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In Peking

Im Morgengrauen schritten Fung-tu, Gerhardt und Jan, die man in chinesische Gewänder gesteckt hatte, nach des Kaufmanns Dschunke und verschwanden an deren Bord.

Später erschienen die beiden Töchter Fung-tus und seine Diener, das Fahrzeug entfaltete seine Segel und fuhr unbelästigt den Peiho hinauf.

Die Fahrt den Peiho und den Kaiserkanal entlang war nicht uninteressant. Der letztere gehört zu den großartigsten Wasserbauwerken der Welt. Leider war er, wie ein aufmerksamer Reisender bemerken mußte, im Verfall begriffen. Gerhardt, der an Bord der Dschunke alsbald seine Chinesentracht abgeworfen hatte, sah mit großem Interesse auf alles, was ihn umgab. Das durchweg ebene Land war mit einem Fleiße und einer Sorgfalt bebaut und bewässert, die europäische Bodenkultur weit hinter sich ließ. Man fuhr wie durch einen wohlgepflegten Garten. Reinliche, von Fruchtbäumen umgebene Dörfer, Begräbnisplätze von Zypressen oder Trauerweiden umstanden, hie und da der hochragende Turm einer Pagode brachten reizvolle Abwechslung in die Landschaft, die in Form einer ausgedehnten Ebene sich bis nordwärts Peking, bis zum Gebirge hinzieht. Reis, Mais, Früchte und Gemüse aller Art bedeckten den Boden und zeugten von dessen Fruchtbarkeit und sorgfältiger Düngung. Der Peiho war belebt von Dschunken und Booten aller Größe, die bald mit dem Winde gingen, bald gezogen von munter singenden Kulis stromauf oder stromab sich bewegten.

Es war eine neue, fremdartige Welt, in die der junge Seemann vom Deck seines Fahrzeugs hineinblickte.

Die Leute an Bord des Fahrzeugs, die in Diensten Fung-tus standen, hatten an den Fremden, von denen Jan noch immer seinen Chinesenkittel trug, keinen Anstand genommen. Was ihr Herr tat, war gut.

Am achten Tage nach ihrer Ausfahrt von Tientsin langten Fung-tu, seine Kinder, seine Gäste und die Hausdiener vor Peking an, nachdem sie den Kaiserkanal verlassen und den Weg von Tschusau zu Wagen fortgesetzt hatten.

Mit Staunen sah Gerhardt endlich die gewaltige Mauer der Residenz vor sich, deren Tore durch feste in chinesischem Geschmack ausgeführte Vorwerke und Verteidigungstürme geschützt und überkrönt sind.

Endlose Reihen von Kamelen, zweirädrigen Karren und Saumtieren bewegten sich im Geleite von Landleuten den Toren zu, um Einlaß in die Stadt zu gewinnen, deren Eingänge von Soldaten und Beamten bewacht waren.

Fung-tu hielt es für geraten, durch das Tor der »Östlichen Bequemlichkeit« in die Stadt einzutreten, was auch mit geringen Schwierigkeiten geschah.

Der Anblick, der sich hier dem Auge bot, war großartig. Links lag die Chinesenstadt, rechts die mit Türmen und Bastionen aus Sanddünen emporragende finstere Umfassungsmauer der Tatarenstadt, die sich vierzig Fuß hoch erhebt.

Gerhardt glaubte sich nach dem alten Ninive oder Babylon bei dem Anblick dieser gewaltigen, sechsunddreißig Fuß breiten, von Türmen überragten Ringmauer versetzt.

Ausgedehnte, unangebaute sandige Flächen, durch die eine feste, aber übel unterhaltene Straße zog, stimmten schlecht zu dem Bilde einer großherrlichen Residenz. Hie und da begegneten ihnen halbnackte Männer, die ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt trugen und mit einem kurzen Schwert bewaffnet waren, an dessen Griff ein kleiner roter Beutel hing.

Gerhardt bemerkte nicht, wie sehr Fung-tu erschrak, als er diese räubermäßig aussehenden Gestalten erblickte.

Bald waren die Reisenden in den engen Straßen der Chinesenstadt, die ein dichtes Gedränge von Menschen und Lasttieren belebte und Haus für Haus Kaufläden oder Handwerksbuden zeigte.

