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Drei Briefe

In Pommerles Klasse, in der sonst die schönste Eintracht geherrscht hatte, gab es in letzter Zeit häufig Hader und Streit. Im Oktober war von auswärts eine neue Schülerin gekommen, die sich vom ersten Tage an an Pommerle herandrängte und behauptete, sie habe Pommerle so lieb, daß sie ihre beste Freundin werden wolle. Irma Hochstetter war äußerlich ein recht nettes Mädchen, doch gefiel sie Pommerle nicht, da sie es mit der Wahrheit nicht immer genau nahm. Es kam Irma auch gar nicht darauf an, eine der Schulgefährtinnen zu verklatschen, wenn es den eigenen Vorteil galt. Die Sekundanerinnen ließen sich das natürlich nicht lange gefallen. Gar bald sagten sie Irma gründlich ihre Meinung, nannten sie den Störenfried der Klasse, und mieden sie mehr und mehr.

Pommerle versuchte öfters, die Streitigkeiten beizulegen. Irma weinte einige Male, bat Pommerle um Beistand, und das gutherzige junge Mädchen gab sich auch alle Mühe, den Frieden wieder herzustellen. Aber kaum wechselte man mit Irma wieder freundliche Worte, so versuchte sie erneut, eine gegen die andere aufzustacheln. Sie wußte Häßliches von Ilse Torlege, von Karin Rauke oder von Wanda Horgitt zu erzählen, sie spürte den Mitschülerinnen nach und übertrieb oftmals kleine harmlose Streiche, bauschte sie auf und meldete sie in der Schule.

Die Folge war, daß man von Irma immer mehr abrückte. Irma sah nicht ein, daß sie allein die Schuld daran trug, im Gegenteil, sie beschuldigte andere, und kam immer häufiger zu Pommerle in die Wohnung, um ihr das eigene Leid zu klagen. Pommerle sagte Irma gründlich die Meinung und hielt ihr schlechte Kameradschaft vor, worauf Irma versprach, sich zu bessern. Immer wieder betonte Irma, sie lege den größten Wert darauf, mit Pommerle herzliche Freundschaft zu schließen. Sie drängte sich in so auffälliger Weise an die Mitschülerin heran, daß es Pommerle zuviel wurde. Nichts Inneres verband sie mit Irma; es wurde ihr sogar schwer, ruhig zu bleiben, denn Irma wurde ihr mitunter geradezu lästig.

Die beiden Freundinnen Pommerles, Ilse und Karin, waren über Irmas Aufdringlichkeit ungehalten. Immerhin, mochte die Neue noch so sehr um Pommerles Freundschaft bitten, die beiden wußten genau, daß sie aus dem Herzen Pommerles nicht verdrängt werden würden.

Eines Morgens, als sich Pommerle zum Schulgang rüstete, reichte ihr die Mutter ein Fünfmarkstück, mit dem Bemerken, die Tochter möge auf dem Heimwege zum Klempner herangehen und das wiederhergestellte Bügeleisen holen. Pommerle, die ein Schulbuch in der Hand hielt, um rasch noch ein Gedicht durchzulesen, schob das Geldstück ziemlich achtlos in die Manteltasche. An der nächsten Straßenecke traf sie zwei Sekundaner. Man kam in ein lebhaftes Gespräch, das Geldstück war vergessen. Pommerle hängte im Flur des Gymnasiums ihren Mantel, wie immer, an den Kleiderriegel.

Erst als sie ihn wieder anzog, fiel ihr die Besorgung ein. Sie griff in die Manteltasche – das Geldstück fehlte. Auch in der anderen Tasche war es nicht zu finden.

»O weh«, stammelte Pommerle, »nun habe ich Geld verloren, Ilse! Ich sollte etwas besorgen – nun ist das Geld dafür fort.«

»Wo hast du es gehabt?«

»In meiner Manteltasche.«

»Da hat es eben einer 'rausgenommen. – Es war unvorsichtig, Pommerle, das Geld einfach in die Manteltasche zu stecken.«

»Erlaube mal, Ilse, in der Sekunda gibt es keine Diebe. Keiner meiner Mitschüler oder Mitschülerinnen wird mir etwas nehmen. Sonst kommen hier nur die Lehrer noch vorüber.«

»Die werden es nicht genommen haben.«

»Vielleicht habe ich es neben die Manteltasche gesteckt. Ich kann mich nicht genau erinnern, ob ich es überhaupt einsteckte oder in der Hand behielt. – Ich habe gelesen, als ich es bekam – nun ist es weg.«

Um Pommerle scharten sich einige Mitschülerinnen, die ihr Mißgeschick aufrichtig beklagten.

»Einer wird es schon genommen haben«, meinte Irma, »es gibt überall unehrliche Menschen!«

»Aber nicht in der Sekunda«, erwiderte Pommerle mit blitzenden Augen. »In der Sekunda stiehlt keiner!«

»Gelegenheit macht Diebe«, meinte Irma. »Einer hat zufällig das Geld bemerkt und eingesteckt.«

»Das stimmt nicht, Irma! Wahrscheinlich habe ich allein Schuld, entweder habe ich das Geld neben meine Manteltasche gesteckt oder in der Hand behalten und auf dem Schulwege verloren.«

Als Irma abermals eine Gegenbehauptung wagte, fielen die anderen Klassengefährtinnen entrüstet über sie her, so daß sie es vorzog, fortzugehen.

»Ich kann sie nicht leiden«, sagte Ilse, »vielleicht denkt sie, ich habe es dir genommen. Auf mich hat sie sich ohnehin gesetzt.«

»Nein, das denkt sie nicht«, beschwichtigte Pommerle. »Irma meint es ganz gewiß nicht so schlimm. Leider muß sie immer etwas Häßliches sagen. – Weißt du, Ilse, die Sache ist mir sehr peinlich.«

»Es gibt natürlich ein Donnerwetter daheim.«

»Das nicht, aber Mütterli hat ja recht, wenn sie mir vorwurfsvolle Augen macht. – Man paßt doch auf! Nun muß sie mir noch einmal Geld geben. – Das ist schrecklich!« .

