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Achtes Kapitel

Der Aufbruch der Sträflingsabteilung, zu der die Maslow gehörte, war endgültig auf den 4. Juli festgesetzt, und Nechludoff beschloß, an demselben Tage abzureisen. Er benachrichtigte seine Schwester, die am Tage vor der Abreise ihres Bruders mit ihrem Manne nach der Stadt kam. Nechludoffs Schwester, Natalie Iwanowna Ragojinska, war zehn Jahre älter als er und hatte einen großen Einfluß auf seine Erziehung gehabt. Als Kind hatte sie ihn sehr geliebt, und später, bis zu ihrer Heirat, hatte sie eine vollständige Uebereinstimmung in Gefühlen und Ideen noch stärker miteinander verbunden. Das junge Mädchen war damals in Nikolaus Irteneff, den intimen Freund und Vertrauten ihres Bruders, verliebt.

Dann waren Bruder und Schwester heruntergekommen, Nechludoff durch seinen Verkehr in der Gesellschaft, seine Schwester durch ihre Heirat. Sie hatte einen Menschen geheiratet, den sie rein sinnlich liebte, der aber keinen Geschmack an dem fand, was ihr Bruder und sie früher als das Ideal des Guten und Schönen betrachtet hatten. Und ihr Mann hatte nicht nur keinen Geschmack am Idealen, sondern er war auch unfähig, es zu begreifen. Dieses Streben nach der moralischen Vollkommenheit, dieser Wunsch, sich den Menschen nützlich zu machen, alles, was das Herz Nataliens erfüllte, legte ihr Mann einzig und allein in der ihm verständlichen Weise aus, indem er es auf Rechnung eines raffinierten Egoismus schrieb, dem sich ein krankhafter Wunsch, alles in Erstaunen zu setzen und sich bewundern zu lassen, hinzugesellte.

Ragojinski war ein Mann ohne Vermögen und von geringer Herkunft; doch durch seine natürliche Oberflächlichkeit, seine Neigung zur Intrigue und vor allem die Gabe, den Frauen zu gefallen, hatte er eine ziemlich glänzende Karriere im Beamtenstande gemacht. Er zählte schon fast vierzig Jahre, als er im Auslande die Bekanntschaft Nechludoffs machte, sich die Liebe Nataliens erworben und sich fast gegen die Einwilligung der Mutter, die diese Heirat als eine Mesalliance betrachtete, mit ihr verheiratet hatte.

Nechludoff verabscheute seinen Schwager, obwohl er sich dieses Gefühl selbst zu verheimlichen suchte. Er verabscheute ihn wegen der Niedrigkeit seiner Seele, wegen seines beschränkten Geistes und seiner Selbstgefälligkeit; doch noch mehr verabscheute er ihn, weil seine Schwester eine so selbstsüchtige Liebe zu dieser niedrigen Natur hatte fassen und diese Liebe alles Edle und Schöne in ihr hatte ersticken können. Nie konnte sich Nechludoff ohne Schmerz daran erinnern, daß Natascha die Frau dieses dicken Mannes mit dem leuchtenden Schädel geworden war. Selbst die Kinder, die sie gehabt, konnte er nicht so recht lieben, und jedesmal, wenn er erfuhr, daß sie wieder in andern Umständen war, hatte er unwillkürlich die Empfindung, sie hatte sich von neuem in dem Verkehr mit diesem Manne, der ihn anwiderte, eine häßliche Krankheit zugezogen.

