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Zehntes Kapitel

Nechludoff hatte noch zwei Stunden bis zum Abgange des Zuges zu warten, der ihn nach Nischni-Nowgorod bringen sollte. Zuerst hatte er die Absicht, diese Zeit zu benutzen, um seine Schwester wiederzusehen; doch die Eindrücke des Vormittags hatten ihn so bewegt und abgespannt, daß er nicht mehr die Kraft fühlte, sich zu rühren. Er trat in den Wartesaal, setzte sich auf ein Kanapee und schlief dort, den Kopf auf ein Kissen lehnend, nach kurzer Zeit ein.

Er schlief bereits eine Stunde, als ein Geräusch zurückgeschobener Stühle ihn jäh erweckte. Er richtete sich auf, rieb sich die Augen und sah wieder die verschiedenen Scenen vor sich, denen er beigewohnt. Er sah den Zug der Verschickten vor sich, die beiden toten Männer, die Waggons mit den vergitterten Fenstern und die in diese Waggons eingesperrten Weiber, wie auch das traurige Lächeln, mit dem ihm Katuscha durch die Gitterstäbe Lebewohl gesagt. Das Schauspiel, das er vor Augen hatte, war von diesen Erinnerungen grundverschieden; ein mit Flaschen, Vasen, Leuchtern und Blumen beladener Tisch, an dem befrackte Kellner schlummerten, und im Hintergrunde des Saales vor einem ebenfalls mit Flaschen und Vasen beladenen Tisch Reisende, die ihm den Rücken drehten und Reisevorrat einkauften.

Als er wieder zu sich gekommen war, bemerkte Nechludoff, daß alle Personen, die im Salon waren, neugierig etwas betrachteten, das eben an der Eingangsthür vorüberkam. Als er die Augen nach dieser Seite wandte, sah er eine Gruppe von Männern, die eine vollständig in Shawls gewickelte Dame auf einem Stuhle trugen. Der erste Träger war ein Kammerdiener, und Nechludoff erinnerte sich sofort, ihn schon gesehen zu haben. Er erkannte auch den Mann, der hinterher kam, einen Portier in Livree mit gallonnierter Mütze. Neben dem Stuhle stand eine elegante Kammerzofe, die eine Reisetasche, einen runden Gegenstand in einem Lederetuis und mehrere Sonnenschirme trug. Und auf der anderen Seite bemerkte Nechludoff in Reisekleidern den alten Fürsten Kortschagin mit seinen dicken Lippen und seinem schlagflüssigen Hals. Auch Missy war dabei, und ihr Bruder Mitja, und ein junger, Nechludoff wohlbekannter Diplomat, der Graf von Osten, der einen endlosen Hals und ein kleines, stets lächelndes Gesicht besaß. Osten unterhielt sich mit Missy, die sich über seine Scherze sehr zu amüsieren schien. Nechludoff sah auch den Arzt, der mit seiner gewöhnlichen verdrossenen Miene seine Cigarette rauchte. Dieser imposante Zug durchschritt den Saal, um sich in den für die Damen reservierten kleinen Salon zu begeben, und erregte auf seinem Wege eine Neugier, in die sich ein gewisser Respekt mischte. Doch schon im nächsten Augenblick erschien der alte Fürst wieder im Saal, setzte sich an den Tisch, rief den Kellner und erteilte ihm Befehle. Dann erschienen Missy und Osten, und beide wollten sich ebenfalls an dem Tisch niederlassen, als Missy an der Eingangsthür eine Bekannte bemerkte, der sie entgegenlief. Diese Bekannte war Natalia Iwanowna, Nechludoffs Schwester, In Begleitung Agrippina Petrownas eintretend, wandte sie die Augen nach allen Seiten, als suche sie jemand. Sie bemerkte ihren Bruder und Missy gleichzeitig, und als sich Nechludoff ihr näherte, sagte sie, als sie dem jungen Manne die Hand geschüttelt:

»Endlich finde ich dich! Ich verzweifelte schon!« Nechludoff drückte Missy und Osten die Hände, umarmte seine Schwester, und man fing an zu plaudern. Missy erzählte, ihr Landhaus wäre abgebrannt, wodurch sie genötigt seien, einige Wochen bei einer Tante zuzubringen, die auf der Linie nach Nischni-Nowgorod wohnte, Osten erzählte bei dieser Gelegenheit vergnügt Brandgeschichten, doch Nechludoff wandte sich, ohne auf ihn zu hören, an seine Schwester:

»Wie glücklich bin ich, daß du gekommen bist!«

»Ich suche dich seit zwei Stunden,« versetzte sie, »und habe mit Agrippina Petrowna die ganze Stadt durchstreift, ohne dich finden zu können.«

Sie deutete mit dem Kopfe auf die dicke Wirtschafterin, die, in einen Gummimantel gehüllt und einen Hut mit Blumen auf dem Kopfe, bescheiden etwas abseits stand, um die Unterhaltung nicht zu stören.

»Denke dir, ich bin hier auf einem Kanapee eingeschlafen! Wie glücklich bin ich, daß du gekommen bist,« wiederholte er, »Ich hatte gerade einen Brief an dich angefangen!«

»Wirklich?« fragte sie unruhig. »Und was schriebst du mir?«

Als Missy sah, daß Bruder und Schwester eine intime Unterhaltung begannen, glaubte sie, sich mit ihrem Kavalier entfernen zu müssen. Nechludoff führte seine Schwester ans Fenster; dort setzten sie sich auf eine grüne Sammetbank, neben der ein Koffer, ein Plaid und ein Hutkarton lagen.

»Nun denn! Ja! Als ich euch gestern verließ, wollte ich wieder umdrehen und deinen Mann um Entschuldigung bitten,« sagte Nechludoff; »doch ich fürchtete, er könne die Sache schlecht aufnehmen. Ich bin gestern zu deinem Manne recht häßlich gewesen, und das quält mich.«

»Ich wußte es, ich war überzeugt, du hattest nicht die Absicht,« versetzte Natalia Iwanowna.

»Du weißt ...«

Thränen stiegen ihr in die Augen, und sie drückte ihrem Bruder fieberhaft erregt die Hand. Nechludoff verstand sofort den Sinn des Satzes, den sie nicht ausgesprochen hatte. Sie wollte sagen, daß sie, wenn sie auch ihren Mann mehr als die ganze Welt liebte, doch auch ihn, ihren Bruder, sehr lieb hatte, und daß jede Trennung von ihm sie grausam schmerzte.

»Ich danke dir! Ach, wenn du wüßtest, was ich heut' gesehen habe,« fuhr er fort und erinnerte sich plötzlich wieder an die beiden toten Gefangenen. »Zwei getötete Männer!«

»Wieso getötet?«

»Ja, gewiß, getötet. Man hat sie bei dieser Hitze die ganze Stadt durchwandern lassen, und zwei von ihnen sind am Sonnenstich gestorben.«

»Nicht möglich! Wie? Heute? Eben?«

»Ja, eben! Ich habe ihre Leichen gesehen!«

»Aber warum hat man sie getötet? Und wer hat sie getötet?« fragte Natalia Iwanowna.

»Wer? Die sie gezwungen haben, bei dieser Hitze zu gehen,« versetzte Nechludoff in ärgerlichem Tone, denn er fühlte, daß seine Schwester das von einem anderen Gesichtspunkte als er betrachtete.

»Allmächtiger Gott! Ist es möglich?« fragte Agrippina Petrowna, die sich nicht hatte enthalten können, zuzuhören.

»Ja, wir haben nicht die geringste Idee davon, was man diese Unglücklichen erdulden läßt; und doch hätten wir die Pflicht, uns darüber zu unterrichten,« fuhr Nechludoff fort, indem er unwillkürlich die Augen auf den alten Fürsten richtete, der, eine Serviette um den Hals, sich mit Schinken vollstopfte, ohne an etwas anderes zu denken. Doch plötzlich erhob der Greis den Kopf und bemerkte Nechludoff.

»Nechludoff!« rief er. »Wollen Sie sich nicht stärken? Für die Reise ist das unbedingt nötig!«

Nechludoff dankte mit einem Kopfschütteln.

»Nun, was willst du thun?« fuhr Natalia Iwanowna fort.

