Iwan Turgénjew
Aus der Jugendzeit
Iwan Turgénjew

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Iwan Suchich.

Der Eindruck patriarchalischen Stilllebens, welchen das Teleginsche Haus in jeder Beziehung machte, wurde einmal recht gründlich gestört. Das Ereigniß trug sich zu, als ich, damals schon Student, zum letzten Male auf Besuch in dem Hause weilte.

Zur Zahl des Hofgesindes gehörte ein gewisser Iwan mit dem Beinamen Suchich, der Kutscher. Der Mann war sehr klein, sehr lebhaft, hatte eine Stutznase, Lockenhaar, freundliche Augen und ein stets vergnügtes, fast kindlich dreinschauendes Gesicht, obschon er sich bereits in vorgerückten Jahren befand. Er war ein großer Possenreißer, zu allen Schelmenstreichen aufgelegt, verstand sich auf alle möglichen Kunststücke, veranstaltete Feuerwerke, ließ Drachen steigen, spielte alle nur denkbaren Spiele, konnte auf einem galoppirenden Pferde stehen, schwang sich beim Schaukeln höher als alle Andern und konnte sogar Schattenspiele arrangiren. Niemand verstand es besser als er, die Kinder zu unterhalten, und er wurde nicht müde, sich mit ihnen stunden- ja tagelang abzugeben. Wenn man ihn nur lachen hörte, gerieth das ganze Haus sofort in einen gelinden Aufruhr; von allen Seiten hallte es lachend zurück. Mit besonderer Tüchtigkeit führte Iwan russische Volkstänze auf, und den Tanz vom »Fischchen« machte ihm Keiner nach. Sobald der Chor ein Tanzlied zu singen begann, stellte sich unser Bursche in die Mitte des Kreises, und nun begann ein Drehen, Wenden, Springen, Stampfen, plötzlich warf er sich auf den Boden und ahmte die Bewegungen eines Fisches nach, den man aus dem Wasser genommen und aufs trockene Land geworfen hat. Er krümmte sich, daß die Absätze fast den Nacken berührten; dann sprang er plötzlich wieder auf die Füße, und man meinte, die Erde erbebe unter ihm.

Telegin war, wie ich schon oben erzählt habe, ein großer Freund aller Tanzbelustigungen. So rief er denn auch häufig, wenn ihn gerade die Laune anwandelte:

»Heda! Iwan! Kutscherchen, komm' 'mal hierher. Tanze uns das ›Fischchen‹ vor! Lustig! vorwärts!«

Und schon in der nächsten Minute flüsterte er entzückt: »Du mein Himmel, ist das lustig! der Iwan ist doch wirklich ein Tausendsappermenter!«

Während meines letzten Aufenthaltes in Suchodol trat also dieser Iwan in mein Zimmer und warf sich, ohne ein Wort zu sagen, vor mir auf die Kniee.

»Was giebt's denn, Iwan?«

»Retten Sie mich, Herr!«

»Ja, was ist denn geschehen?«

Nun theilte mir Iwan mit, von welchem Unglück er betroffen worden war. Vor etwa zwanzig Jahren war er von seinen eigentlichen Besitzern, den Gutsbesitzern Suchich, gegen einen Teleginschen Leibeigenen ausgetauscht worden. Das war so ganz obenhin geschehen, auf Treu und Glauben, und ohne daß Formalitäten erfüllt oder Papiere ausgetauscht worden wären. Jener Bauer, der für ihn hingegeben war, starb, die Familie Suchich vergaß Iwan vollständig, er blieb im Hause Alexis Sergejewitschs und nur sein Rufname Suchich erinnerte daran, daß er eigentlich aus einem andern Besitzthum stamme. Dieses Besitzthum nun gerieth, als die bisherigen Herren starben, in andere Hände, und der neue Besitzer, von dem man allgemein erzählte, daß er ein sehr grausamer und gewaltthätiger Mensch sei, hatte kaum in Erfahrung gebracht, daß sich einer seiner Leibeigenen ohne ersichtlichen Grund bei Telegin aufhalte, als er auch schon die Rückgabe verlangte, für den Fall der Verweigerung drohte er mit Strafe und Prozessen. Die Drohung war um so mehr zu fürchten, als Jener selbst Geheimrath war und sich eines großen Einflusses bei den Verwaltungsbehörden des Gouvernements erfreute.