Diesmal waren die Ragojinskis ohne ihre Kinder nach der Stadt gekommen. Als sie sich in den besten Zimmern des besten Hotels eingerichtet, ging Natalia Iwanowna aus und ließ sich nach dem alten Hause ihrer Mutter fahren; als sie Dimitri dort nicht fand und von Agrippina Petrowna erfuhr, er wohne nicht mehr dort, begab sie sich sogleich nach dem Gasthofe, in dem er abgestiegen war. Doch auch hier konnte sie ihn nicht finden. Ein schmutziger Diener, der ihr in einem düstern Korridor, in welchem den ganzen Tag über Gas brannte, entgegenkam, erklärte ihr, der »Fürst« wäre nicht zu Hause. Natalia Iwanowna sagte dem Diener, sie wäre die Schwester Nechludoffs, und bat ihn, sie in die von ihm bewohnten Zimmer treten zu lassen, um ihm ein paar Worte zu schreiben; doch bevor sie zu schreiben anfing, konnte sie sich nicht enthalten, neugierig die beiden kleinen Zimmer zu betrachten, die ihr Bruder bewohnte. Ueberall fand sie die peinliche Ordnung und Sauberkeit wieder, die sie einst an ihm gekannt, doch seine bescheidene Einrichtung setzte sie in Erstaunen und that ihr weh. Sie freute sich, als sie wenigstens auf dem Schreibtisch, auf einem Stoß von Papieren, den alten Marmorbriefbeschwerer mit dem bronzenen Hund wiedersah, und mit großem Vergnügen sah sie aus einem großen Bande mit grünem Deckel die beiden Enden eines elfenbeinernen Papiermessers hervorragen, das sie selbst ihrem Bruder einst geschenkt. Als sie ihre Betrachtung beendet, schrieb sie Nechludoff ein Billet, in welchem sie ihn bat, sie so schnell wie möglich zu besuchen, stieg dann wieder in den Wagen und ließ sich nach Hause fahren.

Zweierlei interessierte Natalia Iwanowna bei ihrem Bruder ganz besonders. Sie wollte wissen, wie es eigentlich um seine Heirat mit Katuscha stand, von der jedermann selbst in der kleinen Stadt sprach, in der sie wohnte. Und sie wollte auch genaue Auskunft über die Abtretung der Güter an die Bauern haben, von der man vielleicht noch mehr sprach und die man gern als eine That von politischem und höchst gefährlichem Charakter hingestellt hätte.

Die Heirat mit Katuscha war Natalia in gewisser Hinsicht nicht unangenehm. Ihr gefiel die Entschlossenheit, die ihr Bruder bei dieser Gelegenheit zeigte, denn sie fand darin ihn und sich wieder, wie sie während ihrer Jugend gewesen waren. Andererseits aber konnte sie nicht ohne Angst daran denken, daß ihr Bruder ein so abscheuliches Geschöpf heiraten sollte, und dieses zweite Gefühl hatte sogar über das erste die Oberhand gewonnen, so daß sie entschlossen war, ihr möglichstes zu thun, um ihren Bruder von seinem Heiratsplane abzubringen, wobei sie sich übrigens vollauf bewußt war, daß das sehr schwierig sein würde.

Was die zweite Angelegenheit, die Abtretung der Güter an die Bauern betraf, so war ihr das im Grunde viel gleichgültiger; ihr Mann dagegen hatte sich darüber aufgeregt und verlangt, sie solle Nechludoff gegenüber darauf bestehen, er möge seinen Entschluß zurücknehmen. Ignaz Nikophorowitsch Ragojinski sagte, dieser Entschluß wäre der Gipfel des Ungesetzlichen, der Leichtfertigkeit und auch der Eitelkeit, denn er ließe sich nur durch eine wahre Manie, aus dem Rahmen herauszutreten und die Aufmerksamkeit der Welt zu erregen, erklären.

»Was hat es denn für einen Sinn, den Bauern Aecker zu geben, wenn man sie zwingt, für sich selbst zu bezahlen?« sagte er. »Wenn Dimitri seine Ländereien durchaus loswerden wollte, so konnte er sie ja durch die Vermittlung der landwirtschaftlichen Bank verkaufen. Das hätte wenigstens einen Sinn gehabt. »Uebrigens deutet sein ganzes Benehmen auf einen anormalen Geisteszustand hin,« fügte der dicke Schlauberger hinzu, der sich schon in der Möglichkeit eines gerichtlichen Verbotes gefiel, das ihm die Vormundschaft über seinen Schwager in die Hände gespielt hätte.


