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Neue Kameraden.

Der Winter war vergangen, ehe man sich's versah, und es begann schon wieder zu tauen; am schwarzen Brett der Universität war bereits der Prüfungsplan angeschlagen, als ich mich plötzlich erinnerte, daß ich aus achtzehn Gegenständen, die ich gehört hatte und die ich nicht gehört hatte, die ich nicht nachgeschrieben und zu denen ich mich nicht vorbereitet hatte, eine Prüfung bestehen sollte. Seltsam, daß ich mir die so klare Frage: wie wirst du das Examen bestehen? kein einziges Mal gestellt hatte. Aber ich war diesen ganzen Winter hindurch in einem solchen Rausch gewesen, der von dem Bewußtsein herrührte, daß ich erwachsen und daß ich comme il faut sei, und wenn mir auch einmal der Gedanke gekommen war: wie wirst du das Examen bestehen? so hatte ich mich mit den Kameraden verglichen und mir gedacht: diese da werden es bestehen, und die meisten von ihnen sind doch nicht comme il faut, folglich habe ich noch einen großen Vorzug vor ihnen voraus und muß durchkommen. Ich besuchte die Vorlesungen nur, weil ich daran gewöhnt war und weil Papa mich von Hause fortschickte. Außerdem hatte ich viele Bekannte und fand es in der Universität sehr lustig. Ich liebte diesen Lärm, dieses Geplauder, das Lachen in den Hörsälen, ich liebte es, während der Vorlesungen, auf der letzten Bank sitzend, bei dem gleichmäßigen Klange der Stimme des Professors meinen Träumereien nachzugehen oder die Kameraden zu beobachten, ich liebte es, zuweilen mit einem von den andern zu Matern hinüberzulaufen, einen Schnaps zu trinken und einen Imbiß zu nehmen, und dann, im Bewußtsein meines Unrechtes, hinter dem Professor leise mit der Tür knarrend in den Hörsaal zu schleichen, ich liebte es, an den Streichen der andern teilzunehmen, wenn die Studenten der verschiedenen Kurse sich lachend im Korridor drängten. Alles dies war sehr lustig.

Als schon alle begannen, die Vorlesungen regelmäßig zu besuchen, der Professor der Physik seine Vorlesungen schloß und sich bis zum Examen verabschiedete, die Studenten ihre Hefte in Ordnung zu bringen und gruppenweise sich zur Prüfung vorzubereiten begannen, da dachte auch ich daran, daß ich studieren müsse. Operow, den ich nicht aufgehört hatte zu grüßen, zu dem ich aber in einem sehr kühlen Verhältnis stand, bot mir, wie ich schon erzählt habe, nicht nur seine Hefte an, sondern lud mich auch ein, mich in Gemeinschaft mit einigen anderen Studenten vorzubereiten. Ich dankte ihm und nahm es an, wobei ich hoffte, durch die ihm erwiesene Ehre mein früheres Zerwürfnis mit ihm auszugleichen, nur bat ich, daß unbedingt alle jedesmal bei mir zusammenkämen, da ich eine schöne Wohnung hätte.

Man antwortete mir, man würde abwechselnd bald bei dem einen, bald bei dem andern arbeiten, oder dort, wo es am nächsten wäre. Das erstemal versammelten wir uns bei Suchin. Es war ein kleines Stübchen hinter einem Verschlag in einem großen Hause aus dem Trubnoj-Boulevard. Am ersten festgesetzten Tage verspätete ich mich und kam, als schon gelesen wurde. Das kleine Zimmer war vollgeraucht, und zwar mit dem Tabak billiger Sorte, welche Suchin rauchte. Auf dem Tische standen ein Liter Branntwein, ein Schnapsglas, Brot, Salz und der Knochen eines Hammelbratens.

Ohne sich von seinem Platze zu erheben, forderte Suchin mich auf, einen Schnaps zu trinken und den Rock abzulegen.

»Sie sind, denke ich, an eine solche Bewirtung nicht gewöhnt?« fügte er hinzu.