»Kannst du es nicht selber auslegen? Von deinem Taschengeld?«

»Meinst du, ich hätte am fünfundzwanzigsten März noch fünf Mark? Dreißig Pfennig ist alles, was ich besitze!«

»Ich kann dir leider auch nichts borgen.« Ilse zog die Börse und kramte darin herum. »Dreiundfünfzig Pfennig und zwei Briefmarken.«

»Ich muß es eben gestehen«, seufzte Pommerle. »Es geschieht mir ja recht, wenn ich einen Verweis bekomme. Ich finde überhaupt, daß ich in letzter Zeit schrecklich zerstreut bin.«

»Daran ist die bevorstehende Versetzung schuld. Die macht uns alle nervös! Wenn es nur erst soweit wäre! – Du wirst ja bestimmt versetzt, Pommerle – «

»Na – ich habe in letzter Zeit auch manches nicht so ganz richtig gewußt. Daran ist der verflixte Schnuller schuld. Wenn ihn Karin heimlich in den Mund steckt, muß ich lachen.«

»Es war doch zu fein mit den Schnullern!«

»Ich habe meinen Schnuller auch noch. – Sieh mal!« Pommerle zog ihn aus der Tasche ihres Kleides und steckte ihn in den Mund. »Schnuller ›Weine nicht‹, aus feinstem mattrosa Gummi. Die allerbeste Marke. Hebt das Selbstbewußtsein. Leider funktioniert das Zeug bei mir nicht recht. Mein Selbstbewußtsein sitzt seit einiger Zeit auf dem Hund. – Ach, Ilse, warum habe ich das Fünfmarkstück verloren!«

Mit schwerem Herzen kam Pommerle heim. Sehr kleinlaut berichtete sie von ihrem Mißgeschick.

»Weißt du, Mütterli, was ich mir sagte? Pommerle, man darf dir nichts anvertrauen. Du bist eine unzuverlässige Person. Mit sechzehn Jahren müßtest du besser auf Geld achten, denn fünf Mark sind viel Geld. Meinst du das nicht auch, Mütterli?«

»Das wollte ich dir alles auch sagen, Pommerle.«

»Hier hast du den Beweis, Mütterchen, daß ich alles einsehe. Mütterli, Mütterli, ach Mütterchen, mir geht der Reisende mit den Schnullern nicht mehr aus dem Kopfe. Schrei und Muterli! Herzich – Herzich – – «

»Es wird nicht von der Sache abgelenkt, mein Kind. Erst erzähle mir, wie es möglich ist, daß ein sechzehnjähriges Mädchen fünf Mark verlieren kann.«

»Das ist eben das große Rätsel«, sagte Pommerle seufzend. »Ich weiß wirklich nicht, wohin das Geld kam. Gestohlen hat es bestimmt keiner! So muß ich es verloren haben.«

»In einer knappen Woche ist Monatsschluß, mein Kind. So werde ich dir von deinem Taschengeld die fünf Mark abziehen. Damit ist die Angelegenheit erledigt.«

»Kannst du es nicht ratenweise abziehen, Mütterchen? Mein Etat ist für den kommenden Monat bereits fertiggestellt. Ich müßte alles umwerfen, wenn ich diese beträchtliche Summe mit einem Male zahlen sollte.«

»Nun, so wird der Etat umgestoßen, Pommerle. Sieh zu, wie du fertig wirst.«

»Schrecklich ist das«, murmelte Pommerle. »Aber – es ist ja meine Schuld. – Der einzige Ausweg ist eben, daß wir einen Osterspaziergang ins Riesengebirge machen, daß ich für Väterli einige Steine suche und mir dafür etwas bezahlen lasse.«

Frau Bender erwiderte nichts. Aber noch lange hörte sie aus dem Nebenzimmer das Seufzen der Tochter und die leise gemurmelten Worte:

»Was streiche ich nur von den Ausgaben? Ich brauche das ganze Geld sehr notwendig. – Es ist schrecklich, für einen Monat vermögenslos zu sein!«

Am einunddreißigsten März bekam Pommerle ihr karges Monatsgeld. Sie warf der Mutter einen Blick zu, der einen Stein hätte erweichen können, aber Frau Bender blieb unerbittlich. Beim Mittagessen legte Pommerle das Taschengeld neben den Teller und wandte sich an den Vater.

»Es langt halt nicht, nein, es langt nicht«, begann sie, indem sie mit beiden Händen in das blonde Haar fuhr. »Die fünf Mark fehlen mir an allen Ecken und Enden. – Väterli, solltest du in den nächsten Tagen oder Wochen Handlangerdienste gebrauchen – ich stehe zur Verfügung!«

»Ich werde kaum etwas brauchen, Pommerle. Ich möchte dich kurz vor der Versetzung nicht in Anspruch nehmen.«

»Auch das noch«, stöhnte Pommerle. »Wenn nur der April erst um wäre! Es ist gar zu hart!«

Am anderen Tage, als Pommerle zur Schule ging und an der Post vorbeikam, verließen gerade die Briefträger das Gebäude. Einer winkte Pommerle zu. »Heute habe ich etwas für Sie, Fräulein Pommerle. Wollen Sie den Brief gleich mitnehmen? Oder soll ich ihn daheim abgeben?«

»Der Brief wird vom Jule sein. Geben Sie ihn mir.«

Es war aber kein Schreiben vom Jule. Die große steile Handschrift war Pommerle unbekannt. Sie blieb stehen, riß den Umschlag auf und las, während ihre Augen immer größer wurden:

»Fräulein Hanna Bender! Nach langem Zögern bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß ich die mir zugefügte Beleidigung nicht auf mir sitzen lassen darf. Sie haben auf dem Maskenfest im Hause Torlege geäußert, ich wäre ein Skunks – ein Stinktier! Ich bin jedoch ein angesehener Ingenieur, daher verträgt es sich nicht mit meiner Ehre, von einer Sekundanerin beleidigt zu werden. Mein Rechtsanwalt rät mir, Sie zu verklagen. Die Strafe wird hoch ausfallen. Wahrscheinlich fünfhundert Mark. Diese Summe würden Sie zu zahlen haben. Ich würde die Klage jedoch nicht anstrengen, wenn Sie am heutigen Donnerstag, nachmittags Punkt fünf Uhr, auf dem Hausberge mich erwarten würden. Dort können Sie ungestört Ihre Entschuldigung vorbringen. Ich werde Ihnen allerdings sagen, wie ich über Sie denke, ich werde mit meinen Ausdrücken nicht sparen. Es liegt nun in Ihrer Hand, diese Sache aus der Welt zu schaffen. Nur unter der Bedingung, daß Sie mich ernsthaft und herzlich um Verzeihung bitten, unterbliebe die Anzeige. Dieses schreibt

Ingenieur Lorenz Brunner.«

Pommerle vergaß vor Schreck das Weitergehen. Das hatte sie nun davon, daß sie einen Menschen verhöhnte, daß sie ihm einen Spitznamen gab, den er nicht verdiente. Sie sollte verklagt werden! Fünfhundert Mark würde sie bezahlen müssen.

Soviel Geld konnten die Eltern unmöglich für ihre Ungezogenheit ausgeben. »Heute um fünf Uhr zum Hausberg. – Dort wird er mich 'runterputzen. Was mache ich nur?«

Pommerle las den Brief zum zweiten, zum dritten Male. Da schlug die Turmuhr achtmal. »Himmel, die Schule beginnt!« Der Brief glitt in die Tasche.

Am heutigen Tage war Pommerle wieder einmal keine aufmerksame Schülerin. Der Inhalt des Briefes lag ihr wie ein Alp auf der Brust. Immerwährend überlegte sie, ob sie die Freundinnen von dem Entsetzlichen unterrichten solle. Doch wozu die Herzen der beiden belasten? Sie konnten ihr ja auch nicht helfen.

»Um fünf Uhr zum Hausberg. Ich muß hingehen – ich muß!«

In der Pause klang überall helles Lachen. Heute, am ersten April, wurde bald dieser, bald jener Mitschüler zum besten gehabt. Pommerle, die sonst an diesen harmlosen Späßen viel Gefallen fand, drückte sich in eine Ecke.

»Ich muß um fünf Uhr zum Hausberg, muß die Demütigung ertragen. Für fünfhundert Mark wird er wohl sehr lange reden. – Schrecklich!«

»Bist du krank, Pommerle?« fragte Ilse.

»Nein – aber gesund bin ich auch nicht. Ich glaube, mein Herz ist in Unordnung. Ich habe dort einen abscheulichen Druck!«

»Geh doch mal zum Arzt.«

»Nein – zum Hausberg«, murmelte Pommerle, aber so undeutlich, daß es Ilse nicht verstand.

Der Vormittag verlief für Pommerle recht qualvoll. Immer wieder überlegte sie, was ihr Ingenieur Brunner sagen werde. Artig und bescheiden würde sie ihn um Entschuldigung bitten. Nie wieder würde sie einem Menschen einen Spitznamen geben!

Beim Mittagessen fragten die Eltern, ob ihr etwas fehle.

»Dir steckt der Schulschluß schon in den Knochen«, lachte der Vater. »Der Abschied von der Schulbank, von den Freundinnen, das Neue, was dir dein Leben bringt. – Na – Kleines, was machst du denn für ein Gesicht?«

»Väterli, ein Nachmittagsspaziergang wird mir gut tun.«

»Sieh mal, Pommerle, was ich hier habe. Das schenke ich dir!« Damit schob Bender ein blankes Fünfmarkstück seiner Tochter zu.

»Oh«, rief sie strahlend. Aber in dem Augenblick, als sie nach dem Gelds greifen wollte, rief der Vater lachend: »April, April, das Fünfmarkstück ist aus Schokolade!«

»Ach – «, stöhnte Pommerle, »ich bin heute wahrhaftig geschlagen genug!«

»Ist es so schlimm?«

Sie nickte nur. »Dann mach nur einen längeren Spaziergang, Pommerle, der frischt dich auf.«

Am Nachmittag, als Pommerle erregt in den Mantel schlüpfte, merkte sie, daß etwas gegen ihr Bein schlug. Was war da Hartes in dem Mantelsaum? Sie fühlte den Saum ab. Etwas Rundes, Festes steckte darin. – Wie kam der Gegenstand hierher? War das vielleicht das verlorene Fünfmarkstück? Es fühlte sich genau so an.

Pommerle drückte und quetschte. Natürlich war das ein Geldstück! Als sie dann die Tasche des Mantels untersuchte, bemerkte sie, daß die Naht ein wenig aufgetrennt war. Auf diese Weise war das Geldstück zwischen Mantelstoff und Futter bis zum Saum hinabgerutscht.

Wie glücklich hätte sie sein können, wenn sie jetzt nicht zum Hausberg hinaus gemußt hätte. In ihrem Etat brauchte nichts gestrichen zu werden, alles war ausgeglichen. Aber die Freude wurde unterjocht durch die bevorstehende Begegnung mit dem »Stinktier« auf dem Hausberg.

»Alle Schimpfworte der Welt wird er über mich ausschütten, und ich muß stillhalten, denn fünfhundert Mark können meine Eltern nicht bezahlen.«

Mit schwerem Herzen machte sich Pommerle auf den Weg. Sie war sooft fröhlich und glücklich mit den Eltern, mit Jule, mit Sabine, der blinden Tochter des Tischlermeisters Reichardt, diesen Weg gegangen; heute wog ihr Herz zentnerschwer.