Als Nechludoff das Billet seiner Schwester auf seinem Tische fand, begab er sich sofort zu ihr. Sie war allein in einem großen, als Salon dienenden Zimmer; ihr Mann hielt im Schlafzimmer Siesta. Natalia Iwanowna trug ein in der Taille eng geschnürtes schwarzes Seidenkleid mit einem roten Kragen am Halse; ihre hochgekämmten Haare waren nach der neuesten Mode frisiert. Man sah, sie that alles Mögliche, um sich zu verjüngen und so ihrem Manne zu gefallen.

Als sie ihren Bruder erblickte, lief sie ihm mit schnellem Schritte, der ihren Seidenrock rauschen ließ, entgegen. Bruder und Schwester umarmten sich und sahen sich dann lächelnd in die Augen. Dieser geheimnisvolle Austausch der Blicke ließ die volle Wahrheit ihres seelischen Zustandes erkennen; doch schon im nächsten Augenblick folgte ihm ein Austausch von Worten, der schon nicht mehr ganz der Wahrheit entsprach.

Nechludoff hatte seine Schwester seit dem Tode seiner Mutter nicht mehr wiedergesehen und sagte:

»Du bist stärker und jünger geworden!«

Nataliens Lippen zitterten vor Vergnügen.

»Du bist aber magerer geworden!«

»Ignaz Nikophorowitsch ist nicht da?«

»Er ruht sich ein bißchen aus. Er hat diese Nacht, nicht geschlafen ... Du weißt doch, daß ich bei dir war?«

»Ja, ich habe deinen Brief gefunden. Ich mußte unser Haus verlassen. Es war zu groß, ich fühlte mich dort zu einsam und langweilte mich. Alle Möbel, alles, was sich im Hause befindet, ist für mich jetzt unnütz; nimm es alles für dich und mach' damit, was du willst!«

»Ja, Agrippina Petrowna hat mir schon davon erzählt. Ich danke dir herzlich, aber ...«

In diesem Augenblick brachte der Oberkellner auf einem silbernen Tablett das Theeservice. Nechludoff und seine Schwester schwiegen, bis er fort war, dann fuhr Natalia fort, indem sie plötzlich die Augen auf den Bruder richtete:

»Nun, Dimitri, ich weiß alles!«

Nechludoff antwortete nichts.

»Aber kannst du denn wirklich die Hoffnung hegen, dieses Geschöpf, nach dem Leben, das sie geführt, zum Guten zurückbringen zu können?« fragte ihn seine Schwester.

Nechludoff sagte noch immer nichts, sondern dachte, wie er ihr sein Verhalten erklären konnte, ohne sie zu erzürnen. Er fühlte sich freudiger als je bewegt, und inniger als je empfand er den Wunsch, mit allen Menschen in Frieden zu leben.

»Ich habe sie nicht zum Guten zurückzuführen, sondern muß selbst dahin zurückkehren,« sagte er schließlich.

Natalia Iwanowna stieß einen Seufzer aus.

»Aber dazu giebt es doch andere Mittel, als sie zu heiraten!«

»Gewiß, aber ich glaube, das ist das beste; ganz abgesehen davon, daß es mir eine Welt erschließt, in der ich mich nützlich machen kann.«

»Ich bin überzeugt, diese Heirat wird dein Unglück ausmachen,« sagte Natalia.

»Ich habe mich nicht mehr um mein Glück zu kümmern!«

»Ja, ich verstehe! Aber sie kann eine solche Heirat, wenn sie Herz hat, nicht glücklich machen; sie kann sie nicht wünschen!«

»Sie wünscht sie auch nicht!«

»Aber schließlich ... das Leben ...«

»Nun?«

»Das Leben verlangt etwas anderes!«

»Das Leben verlangt nichts, außer daß wir unsere Pflicht thun!« versetzte Nechludoff und betrachtete das schöne Gesicht seiner Schwester, in dem die Jahre schon Runzeln um Mund und Augen zogen.

»Ich verstehe dich nicht,« sagte sie.

