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Der Gedanke an den bevorstehenden notwendigen Besuch beim Fürsten war mir nun noch drückender. Doch bevor ich zu ihm fuhr, mußte ich, da es auf dem Wege lag, die Iwins besuchen; sie wohnten auf der Twerstraße in einem sehr großen, schönen Hause. Nicht ohne Scheu betrat ich das Vestibül, in welchem ein Schweizer mit dem Stabe stand.
Ich fragte ihn: »Sind die Herrschaften zu Hause?«
»Zu wem wünschen Sie? Der Sohn des Herrn Generals ist zu Hause,« antwortete der Schweizer.
»Und der General selbst?« fragte ich tapfer.
»Ich muß zuerst melden; wie befehlen Sie?« sagte der Schweizer und läutete. Die Füße eines Lakaien in Stiefeletten wurden auf der Treppe sichtbar. Ich wurde so verlegen, ich weiß selbst nicht warum, daß ich dem Diener sagte, er möge mich nicht dem General melden, ich wolle zuerst bei dem Sohne vorsprechen. Als ich die Treppe emporstieg, diese große Paradetreppe, erschien ich mir selbst entsetzlich klein (und zwar nicht im übertragenen, sondern im wahren Sinne des Wortes). Dasselbe Gefühl hatte ich bereits gehabt, als mein Wagen sich der Auffahrt genähert hatte: es war mir gewesen, als wären Wagen, Pferd und Kutscher kleiner geworden.
Als ich eintrat, lag der Sohn des Generals auf dem Divan mit einem aufgeschlagenen Buche vor sich und schlief. Sein Hofmeister, Herr Frost, der immer noch bei ihnen im Hause war, trat gleich hinter mir mit seinem lebhaften Gang ins Zimmer und weckte seinen Zögling. Iwin zeigte keine besondere Freude bei meinem Anblick, und ich bemerkte, daß er, wenn er mit mir sprach, den Blick auf meine Augenbrauen richtete. Obgleich er sehr höflich war, schien es mir doch, daß er mich, so wie die Prinzessin, unterhalten wollte, ohne besondere Zuneigung für mich zu empfinden und ohne Verlangen nach meiner Freundschaft zu haben, da er wahrscheinlich seinen eigenen Kreis von Bekannten hatte. Auf all dieses kam ich besonders deshalb, weil er über meine Augen hinwegsah; kurz, sein Verhältnis zu mir war, so unangenehm es mir ist, das zu gestehen, beinahe ein solches wie meines zu Ilinka. Ich geriet allmählich in erregte Stimmung, fing jeden Blick Iwins auf, und wenn er Herrn Frost ansah, übersetzte ich mir den Blick mit der Frage: wozu ist er eigentlich zu uns gekommen?
Nachdem Iwin ein wenig mit mir geplaudert hatte, sagte er, seine Eltern seien daheim, ob ich nicht zu ihnen mitkommen wollte?
»Ich werde mich sogleich anziehen,« fügte er hinzu und ging ins Nebenzimmer, obgleich er bereits gut gekleidet war: er trug einen neuen Gehrock und eine weiße Weste. Nach einigen Minuten kam er zurück in Uniform, alle Knöpfe geschlossen, und wir gingen zusammen hinunter. Die Prunkzimmer, durch die wir schritten, waren außerordentlich groß, hoch und, wie mir schien, luxuriös eingerichtet; es gab da Marmor und Gold und in Nesseltuch gehüllte Gegenstände und Spiegelgläser. Frau Iwin trat gleichzeitig mit uns durch eine zweite Tür in das kleine Zimmer hinter dem Empfangsraum. Sie begrüßte mich sehr freundschaftlich und familiär, wies mir einen Platz neben sich an und erkundigte sich voller Teilnahme nach unserer ganzen Familie.