Durch all den Wirrwarr, fast betäubt von dem Geschrei der Lastträger, Kameltreiber, der Käufer und Verkäufer, erreichten sie den eine Pagode umgebenden Platz, wo Fung-tus Heim lag.

Gerhardt wurde ein luftiges nach dem Hofe zu liegendes Zimmer angewiesen, während man Jan in der Nähe der Küche einquartierte, was ihm durchaus nicht unangenehm zu sein schien, besonders da der Küche ein sehr appetitlicher Bratengeruch entstieg.

Kaum hatte sich Gerhardt, der seinen Koffer mitgeführt hatte, umgekleidet, als ein Diener erschien, der ihn im Pigeonenglisch in den Speisesaal lud. Als der junge Seemann diesen betrat, fand er Fung-tu in einer sehr ernsten Stimmung.

»Ich würde Sie in meinem Heim mit größerer Freude bewillkommen, Mister Gerhardt,« sagte der Chinese, »wenn mich nicht ernste Sorgen erfüllten.«

Fragend sah ihn der junge Mann an.

»Ich habe soeben aus sehr guter Quelle erfahren müssen, daß wir uns in Tientsin über die Stimmung, die hier nicht nur bei einem Teile der Bevölkerung, sondern teilweise auch am Hofe gegen die Fremden herrscht, sehr getäuscht haben,« sagte er niedergeschlagen. »Selbst der Flüchtling, den Sie an Bord brachten, war nicht genügend über die Stimmung unter den mächtigsten Personen hier unterrichtet; die Brüder von der ›Starken Hand‹ werden von ihnen unterstützt, statt daß man sie vernichtet.«

»Aber Ihr Kaiser soll doch den Fremden wohlgesinnt sein und sogar Reformen planen.«

»Ganz recht,« erwiderte Fung-tu. »Kwang-sü, der Sohn des Himmels, meint es gut, aber er ist kränklich und machtlos gegen die Todfeinde der Fremden. Die Machtverhältnisse liegen leider so, daß ich für die Fremden fürchte, daß ich sehr bedaure, Sie mit hierhergebracht zu haben.«

»Aber wenn Sie sogar hier in der Hauptstadt, wo durch das Völkerrecht geheiligte Gesandte residieren, etwas für die Fremden fürchten – dann,« fuhr er stockend fort, »ist ja mein armer Bruder in noch gefährlicherer Lage.«

»Ich weiß nicht, wie nahe oder wie groß die Gefahr ist, die die Fremden hier bedroht, ich weiß nur, daß sie vorhanden ist. Eine mächtige Strömung ist gegen die Europäer gerichtet. Vielleicht gelingt es Ihren Gesandten, sie noch abzulenken.«

»Mir sind die chinesischen Verhältnisse vollständig fremd, doch habe ich Ihr Volk immer für ein äußerst friedliches gehalten.«

»Sie müssen unterscheiden zwischen dem eigentlichen Chinesen, der in der Tat friedlicher Natur ist, und dem Mandschu, dem Tataren, welchem Stamme das Kaiserhaus, die großen Mandarinen und die Bannertruppen angehören. Der eigentliche Chinese ist den Mandschu wenig gewogen, aber er fürchtet sie auch. Wäre der Kampf Hungs vor fast vierzig Jahren siegreich für seine Sache beendet worden, stände China heute anders da. Es stand indessen nicht im Schicksalsbuch geschrieben,« setzte er seufzend hinzu, »der große Drache hat gesiegt und die Taipings wurden niedergeworfen.«

»Aber mein Bruder, mein Bruder, ich sorge mich um meinen Bruder.«

»Er wird in den Bekennern seiner Lehre treue Freunde finden – ich glaube, Sie dürfen seinetwegen ruhig sein.«

»Aber Sie sagen mir das nicht alles ohne Grund, Herr Fung-tu; ist für den Augenblick etwas zu besorgen?«

Nach einigem Schweigen sagte der Chinese: »Für den Augenblick? Nein. Aber ich selbst bin als Fremdenfreund bekannt und würde Sie bei einem Ausbruch der Volksleidenschaft nicht schützen können.«

»Das klingt alles sehr ernst. Was wäre also da zu tun?«

»Zunächst wäre die größte Vorsicht bei Ihrem öffentlichen Erscheinen zu beobachten.«