Alle hatten unsaubere Kattunhemde und weiße Vorhemdchen an. Ich bemühte mich, meine Geringschätzung nicht zu verraten, warf den Rock ab und streckte mich kollegialisch auf dem Divan aus. Suchin trug vor, hier und da die Hefte vergleichend, die andern unterbrachen ihn zuweilen durch Fragen, und er erklärte kurz, klug und genau. Ich hörte aufmerksam zu, verstand aber vieles nicht, weil ich nichts vom Vorhergegangenen wußte, und stellte eine Frage.

»Ei, Väterchen, Sie können doch nicht folgen, wenn Sie das nicht wissen,« sagte Suchin, »ich werde Ihnen meine Hefte geben, und Sie werden das bis morgen durchnehmen, sonst hat es ja keinen Sinn, Ihnen etwas zu erklären.«

Ich schämte mich meiner Unwissenheit, und weil ich die Berechtigung von Suchins Bemerkung fühlte, gab ich das Zuhören auf und beschäftigte mich mit dem Beobachten dieser neuen Kameraden. Wenn man Menschen nach comme il faut und nicht comme il faut einteilte, so gehörten diese offenbar zur letzteren Klasse und erweckten infolgedessen in mir nicht nur ein Gefühl der Geringschätzung, sondern auch eines gewissen persönlichen Hasses, den ich gegen sie empfand, weil sie, ohne comme il faut zu sein, mich nicht nur als ihresgleichen behandelten, sondern sogar gutmütig meine Gönner spielten. Dieses Gefühl erweckten in mir ihre Füße, die unsauberen Hände mit den abgebissenen Nägeln und der eine langgewachsene Nagel auf dem kleinen Finger Operows, die rosa Hemde, die Vorhemdchen, die Grobheiten, die sie in liebenswürdiger Weise einander sagten, das schmutzige Zimmer und Suchins Gewohnheit, sich unaufhörlich ein wenig zu schneuzen, wobei er das eine Nasenloch mit dem Finger zudrückte, und vor allem ihre Art zu sprechen, gewisse Worte zu gebrauchen und zu betonen. Sie sagten zum Beispiel Tor statt Dummkopf, förmlich statt genau so, prächtig statt schön, und so weiter, was mir wie Buchgelehrsamkeit vorkam und widerwärtig unpassend erschien. Noch mehr aber erweckte in mir diesen comme il faut-Haß die Betonung, mit welcher sie einige russische, besonders aber fremdsprachige Wörter aussprachen: sie sagten Máschine statt Maschine, im Kámin statt im Kamin, Shákespeare statt Shakespeare und so weiter.

Aber ungeachtet dieser damals für mich unüberwindlich abstoßenden Äußerlichkeiten ahnte ich doch etwas Gutes in diesen Menschen, beneidete den lustigen Kreis, fühlte mich zu ihm hingezogen und wünschte mich ihnen anzuschließen, so schwer es mir auch fallen mußte. Den sanften und ehrenhaften Operow kannte ich schon; jetzt gefiel mir der lebhafte, ungewöhnlich kluge Suchin, der in diesem Kreise offenbar die erste Stelle einnahm, ganz außerordentlich. Er war ein kleiner, kräftiger, brünetter junger Mann mit etwas verschwommenem, und immer glänzendem, aber äußerst klugem, lebhaftem und eigenartigem Gesicht. Diesen Ausdruck verlieh ihm besonders die nicht hohe, aber über den tiefen, dunklen Augen gewölbte Stirn, das borstige, kurze Haar und der dichte, schwarze Bart, der immer unrasiert aussah. Er schien nicht an sich zu denken (was mir immer an den Menschen besonders gefiel), aber man merkte es ihm an, daß sein Geist nie unbeschäftigt war. Er hatte eines jener ausdrucksvollen Gesichter, die einige Stunden, nachdem man sie zum ersten Male gesehen hat, sich plötzlich vor unseren Augen ganz verändern; das geschah auch gegen Ende des Abends vor meinen Augen mit Suchin. Auf seinem Gesichte zeigten sich plötzlich Runzeln, die Augen sanken tiefer ein, das Lächeln wurde ein anderes, und das ganze Gesicht veränderte sich so, daß ich ihn kaum wiedererkannte.

