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Wiederum verging einige Zeit, ohne daß ich das Geringste von Mischa oder über ihn gehört hätte. Gott mochte wissen, wohin er gerathen war. Da sitze ich nun eines schönen Tages in einer Posthalterei an der T.'schen Landstraße; auf dem Tische vor mir stand der Samowar und ich wartete auf den Vorspann, da höre ich plötzlich unter dem offenen Fenster des Passagierzimmers eine heisere Stimme auf französisch sagen: »Monsieur, monsieur! prenez pitié d'un pauvre gentilhomme ruiné!«
Ich erhob den Kopf, großer Gott! Wen mußte ich vor mir sehen! Die von allen Haaren entblößte Fellmütze auf dem Kopfe, bekleidet mit der zerlumpten Tscherkessen-Uniform, an welcher die aufgenähten Patronenhülsen fast in Fetzen herunterhingen, den Dolch in der zerplatzten und zerbrochenen Scheide tragend, mit aufgedunsenem, dabei aber noch immer rosig schimmerndem Gesicht, mit zerzaustem, aber immer noch reichem Kopfhaar, so stand Mischa vor mir! Er war es wirklich, und er war schon soweit gesunken, daß er die Reisenden auf der Landstraße um einen Almosen ansprach!
Ich schrie unwillkürlich laut auf. Er erkannte mich, zitterte, wandte sich ab und machte Miene sich von dem Fenster zu entfernen. Ich hielt ihn zurück. Aber was sollte ich sagen? Sollte ich ihm etwa in diesem Moment eine moralische Vorlesung halten?
Ohne ein Wort zu äußern hielt ich ihm einen Fünfrubelschein hin; ebenfalls schweigend ergriff er die Banknote mit seiner immer noch weißen und rundlichen, aber doch schon zitternden und auch ziemlich unsaubern Hand, und dann verschwand er hinter dem Hause.
Der Vorspann mit frischen Pferden ließ noch immer auf sich warten, und so hatte ich Zeit genug, meinen trüben Gedanken über dieses unerwartete Zusammentreffen mit Mischa nachzuhängen. Ich machte mir jetzt Vorwürfe darüber, daß ich ihn so kalt und gleichgültig hatte weiterziehen lassen. Endlich konnte ich meine Reise fortsetzen; kaum hatte ich noch eine halbe Werst zurückgelegt, als ich vor mir auf der Landstraße einen Trupp Menschen gewahrte, die in seltsamer, offenbar taktmäßiger Weise vorwärts schritten. Bald hatte ich mit meinem Wagen die Leute eingeholt, und was mußte ich nun sehen! Zwölf Bettler waren es, die, mit den Quersäcken auf dem Rücken, zu je zwei und zwei schritten, hüpften und sprangen; sie sangen im Chor ein Liedchen und vor ihnen her tanzte Mischa und brüllte den Refrain noch lauter als die Andern. Kaum war mein Wagen in ihrer Nähe angelangt, als er mich auch schon erblickte und nun laut rief:
»Hurrah! Halt! Das ganze Bataillon, Front!«
Gehorsam blieben die Bettler auf dieses Kommando hin in doppelter Reihe stehen; er selbst sprang mit seinem gewöhnlichen gellenden Lachen auf den Wagentritt und brüllte nun ein »Hurrah« über das andere.
»Was hat das denn zu bedeuten?« fragte ich ganz erstaunt.
»Das ist meine Armee! Es ist die Bettlergarde, übrigens alles Gottesmänner und gute Freunde von mir. Jeder von ihnen, Dank Ihrer Großmuth, hat sich mit einem Gläschen das Herz erfreuen können, und da sind wir denn natürlich heiter und seelensvergnügt. Ach, Onkelchen, glauben Sie mir, nur in der Gesellschaft von Bettlern, von solchen braven Männern, läßt es sich noch einigermaßen auf dieser Welt leben! Sonst ist es wirklich nicht auszuhalten!«
Ich antwortete nicht darauf; in diesem Augenblicke aber erschien er mir so herzensgut, in seinem Gesicht sprach sich eine solche liebenswürdige beinahe kindliche Einfalt aus, daß ich mich im tiefsten Innern ergriffen fühlte. Wie ein Blitz fuhr mir der Gedanke, hier zu helfen, durch den Kopf.