»Was ich kann! Ich fühle, daß ich auf jeden Fall etwas thun muß! Und was ich kann, werde ich thun!«

»Ja, ja, ich verstehe dich. Und mit ihnen,« sagte sie, auf Kortschagin deutend, »ist alles aus?«

»Alles! Und ich glaube, das wird auf beiden Seiten niemand bedauern.«

»Das ist schade, sehr schade! Ich habe Missy so lieb! Na, ich habe schließlich nichts zu sagen. Aber warum willst du dich von neuem binden?« fragte sie schüchtern; »warum reisest du?«

»Ich reise, weil ich muß!« versetzte Nechludoff in ernstem und trockenem Tone, als wolle er die Unterhaltung abbrechen, doch gleich that ihm dieses Benehmen seiner Schwester gegenüber leid, und er dachte: »Warum soll ich ihr nicht alles sagen, was ich denke? Ich weiß wohl, Agrippina Petrowna hört uns, doch was thut das, mag sie auch hören!«

»Du sprichst von meinem Heiratsprojekte mit Katuscha,« rief er mit zitternder Stimme. »Nun ja; ich habe diesen Plan gefaßt, und zwar schon am ersten Tage, als ich sie wiedergefunden habe; doch sie hat sich klar und entschlossen geweigert, sich mit mir zu verheiraten! Sie will mein Opfer nicht, sondern zieht es vor, sich selbst zu opfern; denn ihre Verheiratung hätte in ihrer Lage viele Vorteile für sie. Ich aber kann nicht dulden, daß sie sich opfert, und darum reise ich jetzt mit ihr; ich gehe, wohin sie geht, und werde mit allen meinen Kräften versuchen, ihr zu helfen und ihr Schicksal zu lindern.«

Natalia Iwanowna erwiderte kein Wort. Die alte Wirtschafterin schüttelte verzweifelt den Kopf und sah abwechselnd Nechludoff und seine Schwester an. In diesem Augenblick zeigte sich der feierliche Zug von neuem an der Thür des Damensalons. Der schöne Kammerdiener Philipp und der Portier mit der gallonnierten Mütze trugen die alte Fürstin fort, um sie in ihren Waggon zu bringen. In der Mitte des Saales gebot die alte Dame den Trägern Halt, gab Nechludoff ein Zeichen, näherzutreten, und reichte ihm furchtsam ihre mit Ringen überladene weiße Hand, als wolle sie ihn auffordern, sie nur vorsichtig zu drücken.

»Welche entsetzliche Hitze!« sagte sie. »Das ist eine Qual für mich. Dieses Klima tötet mich!«

Als sie genügend über ihre Gesundheit und das Klima gejammert, gab sie den Trägern ein Zeichen, sich wieder auf den Weg zu machen.

»Sie werden uns doch sicher auf dem Lande besuchen, nicht wahr?« sagte sie noch zu Nechludoff, indem sie ihr langes Gesicht mit einem Lächeln ihrer falschen Zähne nach ihm umwandte.

Nechludoff ging auf den Perron. Der Zug des Fürsten wandte sich nach rechts, den Waggons erster Klasse zu. Nechludoff ging in Begleitung Taraß', des Mannes der Fedossja, der seine Reisetasche auf der Schulter trug, nach der andern Seite. Ein Gepäckträger, der Nechludoffs Sachen in der Hand hielt, folgte ihnen.

»Siehst du, das ist mein Reisegefährte,« sagte Nechludoff zu seiner Schwester und deutete auf Taraß, dessen Geschichte er ihr eben erzählt hatte.

»Wie? Darin willst du reisen?« sagte Natalia Iwanowna, als sie sah, wie ihr Bruder vor einem Wagen dritter Klasse stehen blieb und dem Gepäckträger ein Zeichen gab, seine Sachen dort hineinzustellen.

»Allerdings; es ist mir angenehmer, und dann will ich auch bei diesem braven Manne bleiben,« versetzte er.

»Höre noch das Eine,« fuhr er nach kurzer Pause fort, »meine Besitzungen in Kuzminskoja habe ich den Bauern nicht gegeben, also fallen sie, wenn ich sterbe, deinen Kindern zu.«

»Ich bitte dich, Dimitri, sprich nicht davon,« sagte Natalia Iwanowna.