Als die Vorlesung beendet war, tranken Suchin, die andern Studenten und ich, um unserem Wunsche nach Kameradschaft Ausdruck zu verleihen, jeder ein Gläschen Schnaps, so daß in dem Literkruge fast nichts mehr übrig blieb. Suchin fragte, wer wohl ein Fünfunddzwanzigkopekenstück hätte, damit man die alte Frau, die ihn bediente, ausschicken könnte, Schnaps zu holen. Ich bot mein Geld an, aber Suchin wandte sich, als wenn er nichts gehört hätte, an Operow, und dieser zog eine perlengestickte Börse hervor und gab ihm das gewünschte Geldstück.

»Paß auf, daß du nicht zuviel trinkst,« sagte Operow, der selbst gar nicht trank.

»Macht nichts,« antwortete Suchin, während er das Mark aus dem Hammelknochen sog. (Ich erinnere mich, daß ich bei mir dachte: daher ist er so gescheit, weil er so viel Mark ißt.) »Macht nichts,« fuhr Suchin mit leisem Lächeln fort; er hatte ein Lächeln, das man unwillkürlich bemerkte und für das man ihm dankbar war. »Wenn ich auch zuviel trinke, das ist kein Unglück, wir wollen mal sehen, Bruder, wer den andern unterkriegt, er mich oder ich ihn. Da drin ist schon alles fertig, Bruder,« fügte er hinzu, indem er sich prahlerisch an die Stirne schlug; »wenn nur Ssemjonow nicht durchfällt, er hat sich gründlich verbummelt.«

In der Tat, derselbe Ssemjonow mit den grauen Haaren, der mich bei der ersten Prüfung so erfreute, weil er schlechter aussah als ich, und der die Aufnahmeprüfung als zweiter bestanden hatte, hatte nur den ersten Monat pünktlich die Vorlesungen besucht, aber noch vor der Wiederholung ein Bummelleben angefangen und sich gegen Ende des Kurses gar nicht mehr auf der Universität gezeigt.

»Wo ist er?« fragte jemand.

»Auch ich habe ihn aus den Augen verloren,« antwortete Suchin, »das ist ein Kopf! Welch ein Feuer in diesem Menschen! welch ein Geist! Es wäre schade, wenn er zugrunde ginge, und er wird sicher zugrunde gehen. Er ist kein solcher Knabe mehr, daß er mit seinen Leidenschaften auf der Universität aushielte.«

Nachdem wir noch ein wenig geplaudert hatten, gingen alle auseinander und verabredeten, an den folgenden Tagen wieder bei Suchin zusammenzukommen, weil seine Wohnung allen übrigen nahe lag. Als wir auf die Straße hinauskamen, schämte ich mich ein wenig, weil alle andern zu Fuß gingen und ich allein einen Wagen hatte, und ich machte Operow den Vorschlag, ihn nach Hause zu führen. Unterwegs erzählte Operow mir viel von Suchins Charakter und Lebensweise, und nach meiner Heimkehr konnte ich lange nicht einschlafen, da ich viel über meine neuen Bekannten nachdenken mußte. Ich schwankte lange einerseits zwischen Achtung, zu der mich ihre Kenntnisse, ihre Einfachheit, Ehrenhaftigkeit, die Poesie ihrer Jugend und Burschikosität zwangen, andererseits zwischen dem Widerwillen gegen ihr mich abstoßendes, unordentliches Äußeres. So sehr ich es auch wünschte, es war mir damals buchstäblich unmöglich, mich ihnen anzuschließen; unsere Lebensauffassung war eine völlig verschiedene. Eine Unmenge kleiner Dinge, die für mich die ganze Schönheit und den ganzen Sinn des Lebens ausmachten, war ihnen ganz und gar unverständlich, und umgekehrt; aber das Haupthindernis zwischen uns waren der Zwanzigrubelstoff meines Anzuges, meine Equipage und meine Wäsche aus holländischer Leinwand. Dieses Hindernis war für mich besonders wichtig: mir war's, als beleidige ich sie unwillkürlich durch die Kennzeichen meines Wohlstandes; ich fühlte mich ihnen gegenüber schuldig und demütigte mich, um mich dann wieder gegen diese unverdiente Demütigung zu empören und zum Selbstbewußtsein überzugehen, und so konnte ich keineswegs gleichmäßige, aufrichtige Beziehungen zu ihnen anknüpfen. Die grobe, lasterhafte Seite in Suchins Charakter aber wurde damals in so hohem Grade durch die starke Poesie seiner jugendlichen Bravour übertäubt, daß sie durchaus nicht unangenehm auf mich wirkte.