»Die Aermste! Wie sie sich verändert hat,« dachte Nechludoff, und tausend Jugenderinnerungen kamen ihm in den Sinn, während ein heißer Strom von Zärtlichkeit sein Herz überflutete.

In diesem Augenblick sah er aus dem Nebenzimmer seinen Schwager Ignaz Nikophorowitsch treten, der wie stets den Kopf hoch und die Brust herausgestreckt trug. Der dicke Mann lächelte wohlgefällig, und Nechludoff sah gleichzeitig die Gläser seines Lorgnons, seinen kahlen Schädel und seinen schwarzen Bart leuchten. »Wie freue ich mich, Sie zu sehen!« rief er in affektiertem Tone. Zuerst hatte er seinen Schwager zu duzen versucht, doch bei dem geringen Erfolge seines Versuches hatte er sich genötigt gesehen, zum »Sie« zurückzukehren.

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand, und Ignaz Nikophorowitsch ließ sich sanft in einen Sessel fallen.

»Ich unterbreche Ihre Unterhaltung nicht?«

»Durchaus nicht; ich verhehle niemandem, was ich sage oder thue!«

Als Nechludoff dieses gewöhnliche Gesicht, diese behaarten Hände wiedergesehen und diesen katzenfreundlichen und protektorhaften Tonfall gehört, war sein Gefühl allgemeiner Freundlichkeit mit einem Schlage geschwunden.

»Ja, wir sprechen von seinem Projekt,« sagte Natalie. »Willst du Thee?«

»Gewiß! Mit Vergnügen! Um welches Projekt handelt es sich?«

»Von meinem Projekt, in Begleitung eines zur Zwangsarbeit verurteilten Weibes, dem gegenüber ich mich schuldig fühle, nach Sibirien zu gehen,« erklärte Nechludoff.

»Ich habe sogar gehört, daß Sie noch nicht zufrieden sind, sie zu begleiten, sondern sich noch viel mehr für sie zu thun entschlossen haben.«

»Ganz recht! Sie zu heiraten, wenn sie darauf nur eingeht!«

»Wirklich? Nun, ich wäre Ihnen sehr verpflichtet, wenn Sie mir die Gründe Ihres Verhaltens ein wenig erklären wollten. Ich muß Ihnen gestehen, ich verstehe sie nicht.«

»Die Gründe sind, daß dieses Weib ... ihr erster Schritt auf dem Wege des Lasters ...«

Nechludoff fand nicht den richtigen Ausdruck und wurde dadurch nur noch mehr gereizt.

»Der Grund meines Verhaltens,« sagte er endlich, »ist der, daß ich der Schuldige bin, während sie verurteilt worden ist!«

»O, wenn man sie verurteilt hat, ist sie gewiß auch nicht unschuldig!«

»Verzeihung, sie ist vollständig unschuldig,« versetzte Nechludoff und erzählte in ganz unnötiger Erregung die ganze Prozeßgeschichte der Maslow.

»Ja, jetzt sehe ich, wie die Sache zusammenhängt! Das kommt alles von der Nachlässigkeit des Präsidenten und der Unüberlegtheit der Geschworenen. Aber für solche Sachen ist doch der Senat da!«

»Der Senat hat die Berufung verworfen.«

»Dann waren die Annullierungsgründe nicht genügend!« versetzte Ignaz Nikophorowitsch. »Der Senat hat die Sachen an sich nicht zu untersuchen. Doch wenn wirklich ein Justizirrtum vorlag, so hätte man ein Gnadengesuch einreichen müssen.«

»Das haben wir bereits gethan, doch ohne jede Hoffnung auf Erfolg. Man wird im Ministerium eine Untersuchung eröffnen, der Minister wird sich an den Senat wenden, der Senat wird ablehnend antworten, und so wird der Unschuldige wie üblich verurteilt werden!«

»Gestatten Sie, gestatten Sie,« sagte Ignaz Nikophorowitsch mit herablassendem Lächeln. »Erstens wird sich der Minister nicht an den Senat wenden, sondern die Akten des Falles einfordern, und wenn wirklich ein Irrtum vorliegt, seine Schlußfolgerungen ziehen. Dann ist es zweitens durchaus nicht üblich, daß der Unschuldige verurteilt wird. Die Schuldigen werden verurteilt,« fuhr der dicke Mann mit seinem ruhigen Tone und seinem ewigen zufriedenen Lächeln fort.