»Ich bin eine Sekundanerin – ein junges Mädchen, das in wenigen Tagen die mittlere Reife erhält. – Ich stehe meinen Mann in vielen Dingen – und heute muß ich mich abkanzeln lassen wie ein unmündiges Kind. – Darf nichts entgegnen, muß stillhalten wie eine Hexe, die man mit Stricken an einen Pfahl band. – Es wird eine furchtbare Prüfung sein!«

So ging Pommerle weiter. Als der Hausberg in Sicht kam, zog sie den geliebten Schnuller aus der Tasche. »›Weine nicht‹ heißt du«, schrie sie den Gummilutscher an, »ich will vor ihm nicht weinen! Das wäre das Letzte!« Dann lutschte sie an dem Pfropfen und begann bergan zu steigen.

Oben auf dem Hausberg standen Ilse Torlege und Karin Rauke. Sie mußten das Lachen unterdrücken, sie hatten das herannahende Pommerle bereits gesehen.

»Sie denkt nicht daran, daß heute der erste April ist! Sie glaubt den Schwindel«, sagte Ilse. »Wir hätten es ihr schon nach der Schule sagen sollen, ich glaube, sie macht sich Sorgen.«

»Ich bin der Meinung, Karin, Pommerle spielt Theater. An den ersten April denkt man immer. Sie will uns etwas vormachen, stellt sich daher nur so, als glaube sie an den Brief.«

Karin schüttelte den Kopf. »Nein, sie hatte ein sorgenvolles Gesicht in der Pause. Der Skunks war wirklich nicht nett zu ihr. Pommerle weiß, er hat es übelgenommen. – Still, jetzt kommt sie!«

Pommerle wagte den Kopf nicht zu heben. Von irgendwoher mußte jetzt Ingenieur Brunner auf sie zuspringen. Dann ging es los. Aber statt der dunklen Männerstimme ertönte lautes Gelächter.

»Im April, im April schickt man den Esel, wohin man will!«

Pommerle sah sich den beiden Freundinnen gegenüber. Ilse begann mit verstellter Stimme: »Ich werde meinen Rechtsanwalt nicht benachrichtigen, mein Fräulein! – Sie sind gekommen, bitten um Vergebung, und der Skunks vergibt Ihnen.«

Pommerle schaute von einer Freundin zur anderen. Kerzengerade stand eine tiefe Falte auf ihrer Stirn. »Den Brief habt ihr geschrieben?«

»April – April – April! – Na, du bist fein 'reingefallen!«

Wieder dieses fröhliche Lachen, das Pommerle ins Herz schnitt. Ilse und Karin hatten sich einen Scherz mit ihr gemacht, und sie litt seit heute früh acht Uhr Höllenqualen. An den ersten April hatte sie nicht gedacht. Die auf dem Maskenball unvorsichtig gemachte Äußerung quälte Pommerle noch immer, die Folge davon war, daß sie tatsächlich an die Echtheit des Schreibens glaubte. Brunner war in seiner Ehre gekränkt. Es schien ihr selbstverständlich, daß er Vergeltung übte.

»Hast du es wirklich geglaubt?«

»Natürlich hast du es geglaubt, sonst wärst du nicht hierhergekommen. – Pommerle, so lach doch!«

»Darüber ist nicht zu lachen«, erwiderte Pommerle, »das war ein alberner Spaß. – Da war kein Witz dabei! Das war häßlich von euch!«

»Aber Pommerle!«

»Sowas machen wahre Freundinnen nicht. Ihr kennt mich, ihr müßt wissen, daß ein von mir begangenes Unrecht monatelang an mir frißt. Es war eine Frechheit, den Ingenieur ›Stinktier‹ zu nennen – das sehe ich immer wieder ein. Er hätte ein Recht gehabt, mich auszuschelten.«

»Aber Pommerle, sei doch vernünftig!«

»Ich bin vernünftig – ihr seid albern gewesen! Ihr habt mir das Herz schwer gemacht, stundenlang bin ich in Angst und Schrecken umhergelaufen. – Das nennt ihr Freundschaft?«

»Pommerle, du bist doch sonst nicht dumm! Wir haben doch in jedem Jahre am ersten April einen Ulk gemacht.«

»Das weiß ich. – Ich habe euch auch auf unnütze Wege geschickt, aber diesmal habt ihr mir Herzweh zugefügt.«

»Herzweh?« rief Karin erschreckt. »Hast du dich vielleicht auf dem Maskenfest in Lorenz Brunner verliebt und leidest nun darunter, daß er dir zürnt?«

»Rede kein so dummes Zeug, Karin. – So, und nun gehe ich wieder heim. Ihr könnt andere noch weiter in den April schicken. Für heute will ich mit euch nichts mehr zu tun haben.«

Ilse umschlang die Freundin stürmisch. »Pommerle, so darfst du mit deiner Freundin nicht reden! Es sollte wirklich nur ein Spaß sein. Hätten wir gewußt, daß wir dich damit so schwer treffen, er wäre bestimmt unterblieben! Wie kannst du nur denken, daß dich Ingenieur Brunner verklagen will?«

»Er hätte ein Recht dazu«, beharrte Pommerle.

»Pommerle, sei wieder gut, sonst bin ich sehr traurig! Du bist doch meine liebste Freundin. Freundschaft darf keinen Knacks bekommen. – Ach, Pommerle, es tut mir ja so leid! Es sollte wirklich nur ein Spaß sein!«

Als Pommerle wieder den Kopf schüttelte, füllten sich Ilses Augen mit Tränen. »Wenn du mir böse bist, habe ich keine Freude mehr auf der Welt. – Pommerle, sei wieder lieb – ach, Pommerle – Pommerle – – « Ilse schluchzte laut auf.