»Und wenn ich mich verheirate ... nun, dann auch ... denn Kinder werde ich nicht haben ...«

»Ich bitte dich, sprich nicht davon!« wiederholte Natalia Iwanowna, doch Nechludoff sah an ihren Augen, daß ihr das, was er eben gesagt, Vergnügen bereitete.

Am äußersten Ende des Waggons hatte sich vor dem Coupé, in das die Fürstin Kortschagin gestiegen war, eine Gruppe Neugieriger gebildet. Doch fast alle Reisenden hatten sich schon auf ihre Plätze gesetzt; nur einige Nachzügler kamen, über die Stufen springend, herbeigelaufen; die Schaffner schlossen die Thüren, Nechludoff stieg in den Waggon und setzte sich ans Fenster.

Natalia Iwanowna blieb in Begleitung Agrippina Petrownas auf dem Perron stehen. Da sie sich in ihrer eleganten Toilette und ihrem Hute nach der letzten Mode hier offenbar unbehaglich fühlte, so suchte sie einen Gesprächsstoff, fand aber keinen. Sie konnte ihren Bruder nicht bitten, er solle ihr schreiben, denn jeder regelmäßige Briefwechsel hatte schon seit langer Zeit zwischen ihnen aufgehört. Außerdem hatte auch die Unterhaltung über die Geldfrage und die Erbschaft sozusagen den ganzen Rest geschwisterlicher Beziehungen vernichtet, und sie standen sich jetzt gänzlich fremd gegenüber.

Daher war Natalia Iwanowna im Grunde ihres Herzens glücklich, als sich der Zug in Bewegung setzte und sie ihrem Bruder kopfnickend und lächelnd: »Leb' wohl, leb' wohl, Dimitri!« zurufen konnte. Sobald der Zug sich entfernt hatte, dachte sie nur noch daran, wie sie ihrem Manne alle Einzelheiten der Unterhaltung erzählen sollte.

Auch Nechludoff fühlte sich, obwohl er für seine Schwester nur gute Gefühle empfand, obwohl er ihr durchaus nichts zu verbergen hatte, in ihrem Beisein verlassen, und wünschte sehnlichst, von ihr getrennt zu werden. Er hatte das Gefühl, von der Natascha, die ihm früher so nahe gestanden, wäre nichts mehr vorhanden. Seine Schwester konnte ihm jetzt nur noch als die Sklavin eines dicken schwarzen Mannes erscheinen, der ihn anwiderte. Er hatte zu deutlich gesehen, daß das Gesicht der jungen Frau sich nur verklärt und belebt hatte, als er ihr von dem, was ihren Mann interessierte, von der Abtretung der Besitzung an die Bauern, von der Hinterlassenschaft gesprochen hatte. Und darum erfüllte eine tiefe Traurigkeit sein Herz.

In dem großen Waggon dritter Klasse, der mit Reisenden vollgepfropft und seit dem Morgen der Sonne ausgesetzt war, war die Hitze so unerträglich, daß Nechludoff kaum, nachdem er sich gesetzt, wieder aufstehen und auf der äußeren Plattform bleiben mußte. Doch auch hier erstickte man, und Nechludoff konnte erst frei aufatmen, als der Zug die Häuser endlich passiert hatte und die freie Landluft erreichte.

»Mörder! Mörder!« sagte er sich und dachte an die Unterhaltung mit seiner Schwester über die Gefangenen. Von allen den Eindrücken, die er seit dem Morgen empfunden, suchte ihn ein einziger heim; er sah mit außergewöhnlicher Klarheit und Schärfe das schöne Gesicht des zweiten Toten mit seinen lächelnden Lippen, der strengen Stirn und dem fein gezeichneten kleinen Ohr wieder vor sich, das unter dem halb rasierten Schädel erschien.

