem unheimlich daherrollenden Meer. Ob sie nicht doch lieber umkehrte? Das Bad konnte heute nach den schmutzigen Regenmassen kein Genuß sein und ganz allein –

»Feige Memme!« sagte Leni laut zu sich selbst, und mit raschem Schritt trat sie an den Karren, der das Badebureau vorstellte.

»O, Miß, Sie wollen bei dem schlechten Wetter baden?« sagte der alte Fred mit der verdächtig leuchtenden roten Nase. »Freilich, vorhin haben auch drei Damen gebadet, aber die Flut ist jetzt im Steigen . . .«

Ach was, die Flut! So schnell geht das nicht! Das Wasser stand ja noch ganz flach; bis zur Hochflut war sie längst wieder außer Wasser, und was die drei Damen konnten, war für sie Kinderspiel!

Sie ließ sich in ihrem fahrenden Häuschen hinausrollen.

Noch ein kurzes Zögern auf der untersten Treppenstufe – wie der schwarze Rachen eines lauernden Ungeheuers gähnte sie das weite einsame Meer heute an – dann ging ihr die erste Welle über den Kopf.

Pfui! Abscheulich schmeckte das Seewasser heute, so schlammig! Hatte sie auch keine weichgliederige Qualle mit verschluckt? Viele winzige weiße Fischchen trieben in der Nähe des Strandes; sie mußte ein bißchen mehr hineingehen. Das Wasser reichte ihr ja kaum bis unter die Arme.

So, hier draußen war's besser. Jetzt freute sich Leni doch, daß sie noch einmal baden gegangen war. Morgen saß sie wieder in dem staubigen London, und alles hatte ein Ende. Und es war auch bei diesem trüben Wetter schön im Meer; soweit sie blickte, war sie der einzige farbige Punkt in den düsteren unabsehbaren Wassern.

Hoiho – eine Welle! Das war lustig. Noch eine? Die kam ja sehr rasch! Schon wieder – von allen Seiten jagten jetzt die Wellen heran!

Die Flut kam schneller, als sie geglaubt hatte. Zurück, flink zurück zum Badekarren!

Himmlischer Vater, wo war der? Schwarze, wild einherstürmende Wellen und schaumiger Gischt, wohin sie auch blickte! Kaum hatte sie sich unter einer Welle geduckt, so faßte sie schon wieder eine neue! Himmel, das war die Springflut, von der man gestern beim dinner gesprochen hatte! Nun war sie verloren!

»Mutting – – –!« schrie sie mit gellender Stimme; die Todesangst ließ sie den Namen rufen, der in der Kinderzeit stets Hilfe gebracht hatte. Aber Mutting war heute weit!

Was war das? Welches Ungeheuer hatte seine Scheren um ihr linkes Bein geschlagen und zog sie zum Grunde? Mit der Kraft der Verzweiflung riß sie sich aus dem sie umstrickenden Seetang los. Dann fühlte sie, wie Arme und Beine, mit denen sie gegen die ungestümen Wogen steuerte, allmählich erlahmten. Es war ja auch umsonst. Der Wellenstrudel täuschte über jede Richtung; jeder Stoß trieb sie vielleicht weiter ins offene Meer hinaus.

»Hilfe – –!«

Das Brausen und Heulen des unbarmherzigen Wassers übertönte den matten Ruf. Die Sinne begannen ihr zu schwinden. Willenlos ließ sie sich von den heranrasenden Fluten bald hierhin, bald dorthin treiben.

Da – ein starker körperlicher Schmerz! Sie war gegen etwas Hartes geschleudert worden. Unbewußt griffen die Hände danach. Fest hielt Leni das Treppengeländer umklammert, das zu ihrem Karren emporführte.

Wieder ging eine Welle über sie hinweg, dann erst zwang sie der Selbsterhaltungstrieb, die Stufen emporzutaumeln; die Tür schlug hinter ihr zu. Sie war gerettet.

Ja, war sie denn wirklich schon gerettet?

Zähneklappernd, mit blauem Gesicht und am ganzen Körper zitternd, stand sie mit dem nassen Badezeug in dem kleinen Raum. Es verging eine Zeit, ehe sie überhaupt daran dachte, sich abzutrocknen.

Dann schritt sie, in ihren weißen Bademantel gehüllt, mit angstvollen Augen von einem Fensterchen zum anderen.

Immer noch stiegen die Wellen. Sie überspülten schon die Treppenstufen. Bald würden sie auch ihr kleines Eiland überfluten. Zog man sie denn nicht zum Strand zurück? Wo war nur der Wächter mit den Transtiefeln? Man wußte doch, daß ein Badekarren draußen war!

O, wie ein Stich ging es Leni durchs Herz: der alte Fred war ja wieder einmal nur halb nüchtern gewesen!

Sie empfand nichts von dem großartigen Naturschauspiel, das die entfesselten Wasser boten. Sie sah nur mit entsetzten Blicken, wie die ruhelosen Wellen gierig Stufe um Stufe verschlangen. Soweit sie schaute, graue Fluten, graue Wolken. Wild mit den Flügeln schlagende Möwen flatterten kreischend mit langen Stößen über das brandende Meer.

Woge um Woge, Minute um Minute rollte dahin. Leni dachte nicht daran, sich anzukleiden. Immer stierer wurde ihr Blick. Die Flut stieg noch immer!

Halt – sie wollte ein Notsignal geben! Das war die letzte Rettung. Mit steifen Fingern band sie ihr hellrotes Musselinkleid an die Regenschirmkrücke und öffnete behutsam das Fenster. Das Wasser spritzte zu ihr empor; sie achtete dessen nicht. Mit beiden Händen hielt sie ihren Regenschirm umklammert und ließ die rote Notflagge im Sturme wehen.

Wieder vergingen Minuten. Sie deuchten Leni eine Ewigkeit. Da, ein Knirschen – noch einmal – ihr hochräderiges Häuschen bewegte sich! Rissen die Wellen es mit sich fort?

Nein, langsam und sicher glitt es strandwärts. Die lange Kette rollte sich auf. In ohnmächtiger Wut brüllten die Fluten dem ihnen entrungenen Opfer nach.

Man hatte vom Strande aus das flatternde Notsignal gesehen und den schlafenden Beamten darauf aufmerksam gemacht. Das Entsetzen über den draußen vergessenen Badekarren hatte ihn schnell ernüchtert.

Leni hatte später keine Ahnung mehr davon, wie sie in ihre Kleider und wieder heimgekommen war. Aber einen Bombenschnupfen nahm sie zur Erinnerung an das grausige, ihr unvergeßlich bleibende Seeabenteuer nach London mit.



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