Dem hielt Pommerles weiches Herz nicht stand. Schon wollte sie Ilse zärtlich an sich ziehen, da fiel ihr der Schnuller ein. Mit einem listigen Augenzwinkern holte sie ihn aus der Tasche und schob ihn Ilse in den Mund.

»Weine nicht, du scheußliches Weib! Lutsche an dem Schnuller – es ist ja alles verziehen! Langsam wird sich mein Herz wieder beruhigen!«

»Pommerle, ach, Pommerle – – «

»Du sollst den Schnuller im Munde behalten. – Ilse, nun höre mal auf zu weinen«, fuhr Pommerle beruhigend fort, »wir werden uns doch wegen des – – wegen des Herrn Brunner nicht in die Haare bekommen!«

»Dieser Skunks, dieser elende Skunks«, weinte Ilse noch einmal auf.

»Sei still«, mahnte Pommerle, »nun ist alles wieder gut. Nur wenn ihr in Zukunft Aprilscherze macht, müssen sie anständiger sein als dieser!«

»Pommerle, wir dachten wirklich – – «

»Schon gut, Karin, ich bin dir auch nicht mehr böse! Aber ihr werdet noch lange mein vergrämtes Gesicht sehen müssen. So rasch komme ich über diesen Schreck nicht hinweg. – Denkt mal, ich habe das Fünfmarkstück gefunden.«

»Wo war es?«

Pommerle berichtete. Und als ihr die Freundinnen dazu gratulierten, als die drei Arm in Arm vom Hausberg abstiegen, war die Freundschaft aufs neue gefestigt.

»Hier hast du deinen Schnuller«, sagte Ilse, »er ist wundervoll, er hat mich getröstet!« – –

Hirschberg war noch nicht erreicht, als Ilse plötzlich stehenblieb und sich niederbeugte. In das vom gestrigen Regen durchweichte Erdreich war etwas Blitzendes eingetreten, das Ilse nun herausbohrte.

»Eine Uhr – eine goldene Herrenuhr! Sie hängt an einem sogenannten Bierzipfel. – Kinder, Kinder, heute haben wir Glück!«

»April – April«, sagte Pommerle, ruhig weitergehend. »Du kannst mir heute alles Vorreden, ich glaube dir nichts mehr.«

»So bleibe doch stehen, und sieh her!«

Ilse hatte ihr Taschentuch herausgeholt und säuberte damit die Uhr. »Eine fabelhafte Uhr – echtes Gold, richtiges echtes Gold!«

Pommerle und Karin gingen ruhig weiter. »April – April!«

Ilse setzte sich in Laufschritt und wies den Freundinnen die gefundene Uhr vor. »Glaubt ihr es nun?«

»Nein«, beharrte Pommerle. »Die hast du dir von deinem Vater ausgebeten, um uns anzuführen.«

»Ich schwöre euch, bei unserer Freundschaft, daß ich diese Uhr soeben gefunden habe!«

Karin betrachtete das Fundstück; Pommerle schenkte ihm keinen Blick.

»Einmal bin ich 'reingefallen, zum zweiten Male geschieht es nicht! Vielleicht findest du noch eine Geldbörse oder einen Herrenhut.«

»Pommerle, sei vernünftig – ich habe diese Uhr aus dem Straßenschmutz aufgelesen. Sieh her, wie mein Taschentuch aussieht. Meinem Freundschaftseid mußt du glauben. Ich habe diese Uhr soeben gefunden.«

Da wurde Pommerle schwankend. Dem Freundschaftseid, so war es ausgemacht, mußte man Glauben schenken. Die drei untersuchten die Uhr genau, und Karin meinte, sie sei Kennerin von Herrenuhren. Diese goldene Uhr koste mindestens hundert Mark.

»Das gibt einen Finderlohn von zehn Prozent – also zehn Mark. Wir werden die gefundene Uhr in der Zeitung anzeigen und den Finderlohn verlangen. Jeder von uns bekommt drei Mark und dreiunddreißig Pfennig. Dafür kaufen wir Ostereier!«

»Ein feiner Zuschuß für mein Taschengeld«, jubelte Pommerle. »Werden wir aber den Finderlohn bekommen?«

»Das ist Gesetz«, meinte Ilse. »Die Anzeige muß der Verlierer natürlich auch bezahlen.«

»Freilich, das kommt mit in die Zeitung. ›Goldene Uhr gefunden, abzuholen gegen Finderlohn und Erstattung der Unkosten – –‹, ja, bei wem denn?«

Die drei überlegten. »Bei Ilse, sie hat die Uhr doch gefunden.«

»Es könnte auch ein Reinfall werden«, sagte Pommerle. »Der Verlierer liest die Anzeige nicht, und wir haben die Unkosten. Ich kann in diesem Monat schlecht Geld entbehren. Wollen wir nicht warten, ob der Verlierer eine Anzeige aufgibt?«

Der Vorschlag wurde gutgeheißen. Schon am anderen Morgen brachte Karin die Zeitung mit in die Schule, in der die Verlustmeldung stand. »Der Graslich ist es – wißt ihr, das ist der geizige Mann, der eine eigene Villa hat, der aber nie etwas spendet. Den kennen wir alle, er gönnt sich kaum die Butter aufs Brot.«

»Ja, der Graslich«, nickte Ilse. »Wenn man schon Graslich heißt, muß man auch gräßlich sein. Das ist vom Schicksal bestimmt.«

»Wenn er geizig ist, bekommen wir auch den Finderlohn nicht.«

»Kann schon sein, Pommerle, wir müssen es also noch anders anfangen, denn Finderlohn wollen wir haben.«

»Wie komme ich dazu«, brauste Ilse auf, »ein sauberes Taschentuch schmutzig zu machen? Das Waschgeld müßte er auch noch zahlen.«