Fast zwei Wochen lang ging ich allabendlich zu Suchin arbeiten, das heißt ich arbeitete sehr wenig, weil ich, wie schon erwähnt, hinter den Kameraden zurückgeblieben war, nicht die Kraft hatte, allein zu arbeiten, um sie einzuholen, und mich nur so stellte, als ob ich zuhörte und verstünde, was sie lasen. Ich glaube, die Kameraden durchschauten meine Verstellung, und ich bemerkte oft, daß sie Stellen überschlugen, welche sie selbst gut kannten, ohne mich je zu fragen.

Mit jedem Tage entschuldigte ich mehr und mehr die Unmöglichkeit dieses Kreises, fügte mich in ihre Art und fand viel Poesie darin. Nur das Ehrenwort, das ich Dmitrij gegeben hatte, nicht mit ihnen zu bummeln, hielt mich von dem Wunsche zurück, ihre Vergnügungen zu teilen.

Einmal wollte ich vor ihnen mit meiner Kenntnis der Literatur, besonders der französischen, prahlen und lenkte das Gespräch auf dieses Gebiet. Zu meiner Verwunderung zeigte es sich, daß sie, obgleich sie die fremden Titel in russischer Weise aussprachen, bedeutend mehr gelesen hatten als ich, sie kannten und schätzten die englischen und sogar die spanischen Schriftsteller, von denen ich noch nicht einmal gehört hatte. Puschkin und Shukowskij waren für sie Literatur (und nicht, wie für mich, Bändchen in gelbem Einbande, die ich als Kind gelesen und gelernt hatte). Sie verachteten Dumas ebenso wie Sue und Féval, und hatten, besonders Suchin, ein weit klareres und sichereres Urteil in der Literatur als ich, wie ich nicht umhin konnte zu gestehen. Auch in der Kenntnis der Musik hatte ich nichts vor ihnen voraus. Zu meinem größten Erstaunen spielte Operow Geige, einer der anderen mit uns arbeitenden Studenten spielte Cello und Klavier, und beide wirkten in dem Universitätsorchester mit, waren tüchtige Musikkenner und schätzten gute Musik sehr hoch. Kurz, alles, womit ich mich vor ihnen brüsten wollte, nur die Aussprache des Französischen und des Deutschen ausgenommen, konnten sie besser als ich, ohne damit im geringsten großzutun. In meiner Stellung hätte ich mich durch ein gesellschaftlich gewandtes Wesen hervortun können, aber ich besaß es nicht in dem Maße wie Wolodja. Was also stellte mich so hoch, daß ich auf sie herabsehen konnte? Meine Bekanntschaft mit dem Fürsten Iwan Iwanowitsch? meine Aussprache des Französischen? mein Wagen? meine holländische Wäsche? meine Nägel? Ist denn das alles nicht Unsinn? So ging es mir manchmal dumpf durch den Kopf unter dem Einfluß des Neides gegen die Kameraden und der einfachen, jungen Fröhlichkeit, die ich vor mir sah. Sie duzten einander alle, die Einfachheit ihres Verkehrs grenzte an Grobheit, aber selbst unter dieser groben Außenseite verriet sich immer die Scheu, einander auch nur irgendwie zu beleidigen. »Schuft, Schwein,« – Worte, die von ihnen in freundschaftlichem Sinne gebraucht wurden, berührten mich peinlich und gaben mir Grund zu geheimem Spott; aber diese Worte beleidigten sie nicht und hinderten sie nicht, miteinander auf dem freundschaftlichsten Fuße zu stehen. Im Verkehr untereinander waren sie so vorsichtig und zartfühlend, wie nur sehr junge und sehr arme Leute es sein können.


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