»Ganz besonders gräßlich aber ist es,« sagte er sich, »daß diese Unglücklichen getötet worden sind, ohne daß man weiß, wer sie getötet hat. Sie sind wie alle andern Gefangenen auf einen schriftlichen Befehl Maslinnikoffs nach dem Bahnhof gebracht worden. Doch Maslinnikoff hat sich offenbar darauf beschränkt, eine Formalität zu erfüllen; man hat ihm ein in den Bureaus aufgesetztes Schriftstück zur Unterzeichnung vorgelegt; der Dummkopf hat seinen schönen Schnörkel darunter gesetzt, ohne sich darum zu kümmern, was darauf stand; und um keinen Preis der Welt würde er sich an den eben passierten Unfällen für verantwortlich halten. Auch den Gefängnisarzt, der die Verschickten vor der Abreise untersucht, wird man nicht verantwortlich machen können. Er hat seine Berufspflichten pünktlich erfüllt, hat die kranken Gefangenen ausgesondert und sie in die Wagen steigen lassen und jedenfalls nicht vorausgesehen, daß man den Zug in der Mittagsglut in dichtgedrängter Masse marschieren lassen würde. Der Direktor? Auch der Direktor hat nur die Befehle seiner Vorgesetzten ausgeführt; wie diese es ihm befohlen, hat er am festgesetzten Datum zur bestimmten Stunde eine bestimmte Anzahl von Gefangenen abgeschickt; so viel Männer, so viel Frauen. Auch den Führer des Zuges kann man nicht anklagen; man hat ihm befohlen, aus einem bestimmten Ort Gefangene abzuholen und sie nach einem bestimmten andern Ort zu bringen, und das hat er, so gut er es konnte, gethan. Er hat den Zug heut' ebenso geführt wie beim letzten Mal, und auch er konnte nicht voraussehen, daß kräftige und gesunde Männer, wie die beiden, die ich gesehen, die Anstrengung nicht ertragen und unterwegs sterben würden. Niemand ist schuld, und doch sind diese Unglücklichen umgebracht worden, und zwar gerade von diesen Männern, die an ihrem Tode gar nicht schuld sind!«

»Das kommt daher,« sagte sich Nechludoff weiter, »daß alle diese Männer, Gouverneure, Direktoren, Polizisten, Polizeileutnants der Meinung sind, es gäbe Situationen im Leben, wo die direkte Beziehung des Menschen zum Menschen nicht obligatorisch ist. Denn alle diese Männer, von Maslinnikoff bis zu dem Führer des Zuges, wären, wenn sie eben keine Beamten wären, wohl zwanzigmal auf den Gedanken gekommen, daß es nicht möglich ist, einen Trupp bei solcher Hitze marschieren zu lassen; wenn sie sahen, daß ein Gefangener unwohl wird, daß ihm der Atem ausgeht, so hatten sie ihn aus den Reihen treten lassen, ihn in den Schatten geführt und ihm Wasser gegeben, und ihm im Falle eines Unglücks Mitleid bezeugt. Doch sie haben nichts von alledem gethan und es nicht einmal andern gestattet, und zwar weil sie keine Menschen und nicht ihre Menschenpflicht ihnen gegenüber vor sich sahen, sondern nur ihren Dienst, das heißt Pflichten, die sie in ihren Augen von jeder direkten Beziehung von Mensch zu Mensch dispensierten.«

Nechludoff war so in seine Betrachtungen vertieft, daß er nicht bemerkte, daß das Wetter sich verändert hatte; die Sonne hatte sich mit dicken, niedrigen Wolken bedeckt, und vom Horizont her kam von Westen nach und nach ein graues Gewölk, das sich bereits in dichtem Regen über die Felder und Wälder verbreitete. Schon erfüllte Regengeruch die Luft. Zeitweise durchfurchte ein Blitz das Gewölk, und in den Lärm der dahinrasselnden Waggons mischte sich das Krachen eines fernen Donners. Unaufhörlich kamen die Wolken näher, und große, vom Winde gejagte Regentropfen fielen auf Nechludoffs Jackett. Er ging nach der andern Seite der Plattform, atmete mit vollen Lungen den frischen Wind und den wohlthuenden Duft des nach Regen dürstenden Erdreichs ein und betrachtete die Gärten, die Wälder, die gelben Roggenfelder, die noch grünen Haferfelder und die schwarzen Flecke der Kartoffelstauden. Alles hatte sich plötzlich wie mit einer Lackschicht überzogen, das Grün war grüner, das Gelb gelber, das Schwarz schwärzer geworden.

»Immer mehr! Immer mehr!« rief Nechludoff, der unwillkürlich bei der Berührung des Regens die Fröhlichkeit der Felder und Wälder teilte.