»Wir werden ihm schreiben«, entschied Karin. »Der Graslich bekommt die Uhr erst dann, wenn er den Finderlohn zahlt. Das machen wir zur Bedingung.«

»Es ist unser gutes Recht«, behauptete Ilse, »ich weiß es genau von einem Bekannten, der Jura studiert. Finderlohn ist gesetzlich zu zahlen. Wir tun also kein Unrecht, wenn wir Finderlohn verlangen.«

»Also schreiben wir ihm«, sagte Karin. »In der Pause werden wir den Brief aufsetzen. Er soll uns postlagernd antworten.«

In der Pause entstand der Brief an Herrn Graslich. Er war ins Schulheft geschrieben und lautete: »Geehrter Herr Graslich! Wir haben Ihre Uhr, als wir vom Hausberg kamen, im tiefen Schmutz gefunden und sie sorgsam, auf eigene Kosten, gereinigt. Wir wissen, daß das Gesetz einen Finderlohn vorsieht und glauben daher berechtigt zu sein, Sie zu bitten, uns den Betrag von zehn Mark zuzusenden. Sie können den Geldschein in den Brief legen, den wir nach zwei Tagen auf dem Hirschberger Hauptpostamt abholen werden. Kennwort: Goldene Uhr. Sollten Sie die zehn Mark nicht senden, werden wir die Uhr zunächst behalten, bis Sie den Finderlohn zahlen. Die Finderinnen.«

Ilse Torlege schrieb daheim den Brief schön ab, dann brachte sie ihn zur Post. Graslich würde das Schreiben heute noch erhalten; morgen, spätestens übermorgen früh konnte man seine Antwort abholen.

Am nächsten Tage standen drei junge Mädchen lange vor einem Konfektladen und wählten bereits die im Schaufenster liegenden Eier aus, die sie kaufen wollten.

»Ich wollte Mütterchen eigentlich nur eins für dreißig Pfennig schenken, nun bekommt sie das große dort für eine Mark.«

»Wenn nur erst Ostern wäre«, klagte Ilse. »Im nächsten Jahr fällt Ostern so früh, da wären wir längst mit der Schule fertig. Ausgerechnet in diesem Jahr müssen wir uns noch im April auf der Schulbank herumdrücken. – Mitunter ist das Schicksal recht grausam.«

»Es ist ja bald geschafft«, tröstete Pommerle, »dann sind wir frei, und ein neues Leben beginnt!«

Am Abend, als die drei nach der Post gingen, war noch keine Antwort da. Aber am nächsten Mittag, die jungen Mädchen kamen aus der Schule und eilten sogleich zur Post, schaute der Beamte eine nach der anderen forschend an.

»Also Sie wünschen einen Brief unter dem Kennwort ›Goldene Uhr‹? Wer erwartet dieses Schreiben? Sie, Fräulein Pommerle?«

»Wir alle drei!«

»So – also alle drei!«

»Wir haben nämlich eine goldene Uhr gefunden und haben es dem Verlierer angezeigt.«

»Vielleicht fragen Sie um drei Uhr noch einmal nach dem Briefe.«

»Gut – wir sind da!«

Um drei Uhr händigte der Beamte den jungen Mädchen einen Brief aus, der die Aufschrift ›Goldene Uhr‹ trug. Sofort wurde der Umschlag aufgerissen. Ein leeres Blatt lag darin.

»Das ist arg«, sagte Karin, »jetzt bekommt er die Uhr nicht!«

»Er wird sie bekommen«, ertönte eine tiefe Männerstimme hinter ihnen. »Er wird Sie anzeigen wegen Fundunterschlagung.«

Die drei waren wie erstarrt. Ilse erkannte in dem Herrn sofort den Villenbesitzer Graslich.

»Das ist eine Verschwörung mit dem Postbeamten«, flüsterte Pommerle.

»Ich verschwinde«, erwiderte Karin ebenso leise. Sie wollte fortgehen, da vertrat ihr Graslich den Weg.

»Hiergeblieben! – Wo ist meine Uhr?«

»Sie liegt daheim«, stotterte Ilse.

»Sie werden mir sofort die Uhr aushändigen. Ich begleite Sie. – Aber sofort! – Sie berufen sich auf gesetzliche Maßnahmen. – Sie! Wissen Sie auch, was Sie getan haben? Nicht nur Fundunterschlagung ist das – das ist mehr – das ist Erpressung!«

Pommerle hatte ein Gefühl, als gieße man ihr einen Eimer eiskalten Wassers über den Rücken. Im Geiste sah sie ein schönes Schokoladenei verschwinden.

»Wenn man etwas findet«, stotterte Ilse, »so gibt – der Verlierer – immer einen Finderlohn. – Wir meinten – – «

»Ich verlange meine Uhr sofort zurück. – Es bleibt gesetzlich mir überlassen, was ich Ihnen geben will. – Kommen Sie, oder ich gehe allein zu Ihrem Vater.«

»Nein, nein«, hauchte Ilse, »ich bringe Ihnen die Uhr. – Warten Sie hier, ich bin in wenigen Minuten zurück.«

»Nein, ich komme mit Ihnen.«

Pommerle und Karin liefen draußen davon, Ilse mußte in Begleitung Graslichs heimgehen. Sie ließ ihn draußen stehen, eilte ins Haus, drückte ihm dann rasch die Uhr in die Hand und lief davon.

Am Abend klagten drei junge Mädchen über den entgangenen Finderlohn.

»Solch Geizhals!«

»Nun bekommt Mütterchen wieder nur ein Osterei für dreißig Pfennig. – Es hat nicht sollen sein und wäre doch so schön gewesen!«

Am nächsten Tage erhielt Ilse einen großen Brief. Darin lag ein Öldruckbild. Es stellte einen Knaben dar, der durch ein Fenster schaut. Im Zimmer lagen auf einem Tisch Goldstücke übereinandergeschichtet. Unter dieses Bild hatte Graslich geschrieben: »Ehrlich währt am längsten!«

Im ersten Wutanfall zerriß Ilse das Bild, später schenkte sie den beiden Freundinnen je einen Teil davon.