»Aber, mein werter Gastfreund, ich kann mich doch unmöglich hier einschließen.«

»Das sollen Sie auch nicht, aber Sie müssen sich wahren, den Fremdenhaß, der so überraschend gewachsen ist, für Ihre Person herauszufordern. Sie haben in Tientsin eine Probe gesehen, wie leicht man den Eingeborenen verletzen kann.«

»Aber daß man in Tientsin so wenig von der Stimmung hier wußte?«

»Sie vergessen die große Entfernung, die Schwierigkeit des Verkehrs und die Bemühung der Regierung, alles in rosigem Lichte erscheinen zu lassen. In europäischen Kreisen dort glaubte man, den Chinesen durch die Kriegsschiffe und die Schutzwachen der Gesandtschaften genügend imponiert zu haben, und auch in den Kreisen, in denen ich mich bewegte, war man nicht genügend von der Stärke der Boxerbewegung unterrichtet. Hier sieht sich alles anders an, und trotzdem fürchte ich, daß auch die Europäer hier sich durch die Versicherungen der Regierung täuschen lassen.«

»Und ich hoffe, Sie sehen zu schwarz, Herr Fung-tu.«

»Möge Ihre Hoffnung nicht täuschen, ich will mich gern geirrt haben.«

»Fürchten Sie denn Gefahr für mich, wenn ich ausgehe?«

»Sie haben von den Chinesen nichts zu fürchten, auch von den Mandschu kaum, die Gefahr droht nur von den Boxern.«

»Ich werde mich noch heute bei der Gesandtschaft melden.«

»Ich würde das bis morgen aufschieben. Wir wollen uns erst gehörig ausruhen. Doch jetzt habe ich gesagt, was ich zu sagen mich verpflichtet hielt, und nun lassen Sie uns wohlgemut speisen.«

Trotzdem Fung-tus Mitteilungen Gerhardt besorgt gemacht hatten, mehr um seinen Bruder als um sich selbst, speiste er doch mit dem besten Appetit, und wie die Diener dem Hausherrn berichteten, hatte Jan in der Küche Wunderwerke im Vertilgen von Fleischspeisen vollbracht, was ihm ein dauerndes Andenken bei der Dienerschaft sicherte. Mit grenzenlosem Staunen hatte man seinen Leistungen mit angewohnt.

Gerhardt war von innerer Unruhe getrieben, und da ihm Fung-tu versicherte, daß er nichts zu fürchten haben würde, wenn er sich auf die Rolle eines bescheidenen Zuschauers beschränke, beschloß er, einen Gang durch die Stadt zu machen.

Fung-tu gab ihm einen seiner Diener mit, der sich im Pigeonenglisch verständigen konnte, und Jan schloß sich selbstverständlich an. Der Koch trug noch sein chinesisches Kostüm, in dem er sich ganz behaglich vorkam. Da die schwarzseidene Mütze sein Haar bedeckte und man ihm einen falschen Zopf angeheftet hatte, den übrigens Chinesen, deren Haarwuchs mangelhaft ist, oft tragen, sein feistes Gesicht auch bartlos war, konnte er dem oberflächlichen Beobachter recht gut als Chinese gelten.

Für alle Fälle hatte Gerhardt seinen Revolver eingesteckt.

Sie schlenderten durch einige Straßen der Chinesenstadt, doch fand Gerhardt in deren Enge, dem Gedränge nur wieder, was er in dem größeren Tientsin schon gesehen hatte. Auch wurden sie wenig beachtet. Als sie sich aber einem Tempel näherten, sahen sie auf dessen Stufen halbnackte kräftige Bursche sitzen, deren roter Turban auffiel, auch waren die Leute bewaffnet.

Von diesen Menschen wurde Gerhardt mit schlecht verhehltem Hasse angesehen, auch wurden Worte in ihrer Mitte laut, die den Klang von Drohungen hatten.

siehe Bildunterschrift

Es waren Leute von der »Starken Hand«; sie stießen laute Drohungen aus.

Doch Gerhardt schritt ruhig dahin, ohne ihrer zu achten. –

»Wat waren dat vor Kirls mit die rote Turbans, Stürmann?«

Gerhardt fragte den Diener Fung-tus nach den Leuten.

»Das sind Leute von der ›Starken Hand‹, Herr,« erwiderte dieser ängstlich, »nicht gut, ihnen begegnen.«

Er verschwieg, daß sie Gerhardt nachgerufen hatten: »Für dich ist das Messer schon bereit, rothaariger Teufel.«

Gerhardt gab so gut er konnte dem Koch Auskunft über die banditenmäßigen Gestalten.

