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In diesem Sommer trat ich den jungen Mädchen näher als in anderen Jahren, und die Ursache davon war meine plötzlich erwachte Liebe zur Musik. Im Frühling hatte uns ein Nachbar, ein junger Mann, seinen Besuch gemacht, und kaum hatte er den Salon betreten, als er immer wieder zum Klavier hinüberblickte und seinen Stuhl unmerklich näher heranzuschieben suchte, während er mit Mimi und Katjenka plauderte. Nachdem vom Wetter und den Annehmlichkeiten des Landlebens gesprochen worden war, lenkte er das Gespräch geschickt auf den Klavierstimmer, auf die Musik, auf das Klavier, und erklärte schließlich, daß er Klavier spiele; dann trug er sehr schnell drei Walzer vor, während Ljubotschka, Mimi und Katjenka um ihn herumstanden und ihm zuschauten. Dieser junge Mann war später nie wieder bei uns, aber mir hatte sein Spiel ebenso sehr gefallen wie seine Haltung am Klavier, seine Art, das Haar zurückzuwerfen, und besonders die Gewandtheit, mit welcher er mit der linken Hand die Oktaven griff, indem er Daumen und kleinen Finger schnell über die Oktave breitete, sie langsam einander näherte und dann wieder schnell ausbreitete. Diese graziöse Handbewegung, die nachlässige Haltung, das Zurückwerfen der Haare und die Aufmerksamkeit, welche unsere Damen seinem Talente schenkten, brachten mich auf den Gedanken, Klavier zu spielen. Eine Folge dieses Gedankens war die Überzeugung, daß ich Talent und Liebe zur Musik habe, und ich begann zu lernen. Ich handelte in dieser Beziehung genau so wie Millionen von Klavierspielern männlichen und besonders weiblichen Geschlechts, ohne guten Lehrer, ohne wahren Beruf und ohne das geringste Verständnis für das, was die Kunst bieten kann und wie man sie betreiben muß, damit sie etwas biete. Für mich war die Musik oder richtiger das Klavierspiel ein Mittel, den jungen Mädchen durch mein tiefes Gefühl Bewunderung einzuflößen. Sobald ich mit Katjenkas Hilfe die Noten erlernt und meine dicken Finger etwas gelenkig gemacht hatte – worauf ich übrigens fast zwei Monate hindurch einen solchen Eifer verwandte, daß ich sogar beim Mittagessen auf den Knien und abends auf dem Kopfkissen mit dem ungehorsamen Ringfinger hämmerte –, begann ich sofort Stücke zu spielen, und ich spielte sie selbstverständlich mit Gefühl, avec âme, was auch Katjenka zugab, aber ohne jede Spur von Takt.
Die Wahl der Stücke war die bekannte: Walzer, Galopp, Romanzen, Arrangements und dergleichen, von jenen reizenden Komponisten, von welchen jeder Mensch mit einem gesunden Geschmack einem im Notenladen aus einem Haufen schöner Sachen einen Stoß herausnimmt und sagt: »Das da darf man nicht spielen, denn etwas Schlechteres, Geschmack- und Sinnloseres ist noch nie und nirgends auf Notenpapier geschrieben worden,« – und die man, wahrscheinlich gerade deshalb, auf dem Klavier einer jeden russischen jungen Dame vorfindet. Wir hatten zwar auch die unglückliche, für ewige Zeit von den jungen Damen verstümmelte Sonate Pathétique und die Cis-moll-Sonate von Beethoven, welche Ljubotschka zur Erinnerung an maman spielte, und noch andere schöne Sachen, welche ihr Moskauer Lehrer ihr aufgegeben hatte; aber es waren auch die Werke dieses Lehrers selbst da, die lächerlichsten Märsche und Galopps, die Ljubotschka ebenfalls spielte. Katjenka und ich hatten die ernsten Sachen nicht gern, wir bevorzugten » Le fou« und die »Nachtigall«, welche Katjenka so spielte, daß man ihren Fingern kaum folgen konnte, und die auch ich schon ziemlich laut und fließend zu spielen begann. Ich hatte mir die Bewegungen des jungen Mannes angeeignet und bedauerte oft, daß kein Fremder da war, der sehen konnte, wie ich spielte. Bald aber zeigte es sich, daß ich Liszt und Kalkbrenner nicht gewachsen war, und ich sah die Unmöglichkeit ein, Katjenka einzuholen. Da ich mir einbildete, daß die klassische Musik leichter sei, und zum Teil auch, um origineller zu erscheinen, erklärte ich plötzlich, daß ich die gelehrte deutsche Musik liebe; ich geriet in Entzücken, wenn Ljubotschka die Sonate Pathétique spielte, obgleich ich in Wirklichkeit dieser Sonate längst überdrüssig war, begann auch selbst Beethoven zu spielen und sprach dessen Namen mit langgedehntem e. Aber trotz all dieser Unklarheit und Verstellung steckte in mir, wie ich mich jetzt erinnere, doch eine Art von Talent, denn die Musik machte oft einen so starken Eindruck auf mich, daß mir die Tränen in die Augen traten, und Stücke, welche mir gefielen, konnte ich auch ohne Noten auf dem Klavier ungefähr herausfinden: wenn damals jemand mich gelehrt hätte, die Musik als Selbstzweck, als einen selbständigen Genuß zu betrachten und nicht nur als ein Mittel, um junge Damen durch schnelles und ausdrucksvolles Spiel in Bewunderung zu setzen, wäre ich vielleicht wirklich ein recht guter Musiker geworden.