Auf den Tod erschrocken, eilte Iwan zu Telegin. Diesem that das Schicksal seines Tänzers leid und er machte dem Geheimrath den Vorschlag, ihm den Leibeigenen für eine bedeutende Summe zu verkaufen. Davon aber wollte der Geheimrath nichts wissen; er war ein Kleinrusse und diese sind bekanntlich eigensinnig wie der Teufel. Es blieb also nichts übrig, als den armen Kerl auszuliefern.

»Ich habe mich hier eingewöhnt; hier bin ich heimisch geworden, hier habe ich gedient, hier habe ich mein Brod gegessen und hier will ich auch sterben,« sagte Iwan zu mir.

Das auf seinem Gesicht sonst beständige Lächeln war vollständig verschwunden. Vor Angst und Schreck schienen die Züge des Mannes zu Stein erstarrt zu sein.

»Jetzt soll ich nun zu einem solchen schlimmen Menschen, zu solchem Missethäter gehen! Bin ich denn ein Hund, dem man einfach eine Schlinge um den Hals wirft und ihn dann aus einer Hundehütte in die andere zieht? Ja, so hat es nun kommen müssen. Helfen Sie mir doch, Herr! bitten Sie bei Ihrem lieben Onkel für mich. Erinnern Sie sich doch nur, wie gut ich Sie immer unterhalten habe. Wenn mir nicht geholfen wird, wenn ich von hier fort muß, so geschieht ein Unglück!«

»Was für ein Unglück, Iwan?«

»Nun, ich werde meinen neuen Herrn todtschlagen. Ich werde zu ihm gehen und werde ihm sagen: »Herr, lassen Sie mich nach Suchodol zu Herrn Telegin zurückkehren. Wenn nicht, so rathe ich Ihnen: Nehmen Sie sich vor mir in Acht. Ich werde Sie todtschlagen.«

Wenn ein Zeisig oder Finke plötzlich die Redegabe erhielte und mich nun aufs Ernsthafteste versicherte, daß er auf einen andern Vogel so lange mit dem Schnabel einhacken würde, bis jener todt sei, ich würde nicht in größeres Erstaunen versetzt werden können, als es jetzt geschehen war. Wie? Iwan Suchich, der Tänzer, der Possenreißer, der lustige Bursche, der Freund der Kinder, selbst ein Kind, dieses harmlose, gutmüthige Geschöpf sollte zum Mörder werden können? Welch eine dumme Idee! Ich nahm das Gerede auch nicht einen Augenblick lang für Ernst. Ich war schon sehr erstaunt und fand es als etwas ganz Besonderes, daß er ein solches Wort überhaupt hatte aussprechen können.

Jedenfalls hielt ich es für Pflicht der Menschlichkeit, zu meinem Onkel zu gehen. Ich erzählte ihm nicht Alles, was Iwan in seiner Angst und Noth zu mir gesagt hatte, bat ihn aber, doch kein Mittel unversucht zu lassen, um die Sache auf irgend eine Weise in Güte beizulegen.