»Dat sin böse Brüders, Stürmann, ick heww dat all an die falschen Oogen siehn. Ick wolld, ick wer widder ahn Bord.«

Sie hatten die Chinesenstadt verlassen und näherten sich dem massigen Tore der Tatarenstadt. Hier hielten Mandschutruppen Wache, eine zwar nicht übel uniformierte, aber unkriegerisch aussehende Schar, deren Mitglieder rauchten und sich des Fächers bedienten, während sie müßig umherstanden oder -lagen.

Gerhardt gewahrte nicht ohne Erstaunen, daß die Soldaten mit Hinterladern neuer Konstruktion bewaffnet waren. Doch ebensowenig imponierend wie die Leute sahen die Waffen aus, die zerstreut umherstanden. Man starrte Gerhardt an, ließ ihn aber unbelästigt eintreten.

Hier in der Tatarenstadt herrschte Schweigen. Niedrige Häuser mit breiter Front, wunderlichen Vorbauten und mit reicher Schnitzerei verzierten Eingängen faßten die Straße ein; wenig Menschen waren zu sehen. Hier hausten die Staatsbehörden, die hohen Mandarinen, hier residierten die Gesandtschaften. – Die Sänfte eines vornehmen Chinesen, einer hochmütig dreinblickenden Mandschufrau, einige tatarische Reiter und demütig dahinschreitende Kulis begegneten ihnen. Gerhardts Blick fiel auf die französische Flagge, die sich über dem Eingang eines stattlichen Gebäudes erhob; hieran und an dem Wappenschild erkannte er die französische Gesandtschaft. Daneben lag ein französisches Gasthaus, das Hotel Tallieu, gleich dem Gesandtschaftsgebäude das ehemalige Heim eines chinesischen Großen. Gerhardt hatte schon in Tientsin von diesem trefflichen Unterkommen für Europäer gehört.

Vor dem Eingang der französischen Gesandtschaft standen französische Soldaten Schildwache, in dem Hotel daneben konnte man flüchtig die Uniformen einiger fremdländischen Offiziere wahrnehmen. Gerhardt schritt die Straße der Gesandtschaften, so genannt, weil in ihr sich die Mehrzahl der europäischen Gesandten niedergelassen hatte, entlang, und erblickte zu seiner großen Freude bald die deutsche Flagge und sah Marinesoldaten unter ihr Wache halten.

Er schritt auf diese zu und fragte den Posten, ob einer der diensttuenden Beamten zu sprechen sei?

»Sie treffen jedenfalls einen der Herren Sekretäre in den Bureaus,« war die Antwort.

Obgleich Gerhardt sich vorgenommen hatte, erst am andern Tage auf der Gesandtschaft vorzusprechen und sich zu melden, konnte er doch nicht widerstehen und ging, der Anweisung der Schildwache folgend, über einen großen Hof, wo in niedrigen aber festen Gebäuden die Kanzleien der Gesandtschaft lagen.

Er traf dort einen älteren der untergeordneten Beamten, der schon unter Herrn von Brandt in der Gesandtschaft gedient hatte, und ihn freundlich empfing.

Gerhardt sagte dem Beamten, daß ihn der Wunsch nach Peking führe, von hier aus seinen Bruder in der Nähe von Lao-tschi zu besuchen, und daß er die Absicht habe, zu diesem Zwecke die Hilfe der Gesandtschaft in Anspruch zu nehmen.

»Sehr wohl,« sagte der alte Herr, »diese wird Ihnen gewiß zu teil werden, Herr Gerhardt, obgleich Sie, was Ihren Zweck betrifft, zu keiner günstigen Zeit hierhergekommen sind.«

»Fürchten Sie Schwierigkeiten für mich?«

»Ich fürchte, Sie werden auf solche stoßen. Ich lebe nun seit länger als zwanzig Jahren in China und darunter fünfzehn hier in Peking, und wenn wir auch daran gewöhnt sind, daß die hochmütigen Gelben auf uns Barbaren von oben heruntersehen, so bin ich doch in all dieser Zeit keinem so dumpfen Haß im Volke begegnet, wie er uns jetzt entgegentritt. Unser Gesandter, der auch unter Herrn von Brandt hier schon der Gesandtschaft angehörte und vorzüglich Chinesisch spricht, hegt die schlimmsten Befürchtungen; ich glaube, wir gehen schlimmen Zeiten entgegen und eine Reise in das Land hinein wird sich zunächst kaum tun lassen.« Dies schlug Gerhardts Hoffnungen sehr nieder.