»Der Finderlohn«, sagte sie ärgerlich. »Vielleicht hätten wir recht bekommen, wenn wir einen Juristen befragt hätten. Ich weiß es genau, daß uns ein Finderlohn zusteht.«

»Wir wollen den Zwischenfall vergessen«, entschied Pommerle. »Wenn ein Mensch geizig ist, kann man eben nichts machen. Wir streichen diesen Vorfall aus unserem Leben und – sind wieder froh.«

»Aber einen Brief schreibe ich in meinem ganzen Leben nicht mehr«, sagte Karin. »Die beiden letzten haben uns viele Aufregungen gebracht. Der Brief an dich, Pommerle, und der Brief an den Geizhals!«

»Ich habe es immer gesagt, Briefe sind eine fürchterliche Erfindung! Ich schreibe entsetzlich ungern. Man sollte das Briefschreiben gänzlich abschaffen«, rief Ilse.

Aber Pommerle schüttelte dazu den blonden Kopf. »Briefe sind etwas sehr Schönes. Wenn das Briefeschreiben abgeschafft würde, bekäme ich keinen Brief von Jule, keinen von Olferts und von anderen lieben Menschen. – Ich bekomme Briefe sehr gern und freue mich jedesmal, wenn mir jemand schreibt!« –

Die letzte Schulwoche brach an. Ohne Bangen sah Pommerle dem Zeugnis entgegen. Sie wußte, daß ihre Versetzung sicher war; sie würde fast in allen Fächern eine gute Nummer bekommen. Es freute sie, daß wahrscheinlich auch Ilse und Karin das Zeugnis der mittleren Reife erhalten würden. Wenn man später auch auseinanderkam, wollte man doch weiterhin treue Freundschaft halten, die fürs Leben dauern sollte.

Eines Nachmittags erhielt Pommerle einen Brief von unbekannter Hand. Sie erinnerte sich sofort jenes Schreibens vom ersten April, das ihr sehr viel Unbehagen bereitet hatte. Auch jetzt, als sie den Brief öffnete, empfand sie eine seltsame Unruhe.

»Liebes Fräulein Pommerle! Der Unterzeichnete meint es gut mit Ihnen, darum hält er es für richtig, Sie vor einigen Menschen zu warnen, denen Sie großes Vertrauen entgegenbringen. Sie glauben zwei treue Freundinnen zu haben; leider ist dem nicht so! Ihre Freundinnen meinen es nicht gut mit Ihnen und schwärzen Sie überall an. Der Unterzeichnete würde derartiges gewiß nicht schreiben, wenn er nicht Beweise in Händen hätte. – Sie sind jung, Sie kennen die Falschheit der Menschen noch nicht; ich warne Sie also vor Ihren Freundinnen. Man kann Ihnen nicht vergessen, daß Sie ein kleines Fischermädchen sind, das aus Barmherzigkeit aufgenommen wurde. Sie gehören eigentlich gar nicht in die Kreise, in denen Sie sich bewegen. Das hörte ich von Ihren Freundinnen. Der Unterzeichnete möchte Ihnen Erniedrigungen ersparen. Sie werden bald ins Leben hinaustreten. Das ist die beste Gelegenheit, langsam mit Ihren Freundinnen zu brechen. – Ich könnte Ihnen noch vieles Schändliche erzählen, hoffe aber, daß dieser Hinweis genügt, um sich von diesen angeblichen Freundinnen zu trennen. –

Einer, der es gut mit Ihnen meint.«

Im ersten Augenblick war Pommerle starr über dieses Schreiben. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf das Blatt. »Das ist eine Gemeinheit! Ilse und Karin sind meine Freundinnen, sie meinen es gut mit mir! Wer ist der abscheuliche Briefschreiber?«

Sie überlegte angestrengt. Man machte ihr das Fischermädchen zum Vorwurf, das aus Barmherzigkeit im Hause Benders aufgenommen worden war. Schon einmal waren ihr ähnliche Worte gesagt worden. Damals war es Onkel Arnulf gewesen, der Bruder ihres Vaters; sein Sohn Felix hatte auch nicht anders gesprochen.

Kam der Brief von diesen Verwandten? Liegnitz war der Poststempel. Es war nicht gar zu weit von Breslau entfernt. Felix war in Breslau beruflich tätig. So war es möglich, daß er nach dort einen Ausflug gemacht und dabei den Brief aufgegeben hatte. Er kannte Ilse und Karin nur flüchtig. Was hatten ihm die beiden Freundinnen getan, daß er so häßlich von ihnen sprach?

»Frechheit«, murmelte Pommerle, »schade, daß ich dem Briefschreiber nicht antworten kann.«

Je öfter sie den Brief las, um so mehr geriet sie in Zorn. Sie schleuderte ein Buch auf den Fußboden.

»Pommerle! – Was ist denn los?« Frau Bender schaute aus dem Nebenzimmer zu der Tochter hinein.

Pommerle nahm das Buch wieder auf und rief erneut: »Eine Frechheit ist es! Ich glaube nichts, gar nichts!«

»Was hast du schon wieder?«

Das junge Mädchen reichte den Brief der Mutter. »Wer hat diese Lumperei geschrieben, Mütterchen?«

Auch Frau Bender kam für Sekunden auf den Gedanken, daß es vielleicht ihr Schwager Arnulf oder dessen Sohn gewesen sein könne. Dann verwarf sie ihre Idee rasch wieder. Das konnte nur jemand sein, der Pommerle von den Freundinnen reißen wollte. Die Tochter erzählte manchmal von einer Mitschülerin, die sich an sie herandrängte. Jene Irma Bodenstetter hatte sich des öfteren von der unschönsten Seite gezeigt. Außerdem war dieser Brief von einer Frauenhand geschrieben.