»Mein lieber Junge,« erwiderte mir Alexis Sergejewitsch, »ich will ja von Herzen gern Alles thun, was in meinen Kräften steht. Ich habe diesem eigensinnigen Menschen, diesem echten Kleinrussen, schon eine bedeutende Summe geboten – dreihundert Rubel, auf mein Ehrenwort! dreihundert Rubel bot ich ihm schon. Aber er will ja von einem Loskaufen nichts wissen. Er sagt, in früheren Zeiten habe man wohl so gegen Gesetz und Recht verfahren können, aber jetzt sei das anders und er bestehe auf seinem Recht. Ich muß ja befürchten, daß dieser niederträchtige Mensch mir den Iwan, wenn ich ihn nicht gutwillig ausliefere, mit Gewalt nimmt. Er hat eine starke und mächtige Hand; bedenke doch nur: der Gouverneur speist sehr häufig bei ihm. Er ist im Stande, mir Soldaten auf den Hals zu schicken, blos um den Burschen herauszubekommen. Und das muß ich doch sagen: Vor Soldaten habe ich jetzt einen großen Respekt. Ja, früher, als ich noch jung war, da hätte ich den Iwan nicht herausgegeben; ich hätte ihn vertheidigt gegen alle Angriffe und Maßregeln. Aber jetzt – sieh mich doch nur an, und Du mußt zugeben, daß ich zu schwach und hinfällig zum Widerstand bin. Ich würde einen schönen Kämpfer abgeben!«

Wirklich war Alexis Sergejewitsch außerordentlich gealtert, seitdem ich ihn zum letzten Male gesehen. Sogar die Pupillen seiner Augen hatten jenes milchfarbige Aussehen bekommen, wie man es bei ganz kleinen Kindern findet, und das selbstbewußte Lächeln, das sonst um seine Lippen spielte, hatte jenem gezwungen-süßlichen Lächeln Platz gemacht, das man bei ganz alten Leuten so häufig findet und dann von diesen nicht einmal während des Schlafes weicht.

Ich machte Iwan von dem Entscheide Telegins Mittheilung. Der arme Bursche stand eine ganze Zeit lang unbeweglich, schweigend, nur hin und wieder mit dem Kopfe schüttelnd.

»Also gut,« sagte er endlich; »seinem Schicksal kann Niemand entgehen. Aber es bleibt bei dem, was ich einmal gesagt habe. Jetzt will ich mich aber bis zum Ende auch recht lustig machen. Herr – bitte, schenken Sie mir eine Kleinigkeit zum Trinken.«

Ich gab ihm Geld; er trank sich einen tüchtigen Rausch an und an demselben Tage tanzte er das »Fischchen« mit solchem ungewöhnlichen Aufwande von Kraft und Geschicklichkeit, daß die jungen Mädchen und die Frauen aus dem Dorfe vor Entzücken einmal über das Andere laut aufschrieen.

Am nächsten Tage verließ ich das Gut meines Onkels. Drei Monate später – ich hielt mich schon in Petersburg auf – erfuhr ich, daß Iwan sein Wort gehalten, seine Drohung wahr gemacht habe. Man hatte ihn zu seinem neuen Herrn geschickt; dieser ließ ihn in sein Kabinet kommen und theilte ihm mit, daß er ihn als Kutscher verwenden werde, daß man ihm ein Dreigespann mit Wiatka'schen Pferden anvertrauen und daß er unnachsichtig und aufs Strengste bestraft werden würde, wenn er nicht Pferde und Wagen in bester Ordnung halte oder sich auch sonst irgendwie die geringste Nachlässigkeit zu Schulden kommen lasse.

»Dabei bleibt es, und ich sage so etwas nicht zum Scherz,« schloß er seine Erklärung.

Nachdem Iwan seinem Herrn aufmerksam und respektvoll bis zu Ende angehört hatte, verbeugte er sich zuerst tief und erklärte dann sehr freimüthig, daß Alles so gehen möge, wie es Seiner Gnaden beliebe, daß er aber niemals der Diener Seiner Gnaden werden könne.

»Lassen Sie mich meinetwegen Bauer werden und das Land bestellen; ich will Ihnen einen tüchtigen Jahreszins zählen. Lassen mich Euer Gnaden auch lieber Soldat werden! Thun Sie es nicht, so könnte leicht ein Unglück geschehen!«

Den Gutsherr gerieth in Zorn.