Das Lesen französischer Romane, deren Wolodja eine Menge mitgebracht hatte, war meine zweite Beschäftigung in diesem Sommer. Zu jener Zeit begannen die Monte Christo und die verschiedenen »Geheimnisse« grade erst zu erscheinen, und ich verschlang die Romane von Sue, Dumas und Paul de Kock; die allerunnatürlichsten Personen und Ereignisse waren für mich so lebendig wie die Wirklichkeit selbst; ich wagte nicht nur nicht, den Verfasser der Lüge zu verdächtigen, sondern der Verfasser war für mich überhaupt nicht vorhanden, und die lebenden, wirklichen Menschen und Ereignisse traten aus dem gedruckten Buch leibhaftig vor mich hin. Wenn ich auch nie Personen begegnete, welche denen ähnlich waren, von denen ich las, so zweifelte ich doch keinen Augenblick daran, daß ich ihnen begegnen werde.
Ich entdeckte in mir selbst alle die geschilderten Leidenschaften und eine Ähnlichkeit mit allen Charakteren, mit den Helden sowohl wie mit den Bösewichtern eines jeden Romanes, gleich wie ein Hypochonder in sich die Merkmale aller möglichen Krankheiten entdeckt, wenn er ein medizinisches Buch liest. In diesen Romanen gefielen mir die schlauen Gedanken, die feurigen Gefühle, die zauberhaften Geschehnisse und die ganzen Charaktere: war einer gut, so war er auch vollkommen gut; war einer schlecht, so war er in Grund und Boden schlecht, – geradeso, wie ich mir die Menschen in meiner frühesten Jugend vorgestellt hatte. Es gefiel mir auch außerordentlich, daß alles das französisch war und daß die edlen Worte, welche von den edlen Helden gesprochen wurden, mir im Gedächtnis blieben und bei Gelegenheit einer edlen Tat von mir angewandt werden konnten. Wie viele verschiedene französische Phrasen erdachte ich mit Hilfe der Romane für Kolpikow für den Fall, daß ich ihm je wieder begegnen sollte, und für »sie«, sobald ich sie finden und ihr meine Liebe gestehen würde! Ich bereitete mich darauf vor, ihnen Dinge zu sagen, daß sie sprachlos gewesen wären, wenn sie mich gehört hätten. Auf Grund der Romane entstanden in mir auch neue Ideale, sittliche Vorzüge, die ich zu erreichen wünschte. Vor allem wollte ich in allen meinen Handlungen und bei allen Gelegenheiten » noble« sein (ich sage » noble« und nicht edel, weil das französische Wort eine andere Bedeutung hat; das haben die Deutschen begriffen, indem sie das Wort nobel angenommen haben, das sie nicht mit dem Begriffe ehrenhaft verwechseln), dann wollte ich leidenschaftlich sein und schließlich das, wozu ich auch schon vorher Neigung hatte: so comme il faut als nur möglich. Auch im Äußeren und in meinen Gewohnheiten bemühte ich mich, jenen Helden zu gleichen, die irgend einen von diesen Vorzügen besaßen. Ich erinnere mich, daß in einem von den Hunderten von Romanen, die ich in jenem Sommer las, ein sehr leidenschaftlicher Held mit dichten Augenbrauen vorkam, und ich wünschte so sehr, ihm äußerlich ähnlich zu werden (dem Charakter nach fühlte ich mich ihm vollkommen gleich), daß ich, als ich meine Augenbrauen vor dem Spiegel betrachtete, auf den Gedanken kam, sie leicht zu beschneiden, damit sie desto dichter würden; aber als ich damit anfing, geschah es, daß ich an einer Stelle zu viel fortschnitt, – ich mußte das ausgleichen, und das Ende war, daß ich mich zu meinem Entsetzen im Spiegel ohne Augenbrauen und infolgedessen sehr häßlich erblickte. Ich tröstete mich jedoch mit der Hoffnung, daß mir bald dichte Augenbrauen wachsen würden, wie jenem leidenschaftlichen Manne, und machte mir nur darüber Gedanken, was ich den Meinigen sagen sollte, wenn sie mich ohne Augenbrauen sehen würden. Ich holte mir von Wolodja Schießpulver, rieb damit die Brauen ein und zündete es an. Obgleich das Pulver nicht aufflammte, so sah ich doch einem Verbrannten ähnlich genug, – niemand durchschaute meine List, und als ich längst den leidenschaftlichen Helden vergessen hatte, wuchsen meine Augenbrauen tatsächlich bedeutend dichter.