Frau Iwin, die ich früher nur zweimal flüchtig gesehen hatte und die ich jetzt aufmerksam betrachtete, gefiel mir sehr. Sie war hochgewachsen, mager, sehr blaß und sah immer traurig und erschöpft aus; ihr Lächeln war wehmütig, aber voller Güte, ihre Augen waren groß, müde und ein wenig zur Seite schielend, was ihr einen noch traurigeren und anziehenderen Ausdruck gab; sie saß aufrecht, aber doch wie in sich versunken, alle ihre Bewegungen hatten etwas Schlaffes, sie sprach ohne Lebhaftigkeit, aber der Ton ihrer Stimme und ihrer Aussprache mit dem undeutlichen r und l waren sehr angenehm. Sie bemühte sich nicht, mich zu unterhalten. Meine Antworten über unsere Familie erregten sichtlich ihre traurige Teilnahme, es war, als gedenke sie, während sie mir zuhörte, voller Wehmut besserer Zeiten. Ihr Sohn hatte das Zimmer verlassen, sie sah mich ein paar Minuten schweigend an und begann plötzlich zu weinen. Ich saß vor ihr und es fiel mir durchaus nicht ein, was ich hätte sagen oder tun sollen; sie weinte weiter, ohne mich anzublicken. Anfangs tat sie mir leid, dann dachte ich: »Ob ich sie nicht trösten muß? und wie soll ich das anfangen?« Endlich aber ärgerte ich mich, daß sie mich in eine so merkwürdige Lage brachte. »Seh' ich denn gar so bedauernswert aus?« dachte ich, »oder tut sie es vielleicht absichtlich, um zu sehen, wie ich in diesem Falle handeln würde.«
»Fortgehen kann ich jetzt nicht gut, es wäre doch, als ob ich vor ihren Tränen davonlaufe,« dachte ich weiter; ich bewegte mich auf dem Stuhle, um sie wenigstens an meine Anwesenheit zu erinnern.
»Ach, wie bin ich doch dumm,« sagte sie, indem sie mich anblickte und zu lächeln versuchte, »es gibt Tage, wo man ohne jeden Grund zu weinen anfängt.« Sie suchte neben sich auf dem Divan nach dem Taschentuch und begann plötzlich noch heftiger zu weinen.
»Ach Gott, wie lächerlich, daß ich immer weine! Ich habe Ihre Mutter so geliebt, wir waren – so befreundet – und –«
Sie hatte das Tuch gefunden, bedeckte ihr Gesicht damit und weinte weiter. Meine unbehagliche Lage war wieder da und dauerte ziemlich lange; ich ärgerte mich über sie, aber ich hatte noch mehr Mitleid mit ihr; ihre Tränen schienen mir aufrichtig und ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß sie weniger um meine Mutter weinte als darum, weil sie selbst es jetzt nicht gut hatte und einst zu jenen Zeiten es besser gehabt hatte. Ich weiß nicht, womit die Sache geendet hätte, wenn nicht der junge Iwin eingetreten wäre und gesagt hätte, daß der alte Iwin nach ihr frage. Sie erhob sich und wollte gehen, als Iwin selbst ins Zimmer trat. Es war ein kleiner, kräftiger, graubärtiger Herr mit dichten schwarzen Augenbrauen, mit vollständig grauem, kurz geschorenem Haar und einem sehr strengen und harten Zug um den Mund.
Ich stand auf und verbeugte mich, aber Iwin, der drei Orden auf dem grünen Frack trug, ließ nicht nur meine Verbeugung unerwidert, sondern blickte mich überhaupt kaum an, so daß ich plötzlich das Gefühl hatte, ich sei kein Mensch, sondern irgend ein Ding, das keiner Beachtung wert war, ein Stuhl oder ein Fenster, oder wenn ich schon ein Mensch sei, dann einer, der sich von einem Stuhl oder von einem Fenster gar nicht unterschied.
»Und Sie haben der Gräfin noch immer nicht geschrieben, meine Liebe,« sagte Iwin auf französisch mit gleichgültigem, aber hartem Gesichtsausdrucke zu seiner Frau.
»Adieu, Herr Irtenjew,« sagte Frau Iwin zu mir, nickte plötzlich stolz mit dem Kopfe, wobei sie wie ihr Sohn den Blick auf meine Augenbrauen richtete. Ich verbeugte mich nochmals vor ihr und ihrem Mann und wieder wirkte meine Verbeugung auf den alten Iwin nicht anders, als wie wenn man ein Fenster geöffnet oder geschlossen hätte. Der Student Iwin aber begleitete mich bis zur Tür und erzählte mir. er gehe an die Petersburger Universität, da sein Vater dort eine Stellung erhalten habe (er nannte mir eine sehr bedeutende Stellung).
»Na, Papa mag tun, was er will,« brummte ich vor mich hin, als ich meinen Wagen bestieg, »aber mein Fuß wird dieses Haus nicht wieder betreten; diese Heulliese weint, wenn sie mich anschaut, als wäre ich irgend ein Unglückswurm, und Iwin, das Schwein, grüßt mich nicht; ich werd's ihm zeigen.« – Wie ich es ihm eigentlich zeigen wollte, weiß ich absolut nicht, aber das Wort hatte mir gerade so gepaßt.
Später mußte ich oft die Ermahnungen meines Vaters anhören, der mir sagte, ich müsse diese Bekanntschaft unbedingt »kultivieren« und ich könne nicht verlangen, daß ein Mann in solcher Stellung wie Iwin sich mit einem solchen Jungen befasse wie ich. Aber ich blieb ziemlich lange standhaft.