»Nun, ich bin aber vom Gegenteil überzeugt,« behauptete Nechludoff, der immer zorniger auf seinen Schwager wurde. »Ich bin überzeugt, daß fast die Hälfte der Leute, die die Gerichte verurteilen, unschuldig sind.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind unschuldig im gewöhnlichsten Sinne des Wortes, wie dieses Weib unschuldig ist, den Kaufmann vergiftet zu haben, wie es ein Mann ist, den ich in diesen Tagen gesehen habe und der wegen eines nicht begangenen Mordes verurteilt worden ist, wie ein Sohn und eine Mutter an einer Brandstiftung unschuldig sind, die der Ankläger selbst angelegt hat!«

»Ja, gewiß; aber es hat stets Justizirrtümer gegeben und wird stets welche geben. Die menschliche Justiz kann keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit erheben.«

»Aber die große Mehrheit der Verurteilten sind unschuldig, weil sie in gewissen Milieus erzogen sind und die Handlungen, die sie begangen, nicht als Verbrechen angesehen haben.«

»Gestatten Sie! Jeder Dieb weiß, daß der Diebstahl keine gute Handlung ist, daß man nicht stehlen darf, und daß das Stehlen etwas Unmoralisches ist,« sagte Ignaz Nikophorowitsch mit einem leicht ironischen Lächeln, das Nechludoff vollends in Wut brachte.

»Er weiß es durchaus nicht! Man sagt ihm, er solle nicht stehlen; doch er sieht, daß sein Meister ihm seine Arbeit stiehlt, daß die Beamten ihm sein Geld stehlen ...«

»Wissen Sie, daß das, was Sie da sagen, ganz einfach Anarchismus ist,« unterbrach Ignaz Nikophorowitsch mit seinem ruhigsten Tone.

»Es kümmert mich wenig, wie das heißt, was ich sage; ich sage nur, was ist!« fuhr Nechludoff fort, »Dieser Mensch weiß, daß die Beamten ihn bestehlen; er weiß, daß wir, die Besitzer, ihn bestehlen, indem wir das zu unserem Nutzen ausbeuten, was gemeinsames Eigentum sein sollte. Und wenn dieser Mensch sich dann aus unseren Wäldern ein paar Zweige Reisigholz nimmt, um sein Feuer anzuzünden, dann werfen wir ihn ins Gefängnis und reden ihm ein, er sei ein Dieb.«

»Ich verstehe Sie nicht, oder vielmehr, wenn ich Sie verstehe, so muß ich bedauern, mit Ihnen nicht einer Meinung sein zu können! Die Erde muß notgedrungen einem Herrn gehören. Wenn Sie sie heut' in gleiche Teile teilen, so wird sie morgen wieder den Arbeitsamsten und den Fleißigsten zufallen ...«

»Aber es spricht ja auch niemand davon, die Erde in gleiche Teile zu teilen. Die Erde darf niemandem gehören, sie darf kein Kaufs- und Verkaufsobjekt werden.«

»Das Eigentumsrecht ist dem Menschen angeboren. Ohne dasselbe hätte niemand Neigung, die Erde zu bebauen. Unterdrücken wir das Eigentumsrecht, und wir kehren gleich wieder zum Zustand der Wilden zurück,« sagte Ignaz Nikophorowitsch in strengem Tone.

»Gerade das Gegenteil ist wahr! Dann wird die Erde nicht mehr unnütz sein, wie sie es jetzt ist!«

»Hören Sie, Dimitri Iwanowitsch, was Sie da sagen, ist vollständig unsinnig. Ist es denn in unserer Zeit möglich, das Eigentumsrecht zu unterdrücken? Ich weiß, daß Sie diese Manie schon seit langer Zeit haben! Doch gestatten Sie mir, Ihnen offen herauszusagen ...«

Ignaz Nikophorowitschs Gesicht war plötzlich blaß geworden, und seine Stimme hatte zu zittern angefangen. Diese Frage ging ihm offenbar, im Gegensatz zu den vorigen, sehr nahe.