»Indessen, kommen Sie morgen wieder, ich werde Sie anmelden und Sie können dann einen der Herren Attachés, möglichenfalls auch Herrn von Ketteler selbst sprechen. Sind Sie bei Tallieu abgestiegen?«

Gerhardt sagte ihm, daß er der Gastfreund eines chinesischen Kaufmanns sei und bei ihm in der Chinesenstadt wohne, in Gesellschaft eines Schiffsgenossen.

»Ich würde Ihnen raten, bei Tallieu Wohnung zu nehmen, Herr Gerhardt. Ihr Fung-tu mag ein ehrlicher Mann sein und es gut mit Ihnen meinen, als Fremdenfreund aber wird er wenig Einfluß auf seine Landsleute haben. Ist er vielleicht Christ?«

»Ich glaube nicht.«

»Dann droht ihm keine Gefahr, wohl aber werden die chinesischen Christen von ihren Landsleuten noch mehr gehaßt als wir. Haben Sie Begleitung bei sich?«

»Ja, Jan, den Koch meines Schiffes und einen Diener Fung-tus.«

»Nun gut, Herr Gerhardt, kommen Sie morgen wieder her und überlegen Sie sich die Sache mit dem Umzug zu Tallieu. Er ist ein feiner Franzose und seine Frau, eine Amerikanerin, eine ganz wundervolle Dame.«

Er verabschiedete Erich Gerhardt herzlich.

Dem war doch das Herz schwer, als er die Gesandtschaft verließ, denn nach allem, was er sah und hörte, stellten sich seinem sehnlichen Wunsche, seinen Arnold zu erreichen, große Schwierigkeiten entgegen. Er ging mit seinen Begleitern langsam der geheiligten Stadt der Residenz des Kaisers zu, um diese zu sehen. Bald erblickte er auch deren gewaltige von Türmen überragte Mauer, über welche die Spitzen einiger Pagoden oder Glockentürme zu sehen waren, deren glänzende Ziegel im Sonnenstrahle leuchteten. Sonst sah er nur chinesische Soldaten an dem Tore, von denen einige Uniformen mit weißen Querstreifen trugen: die Tigergarde des Kaisers.

Während er noch stand und auf das massige Tor schaute, durch das fortwährend Leute ein und aus gingen, Kaufleute, Diener, Reiter oder in Sänften getragene Herren, erblickte er in einer derselben, die von vier Kulis getragen wurde und von einigen Dienern umgeben war, ein jugendliches Gesicht, das ihm auffiel, doch kaum war dies geschehen, als dieses Gesicht schon hinter einem Fächer verschwand. Gleich darauf war die Sänfte vorüber.

Er gewahrte nicht, wie in einiger Entfernung der Herr der Sänfte einen der ihn begleitenden Diener anrief und diesem einen Befehl erteilte, und noch weniger fiel ihm auf, daß dieser Diener ihn fortan fest im Auge behielt und ihm und seinen Begleitern verstohlen folgte.

Auf Gerhardts Wunsch führte ihn Fung-tus Diener nach dessen Heim zurück, immer gefolgt von dem verstohlenen Beobachter, der erst umkehrte, als er Gerhardt in Fung-tus Haus eintreten sah.

Der sorgenvolle Hausherr, der ihn mit aller Freundlichkeit empfing und mit ihm zu Abend speiste, vermochte Gerhardts trübe Gedanken nicht zu verscheuchen.

Dieser sagte ihm von seinem Besuch auf der Gesandtschaft und den schlechten Aussichten für seinen eigentlichen Reisezweck, die ihm dort eröffnet waren, und Fung-tu vermochte nicht zu widersprechen, wenn er auch versprach, sein Bestes zur Erfüllung seiner Wünsche zu tun und diese durchaus nicht als aussichtslos hinstellte.

Gerhardt suchte sein Lager und schlief sehr unruhig. Als er am andern Morgen erwachte, sein mit Papierscheiben verklebtes Fenster öffnete und in den geräumigen Hof hinabschaute, in dem auch die Küche lag, sah er seinen Jan vor sich, der behaglich rauchte; gefrühstückt mußte er schon haben.