Und thatsächlich ward der Regen stärker; doch er dauerte nur kurze Zeit. Das düstere Gewölk, das sich zum Teil zerstreut, zog sich nach einer andern Stelle, und auf den nassen Erdboden fielen nur noch kleine, spärliche, weiche Tropfen, die Sonne erschien wieder, alles verklärte sich von neuem und am Horizont zeigte sich aus der westlichen Seite ein kleiner Regenbogen, in dem die violetten Farben vorherrschten.

»Woran dachte ich doch eben?« sagte sich Nechludoff, als alle diese Veränderungen vorüber waren und der Zug in einen tiefen Tunnel eingedrungen war, von dem aus man die Felder nicht mehr sehen konnte. »Ach ja, ich dachte daran, wie dieser Direktor, dieser Führer des Gefangenentrupps, alle diese Beamten, die doch meistens gute und harmlose Menschen waren, sich in böse Menschen umgewandelt haben!«

Und Nechludoff erinnerte sich, mit welcher Gleichgültigkeit Maslinnikoff die Erzählung der Vorgänge im Gefängnis angehört hatte; er dachte an die Strenge des Direktors, an die Härte des Führers des Gefangenentrupps, der ein Weib in Geburtswehen hilflos leiden ließ.

»Alle diese Menschen sind für das Gefühl der Menschlichkeit offenbar unzugänglich, wie die Steine dieses Tunnels gegen den Regen gefeit sind,« dachte er und betrachtete die Steinreihen, an denen das Wasser bis zu den Waggonrädern herüberspritzte. Vielleicht ist es nötig, diese Tunnels zu graben und sie mit Steinen zu bekleiden, doch es thut einem weh, diese Erde des Regens beraubt zu sehen, auf den sie wartet; diese Erde, die doch auch Getreide, Gras, Sträucher und Bäume hätte hervorbringen können. Und ebenso ist es mit den Menschen! Alles Uebel kommt daher, daß die Menschen glauben, es existieren gewisse Situationen, in denen man lieblos gegen die Menschen handeln kann, während solche Situationen nicht existieren. Gegen tote Gegenstände kann man lieblos handeln; man kann lieblos das Holz spalten, das Eisen schmieden und Ziegel brennen; doch in den Beziehungen eines Menschen zum andern ist die Liebe ebenso unbedingt nötig, als es zum Beispiel die Klugheit im Verkehr des Menschen mit den Bienen ist. Die Natur will es so; es ist eine Notwendigkeit in der Ordnung der Dinge. Wollte man die Klugheit beiseite lassen, wenn man mit den Bienen zu thun hat, so würde man sich und den Bienen schaden. Und ebenso darf man die Liebe nicht außer acht lassen, wenn man mit den Menschen zu thun hat. Und das ist nur gerecht; denn die gegenseitige Liebe zu den Menschen ist das einzig mögliche Fundament des menschlichen Lebens. Gewiß kann sich ein Mensch nicht zur Liebe zwingen, wie er sich zur Arbeit zwingen kann; doch daraus ergiebt sich nicht, daß jemand lieblos gegen die Menschen handeln darf, besonders wenn er andere Menschen braucht. Ein Mensch, der keine Liebe zu den anderen Menschen fühlt, ein solcher Mensch beschäftigt sich nur mit sich, mit den leblosen Dingen, mit allem, was ihm beliebt, nur nicht mit den Menschen. Ebenso wie man nicht ohne Schaden und nur dann mit Nutzen essen kann, wenn man das Bedürfnis zu essen empfindet, ebenso kann man gegen die Menschen nur dann ohne Schaden und mit Nutzen handeln, wenn man die Menschen liebt. Erlaube dir nur, gegen die Menschen zu handeln, ohne sie zu lieben, wie du es gestern bei deinem Schwager gethan, und es giebt keine Grenze für das Böse, das deine Härte vernichten wird.«

»Ja, ja, so ist's! Das ist wahr!« wiederholte sich Nechludoff und freute sich, nach der schrecklichen Hitze, die ihn bedrückte, gleichzeitig ein bißchen Erfrischung gefunden und in der Lösung des Moralproblems, das ihn beschäftigte, einen Schritt weiter gethan zu haben.


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