»Ich möchte Ihnen aufrichtig raten, sich diese Sache noch ein bißchen zu überlegen, bevor Sie Ihre Ideen darüber praktisch ausführen!«

»Sie wollen von meiner persönlichen Angelegenheit sprechen?«

»Ja, ich meine, daß wir alle, die wir eine gewisse Stellung einnehmen, uns in die Verantwortlichkeit fügen müssen, die sich aus dieser Stellung ergiebt. Wir müssen die Lebensbedingungen aufrecht erhalten, in denen wir geboren sind, die wir von unserem Eltern empfangen haben und die wir unseren Nachkommen überliefern müssen ...« »Ich halte es für meine Pflicht ...«

»Gestatten Sie!« sagte Ignaz Nikophorowitsch, ohne sich unterbrechen zu lassen. »Weder mein Interesse, noch das meiner Kinder haben mit dem, was ich Ihnen sage, etwas zu thun. Das Schicksal meiner Kinder ist gesichert, und was mich betrifft, so hoffe ich, mir meinen Lebensunterhalt, so lange ich lebe, verdienen zu können. Deshalb ersuche ich Sie ohne eigennützigen Hintergedanken, in rein theoretischer Weise, aus reiner Ueberzeugung, noch einmal nachzudenken; lesen Sie zum Beispiel ...«

»Bitte, lassen Sie mich mich selbst um meine Angelegenheiten kümmern und sorgen Sie sich nicht darum, was ich lesen muß,« rief Nechludoff, ebenfalls blaß werdend. Er fühlte, daß seine Hände kalt wurden und er nicht mehr Herr seiner selbst war. Er schwieg und begann, seine Tasse Thee zu trinken. »Aber wo sind denn deine Kinder?« fragte Nechludoff seine Schwester, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte.

Natalie versetzte, die Kinder wären bei ihrer Großmutter geblieben, und hocherfreut, daß der Streit Nechludoffs mit ihrem Manne zu Ende war, begann sie zu erzählen, wie ihre Kinder auf der Reise ganz so mit ihren Puppen spielten, wie Nechludoff in seiner Kindheit mit seinem Neger und der großen Puppe gespielt, die er die »Französin« nannte.

»Du erinnerst dich noch daran?« sagte Nechludoff lächelnd.

»Ja, und denke dir, sie spielen ganz ebenso!«

Der peinliche Eindruck war verschwunden. Beruhigt lenkte Natalie, die vor ihrem Manne nicht von Dingen sprechen wollte, die nur sie und ihr Bruder allein verstanden, die Unterhaltung auf das große Ereignis von St. Petersburg, das Duell, in welchem der junge Kamensky getötet worden war.

Ignaz Nikophorowitsch mißbilligte das Vorurteil, das das Duell nicht als gewöhnlichen Mord betrachtete, auf das lebhafteste. Diese Mißbilligung genügte, um Nechludoff von neuem zu empören, und der Streit begann wieder auf diesem andern Gebiet. Ignaz Nikophorowitsch fühlte, daß Nechludoff ihn verachtete und wollte ihm die Ungerechtigkeit dieser Verachtung beweisen, Nechludoff seinerseits war empört, daß sein Schwager sich in seine Angelegenheiten mischte, wobei er übrigens im Grunde seines Herzens anerkannte, daß er als naher Verwandter das Recht dazu hatte. Vor allem aber empörte ihn die Sicherheit und Selbstgefälligkeit, mit der sein Schwager Grundsätze als vernünftig hinstellte, die ihm, Nechludoff, jetzt als höchst albern erschienen.

»Was sollte man denn aber sonst thun?« fragte er.