Mit Teilnahme schaute der Koch zu, wie einem der Diener von einem Barbier, die außerordentlich zahlreich in China sind, der Schädel glattrasiert wurde, während ein andrer neben ihm sich seinen dunklen Zopf fettete und flocht.

Zwei andre Diener standen in der Küchentür und lauschten der Rede eines dritten, der lebhaft sprach und gestikulierte, während er dann und wann einen seltsamen Blick auf Jan warf.

Ohne diese Blicke wäre das Bild, freilich ein chinesisches Bild, unendlich friedlich gewesen, denn Jan saß da und sein feistes Gesicht strahlte in Gutmütigkeit; auch Fung-tus Leute zeigten die Ruhe gutgenährter Diener und schienen mehr mit Neugierde als Erregung dem feurig Redenden zu lauschen, der in seinem ganzen Wesen etwas Agitatorisches hatte.

Gerhardt sah einige Minuten dem fremdartigen Treiben unten zu und rief dann hinab, man sollte ihm Tee bringen.

Man verstand ihn.

Die Diener verschwanden in der Küche, auch der Fremde entfernte sich eilig, und Jan rief vergnügt hinauf: »Gun Morgen, Stürmann, all gaud tau wege?«

»Ganz gut. Kommen Sie ein bißchen herauf, Jan.«

»Jawoll, ick kam.«

Mit ihm erschienen zwei Diener mit chinesischen Tassen, Tee und heißem Wasser, Gebäck, Eiern und kaltem Geflügel.

Gerhardt hatte schon gelernt, wie die Chinesen den Tee bereiten. Er legte etwas von den Teeblättern in das innere runde Gefäß, worauf dann kochendes Wasser gegossen wurde, und der Tee war fertig.

»Halten Sie mit, Jan?«

»Ick heww zwar schon 'n beeten eeten, arwer wenn Sei dat Spaß makt, leiwe Stürmann –?«

Und schon setzte er sich und griff herzhaft zu, während die Chinesen aufmerksam bedienten und dem Koch, dessen Appetit ihnen so sehr imponierte, bewundernde Blicke zuwarfen.

Als Gerhardt sein Frühstück beendet hatte, schickte er sie fort.

»Nach allem, was ich hier höre, Jan, sind wir nicht ganz zur rechten Zeit hierhergekommen.«

»Wo so? Ick bin all taufreden mit de Lüd, blot man verstahn kann ick dat tsching, tsching, king, king nich. Awer gaud koken künnen die Lüd, dat mut ick seggen.«

»Ja, hier im Hause sind wir gewiß gut aufgenommen, aber wie Fung-tu mir sagte und wie ich auf der Gesandtschaft hörte, sind die Europäer gegenwärtig nicht gut bei den Chinesen angeschrieben.«

»Wulld wi all wedder afgahn, Stürmann? Awer ick denk', in Tientsin hewwen sei uns ook in Magen wegen den chinesischen Herrn, den wi ahn Bord bracht hewwen.«

»Wahrscheinlich wohl, aber es dürfte ihnen doch schwer werden, die beiden Bootsleute zu ermitteln, die der Hafenpolizei eine Nase drehten, das macht mir nicht große Sorge. Viel größere Sorge habe ich um meinen Bruder, der weit von hier auf dem Lande lebt.«

»Is hei krank?«

»Ich hoffe nicht, aber es wird schwer werden, ihn zu erreichen. Wir sind hier für den Fall, daß man Gewalttätigkeiten gegen die Europäer beabsichtigt, durch die Gesandtschaft geschützt, aber mein armer Bruder?«

»Em ward de leiwe Gott all helpen, Stürmann.«

»Wir wollen es hoffen. Begleiten Sie mich hernach nach der Gesandtschaft, Jan?«

»Seker, Herr.«

»Wenn man uns dort keine Unterstützung gewähren kann, so werde ich wohl meine Absicht, meinen lieben Bruder aufzusuchen, aufgeben müssen,« sagte er mit einem Seufzer.