»Setze Dich zu mir in den Wagen!« sagte ich.
Er machte eine Bewegung, die sein großes Erstaunen ausdrückte.
»Wie? Ich – in diesen Wagen?«
»Jawohl,« wiederholte ich. »Setze Dich zu mir, ich will Dir einen Vorschlag machen. Setze Dich doch, wir wollen zusammen weiterfahren.«
»Wie Sie wollen.«
Er nahm neben mir Platz.
»Und Ihr, meine lieben Freunde und ehrenwerthen Genossen,« fuhr er fort, sich an die Bettler wendend, »lebt wohl! Auf Wiedersehen!«
Er nahm seine Fellmütze ab und grüßte sehr höflich. Die Bettler standen starr vor Überraschung. Ich befahl dem Kutscher, die Pferde tüchtig laufen zu lassen, und so rollte denn unser Wagen bald wieder auf der Chaussee dahin.
Ich wollte Mischa folgenden Vorschlag machen: Mir war der Gedanke gekommen, ihn mit mir auf meinen Landsitz zu nehmen, der etwa dreißig Werst von jener Station entfernt war, auf der ich ihn wiedergesehen hatte. Hier wollte ich ihn bessern oder doch wenigstens den Versuch zu seiner Besserung unternehmen.
»Höre einmal, Mischa,« begann ich, »willst Du in meinem Hause leben? Du sollst ganz nach Deiner Bequemlichkeit leben; auch mit Kleidung und Wäsche wird man Dich versehen und Dich überhaupt ordentlich ausstatten. Geld zu Taback und anderen kleinen Genüssen und Vergnügungen sollst Du ebenfalls erhalten, aber alles das nur unter einer Bedingung: Du darfst keinen Branntwein mehr trinken. Gehst Du darauf ein?«
Mischa schien vor plötzlicher Freude ganz erschrocken zu sein; seine Augen blickten mich starr an, sein ganzes Gesicht erglühte; dann sank er plötzlich an meine Schulter, überhäufte mich mit Küssen und wiederholte einmal über das andere mit halberstickter Stimme:
«Onkel! Onkelchen, mein Wohlthäter, Gott vergelt's Ihnen!«
Schließlich brach er in lautes Weinen aus, nahm seine Fellmütze vom Kopf und wischte sich damit die Augen, die Nase und den Mund.
»Vergiß aber nicht,« sagte ich eindringlichst, »daß ich eine Bedingung gestellt habe, von deren Innehaltung alles Andere abhängig ist: Du darfst keinen Branntwein trinken.«
»Der Teufel hole den Branntwein!« rief er, beide Hände wie abwehrend von sich streckend. In Folge dieser Bewegung strömte förmlich eine Wolke von dem Spiritusgeruch, der ihn ganz zu durchdringen schien, auf mich zu.
»Ach, mein liebes gutes Onkelchen, wenn Sie nur wüßten, welch ein Leben ich geführt habe! Aber mein ständiger Gram war schuld an Allem und das Schicksal hat mir auch gar zu arg mitgespielt! Aber nun schwöre ich, Onkelchen, ja, ich schwöre Ihnen, daß ich mich bessern werde! Sie werden es ja sehen, Onkelchen; ich habe noch niemals gelogen, Sie können danach fragen, wen Sie wollen. Ich bin ein ehrlicher Mensch, Onkelchen, aber ich habe nun einmal kein Glück im Leben gehabt. Niemand hat mir bisher Liebes und Gutes erwiesen –«
Nun konnte er vor Schluchzen schon gar nicht mehr sprechen. Ich gab mir alle denkbare Mühe, ihn zu trösten und zu beruhigen, und das gelang mir endlich auch; als wir vor meinem Landhause anlangten, war Mischa schon längst in bleiernen Schlaf gesunken, wobei sein Haupt sich so tief herabbeugte, daß es schließlich auf meinen Knieen lag.