»Mütterchen, du glaubst doch nicht, daß Ilse und Karin schlechte Freundinnen sind?«

»Nein, mein Kind, das glaube ich nicht!«

»Sie haben zwar einmal einen sehr dummen Streich mit mir gemacht, aber nicht geahnt, daß ich mich darüber so sehr ärgern könnte. – Nein, von Ilse und Karin lasse ich nicht!«

»Das sollst du auch nicht, Pommerle.«

»Was mache ich mit diesem häßlichen Brief?«

Frau Bender knüllte das Schreiben zusammen und warf es in den Papierkorb. »Da gehört es hin, mein liebes Kind! – Briefe, die keine Unterschrift tragen, brauchen keinen anderen Platz. Anonyme Briefe sind ein gefährliches Gift, das man nicht an sich herankommen lassen darf. Beherzige meine Worte für dein ganzes Leben! Ein anonymer Briefschreiber ist ein Feigling, der nicht wert ist, daß man sein Geschreibsel beachtet. Ein Mensch, der nicht den Mut besitzt, offen und ehrlich seine Meinung zu sagen, seine Ansichten zu vertreten, seine Behauptungen mit seinem Namen zu decken, will nur Zwietracht säen. An anonymen Behauptungen ist fast niemals ein Wörtchen Wahrheit! Oder es wird eine Kleinigkeit aufgebauscht, die durch eine ehrliche Aussprache sofort wieder aus der Welt geschafft werden könnte. – Dieser Briefschreiber hier ist von schlechtem Charakter und nicht wert, daß du dich über sein Schreiben aufregst.«

»Wer kann es nur sein, Mütterchen? Wer hat Freude daran, mir meine Freundinnen zu nehmen?«

»Mach dir den Kopf nicht heiß, Pommerle! Du bist überzeugt, daß Karin und Ilse treu zu dir halten. Du tust gut, ihnen gegenüber von diesem Briefe nichts zu sagen. Vergiß ihn.«

»Mütterchen, ich hätte gern gewußt, wer der Verfasser ist. – Kann man denn gar nichts machen?«

Frau Bender überlegte einen Augenblick. »Wenn sich Gelegenheit bietet, kannst du einmal in deiner Klasse davon sprechen, daß es feige und jämmerlich ist, wenn man Briefe ohne Namensunterschrift absendet. Daß solche Briefe von keinem anständigen Menschen ernst genommen werden.«

Pommerles Gesicht rötete sich. Sie erinnerte sich daran, daß sie erst kürzlich mit Ilse und Karin wegen der goldenen Uhr auch einen Brief ohne Namensnennung geschrieben hatte. Das sollte bestimmt nicht wieder geschehen.

»Warum soll ich das in der Klasse sagen, Mütterchen?«

»Weil ihr alle bereits in dem Alter seid, um zu erkennen, daß anonyme Briefe eine gewöhnliche und unschöne Handlung darstellen. Manch ein junger Mensch glaubt, mit einem anonymen Schreiben eine Heldentat zu vollbringen. Ihm wird es nicht klar, daß er sich deswegen bis in die tiefste Seele schämen muß. Da du heute erkennen mußtest, was ein anonymer Brief für Unheil anrichten könnte, soll es für deine Klassenkameradinnen ein Freundschaftsdienst sein, wenn du ihnen einmal einen kleinen Vortrag über solch eine Schlechtigkeit hältst.«

»Ja, Mütterchen, das will ich tun!« Pommerle kam gar nicht auf den Gedanken, daß die Mutter eine bestimmte Absicht damit verband. Je länger sie über das Schreiben nachdachte, um so klarer wurde es ihr, daß nur Irma Bodenstetter aus Eifersucht den Brief aufgesetzt haben könne. Ihr Verdacht wurde am nächsten Tage bestätigt, als die bei Benders tätige Waschfrau erzählte, Bodenstetters wären am vorigen Sonntag in Liegnitz gewesen. Dort hatte Irma wahrscheinlich den Brief aufgegeben.

Pommerle mußte noch lange an den häßlichen Brief denken. Schon am nächsten Tage sprach sie in der Pause davon. Es regnete stark, die Schüler mußten in den Klassenzimmern bleiben. »Ja«, rief Pommerle laut, »ich will es gestehen, ich habe solch einen anonymen Wisch erhalten, und ich verachte den Schreiber! Jeder anständige Mensch lehne es also ab, Briefe ohne Unterschrift abzusenden. Bekommt einer aber solch einen Fetzen, werfe er ihn mit Hohngelächter in den Papierkorb. – Das ist der richtige Platz! Ein Feigling ist, wer anonyme Briefe schreibt. Jeder Anständige wendet ihm den Rücken.«

»Stimmt«, tönte es von vielen Seiten.

Pommerle schaute sich im Kreise um. Da siel ihr Blick zufällig auf Irma, die sich mit ihren Büchern zu schaffen machte. Ihr Gesicht war wie in Blut getaucht. Einen Augenblick stutzte Pommerle. – Das war die Bestätigung. Irma hatte den Brief geschrieben.

Sollte sie die Schulkameradin zur Rede stellen? Geradezu fragen, ob das Schreiben von ihr käme? – Nein! In wenigen Tagen ging man auseinander. Wenn Irma den Brief verfaßt hatte, so mochte sie sich jetzt bis in ihre tiefste Seele hinein schämen. Auf diese Weise erreichte man Pommerles Freundschaft nicht!

»Das war meine Meinung über einen anonymen Brief«, rief sie laut. Dann legte sie den einen Arm um Ilses Schulter, den anderen um Karin, schaute hinüber zu Irma und schloß mit den Worten: »Außerdem kann keine gehässige Behauptung, keine Verleumdung eine wahre Freundschaft zerstören!«


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