Fung-tu kam, um sich nach seines Gastes Befinden zu erkundigen. Der Kaufherr konnte leider keine guten Nachrichten mitteilen, er hatte vielmehr in Erfahrung gebracht, daß die chinesischen Christen in großer Besorgnis seien, doch vermochte er Genaueres nicht zu sagen. Mit einiger Bitterkeit setzte er hinzu: »Hätten die Europäer vor vierzig Jahren Hung, den Tien-te, nicht niedergeworfen, so brauchten sie heute nicht die Ränke der Fremdenfeinde zu fürchten.«

»Wir Deutschen waren gewiß daran unschuldig.«

»Ich weiß es wohl, es waren die Franzosen und Engländer. Wir hatten stets Sympathie für die Deutschen, die unser Heer und unsere Flotte reorganisierten; euer Landsmann, General Hanneken, hat tapfer gegen die Japaner mitgefochten. Glauben Sie mir, es wird bei uns nicht besser, ehe nicht der Enkel Hungs, des Tien-te, von neuem die Fahne der Taipings entfaltet und zum Siege führt.«

»Was Sie da sagen, Fung-tu, klingt etwas nach Aufruhr.«

»Und würde mich ohne weiteres unter das Messer bringen, wenn es bekannt würde; doch ich weiß, ich spreche zu einem Freunde, dem Retter meiner Kinder, dem Retter Kang-ju-weis.«

Gerhardt erkannte, daß er einen Anhänger der Taipings vor sich habe.

Nach längerem ernstem Schweigen fuhr der Chinese fort: »Sie wissen wohl nicht, daß Hung, der Tien-te, das ist: himmlischer Herrscher, ein Christ war?«

Das war für Gerhardt ungemein überraschend, und er gab sein Erstaunen kund.

»Ja, so ist es, und die Europäer haben unklug gehandelt, als sie die Waffen gegen den erhoben, der ihr Freund und Religionsgenosse gewesen war.«

»Und es lebt immer noch ein Sproß dieses Taipingführers?«

»Ja,« sagte Fung-tu mit feierlichem Nachdruck, »Hung-li, der Enkel des Tien-te, lebt. Er ist die Hoffnung der Anhänger des ›Großen Friedens‹ das Schreckgespenst der Machthaber im kaiserlichen Palaste. Der Tien-te hat einen Erben, der ihm die Totenopfer bringt und für seine Seele betet. Vor ihm zittern die wildesten der Mandschu, denn es wäre der Tod für sie, wenn er das Schwert erhebt.«

»Und sie vernichten ihn nicht?«

Mit einem Ausdruck unvergleichlicher Ironie erwiderte der Chinese: »Vernichten? Hung-li vernichten? O, er wandelt in einer Wolke einher, nur wenigen der Getreuesten sichtbar, und seine überlegene Klugheit macht aus den Weisen im Palaste Narren. Er ist aber auch so gut als klug, er, auf dem die Hoffnungen der Besten des Chinesenvolkes beruhen.«

Der Kaufherr schwieg und schien nachzusinnen.

Dann fragte Gerhardt: »So haben also die Boxer, wie man die fremdenfeindliche Sekte nennt, nichts mit den Taipings gemein?«

»Nein, sie sind nichts als eine von blindem Fremdenhasse fanatisierte Sekte ohne höhere Idee.«

Gerhardt lauschte mit steigendem Interesse den Worten seines Gastfreundes, der mit einer erstaunlichen Offenheit zu ihm sprach, und ihm dadurch ein seltenes Vertrauen bewies. Erkannte Gerhardt doch, daß gewaltige Kräfte in dem Reiche der Mitte tätig waren. Er war erfahren und gebildet genug, um ein Volk nicht nach der Bevölkerung einer Hafenstadt, wie sie der fremde Seemann zu sehen bekommt, zu beurteilen, und er wußte von seinem Bruder, daß dieses uralte Kulturvolk eine reiche Geschichte hinter sich habe, und eine große Zahl bedeutender Männer hervorgebracht hatte.

»Ich wünsche von Herzen,« sagte er, »daß die Chinesen sich mit der Zivilisation des Westens versöhnen, zum Heile der Menschheit.«

»Auch ich, Herr Gerhardt, aber die Gelehrten, die erste und hochmütigste Kaste unsres Volkes, lassen es nicht dazu kommen.«

Gerhardt gab dann seine Absicht kund, im Laufe des Vormittags die Gesandtschaft zu besuchen, und der für seinen Gast stets besorgte Fung-tu versprach, eine Sänfte dafür bereit zu halten, weil es würdevoller sei und seinen Gast unangenehmen Begegnungen auf der Straße entziehe. Gerhardt nahm das mit Dank an.


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