»Kerl, was fällt Dir ein? Du unterstehst Dich, mir solche Dinge zu sagen? Erstens mußt Du wissen, daß man mich mit ›Excellenz‹ anredet und nicht bloß mit ›Euer Gnaden‹; zweitens bist Du schon zu alt, um noch als Soldat verwendet werden zu können, Du hast auch gar nicht die Figur dazu, und schließlich – was ist das für ein Unglück, mit dem Du zu drohen wagst. Hast Du Dir etwa vorgenommen, mir das Haus über dem Kopfe anzustecken?«

»Nein, Excellenz, an Brandstiften habe ich nicht gedacht.«

»Du willst mich also ermorden?«

Iwan schwieg einen Augenblick.

»Ich bin nun einmal kein Diener für Sie,« sagte er dann.

»Nun, ich will es Dich schon lehren! Du sollst schon erfahren, ob Du mir dienen kannst, oder nicht,« brüllte der Herr.

Er ließ Iwan streng bestrafen und befahl dann, daß ihm das Wiatka'sche Dreigespann übergeben und er als Kutscher angestellt werde.

Iwan schien sich dem Befehle zu fügen und that seinen Kutscherdienst. Da er in diesem Fache wirklich Meister war, so gefiel er seinem neuen Herrn immer mehr, und dies auch deswegen, weil er in seinem Benehmen still und bescheiden war und die Pferde bei seiner Art der Behandlung sichtlich gediehen. Die Gäule wurden mit der Zeit rund wie »Gurken« und es war ein Vergnügen sie zu betrachten.

Der Gutsherr zog ihn schließlich allen andern Kutschern vor und fuhr am liebsten mit ihm.

Einmal sagte er zu ihm: »Denkst Du noch an unsere erste Unterredung, Iwan? Damals schien es kaum, daß wir so gut zu einander passen. Nun, ich hoffe doch, daß Dir die tollen Ideen aus dem Kopfe gegangen sind.«

Iwan hatte kein Wort der Erwiderung.

Einmal, es war um den Tag der heiligen drei Könige, fuhr der Herr wieder mit Iwan in die Stadt; der Schlitten war mit Teppichen ausgelegt und hell klingende Schellen schmückten die drei Pferde. Als man sich einem Hügel näherte und die Fahrt allmälig bergan ging, trabten die Gäule nicht mehr, sondern schritten nur langsam vorwärts. Iwan sprang von seinem Kutschersitz ab und ging hinter dem Schlitten her, als suche er etwas, das er bei der Fahrt verloren.

Es herrschte eine grimmige Kälte. Der Herr saß in Pelze gehüllt und hatte eine Bibermütze bis fast auf die Augen herabgezogen. Da zog Iwan ein Beil hervor, welches er bisher unter seinem Rocke verborgen gehalten hatte, näherte sich seinem Herrn von hinten, schlug ihm die Pelzmütze vom Kopfe und sagte: »Peter Petrovitsch! Ich habe Dich gewarnt, als es noch Zeit war; jetzt hast Du keinem Andern die Schuld zuzuschreiben, als Dir selbst!«

Dann ließ er das Beil auf seinen Herrn niederfallen und spaltete ihm mit einem einzigen Schlage den Schädel. Darauf hielt er die Pferde an, setzte seinem nunmehr todten Herrn wieder die Mütze auf, und nachdem er seinen Platz auf dem Kutscherbock wieder eingenommen hätte, fuhr er weiter nach der Stadt und zwar geraden Weges zum Gericht.

»Hier,« sagte er zu den Beamten, »bringe ich Euch den General Suchich, meinen Herrn, den ich erschlagen habe. Ich habe es ihm vorher angekündigt und habe nun mein Versprechen eingelöst. Jetzt bindet mir meinetwegen die Hände.«

Iwan wurde festgenommen; er kam vor die Richter und wurde zur Knute sowie zur Zwangsarbeit verurtheilt. Der einst so lustige Tänzer, der gemüthliche Spaßvogel mußte in die Bergwerke hinabsteigen – und da ist er verschollen und für alle Zeiten verschwunden.

Ja, bei solchen Erinnerungen muß man unwillkürlich Alexis Sergejewitsch Telegins Ausspruch wiederholen: Die alten Zeiten waren doch schön. Nur daß wir es in einem andern Sinne sagen.



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