»Man sollte den Gegner Kamenskys wie einen gewöhnlichen Mörder zur Zwangsarbeit verurteilen.«

»Und was für einen Vorteil hätten Sie darin gefunden?«

»Das wäre gerecht gewesen!«

»Als wenn die gerichtliche Organisation von heut' mit der Justiz etwas zu thun hätte!« sagte Nechludoff.

»Und welchen andern Zweck hat sie Ihrer Meinung nach?«

»Sie hat den einzigen Zweck, einen einer gewissen sozialen Klasse günstigen Zustand aufrecht zu erhalten.«

»Das ist mir neu!« versetzte Ignaz Nikophorowitsch lächelnd. »Das ist nicht die Rolle, die man der Justiz gewöhnlich zuschreibt!«

»In der Theorie, nein; doch in der Praxis ist es so; davon habe ich mich selbst überzeugen können. Unsere Gerichte dienen nur dazu, die Gesellschaft in ihrem heutigen Zustande zu erhalten; und daher kommt es, daß sie alle diejenigen verfolgen und bestrafen, die unter dem gewöhnlichen Niveau und ebenso die, die darüber stehen und die Gesellschaft zu ihrem Niveau zu erheben versuchen.«

»Ich kann Ihre Behauptung nicht dulden, daß die Richter Menschen verurteilen, die über dem gewöhnlichen Niveau stehen. Die Menschen, die wir verurteilen, sind meistens der Abschaum der Gesellschaft!«

»Und ich kenne Sträflinge, die unendlich höher stehen, als ihre Richter!«

Doch Ignaz Nikophorowitsch, der nicht gewöhnt war, sich das Wort abschneiden zu lassen, sprach weiter, ohne auf Nechludoff zu hören, was diesen im höchsten Grade empörte.

»Und ich kann auch,« fuhr er fort, »Ihre Behauptung nicht dulden, die Gerichte hätten den Zweck, den gegenwärtigen Zustand aufrecht zu erhalten. Die Gerichte haben einen doppelten Zweck: erstens zu verbessern...«

»Eine hübsche Besserung, die sich aus dem Gefängnissystem ergiebt,« rief Nechludoff.

»Zweitens: diese verrohten und vertierten Wesen, die eine Drohung für das sociale Leben bilden, unschädlich zu machen.«

»Und ich sage Ihnen, die Gerichte erfüllen weder das eine noch das andere! Von vernünftigen Strafen giebt es nur zwei, die beiden einzigen, die man früher gebrauchte: die Peitsche und der Tod!«

»Nun, diese Behauptung hätte ich von Ihnen wahrhaftig nicht erwartet!«

»Aber gewiß! Einen Menschen leiden zu lassen, um ihn an der Wiederholung einer Handlung zu hindern, die ihm Schmerz bereitet hat, das ist vernünftig; und einem Menschen, der für den andern Menschen gefährlich ist, den Kopf abzuschneiden, das hat auch einen Sinn. Doch welchen hat es, sich eines von der Faulheit und dem schlechten Beispiel bereits verdorbenen Menschen zu bemächtigen, um ihn in ein Gefängnis einzuschließen, in welchem die Faulheit für ihn zu einer Verpflichtung wird, und wo ihn die schlechten Beispiele auf allen Seiten umgeben? Oder welchen Sinn hat es, ihn auf Staatskosten – man hat mir gesagt, das koste nicht weniger als fünfhundert Rubel pro Mann – von dem Gouvernement Tula in das von Irkutsk oder Karsk zu befördern ...«

»Aber die Leute fürchten doch diese Reisen auf Staatskosten, und ohne diese Reisen und die Gefängnisse würden wir nicht so ruhig hier sitzen, wie wir es heut' thun!«

»Trotzdem dürfen Sie mit Ihren Gefängnissen nicht den Anspruch erheben, Sie beschützten die Gesellschaft, denn die Menschen, die Sie ins Gefängnis sperren, kommen früher oder später wieder heraus, und das System, dem Sie sie unterwerfen, hat nur den Zweck, sie noch gefährlicher zu machen.«

»Sie wollen sagen, unser Strafsystem bedürfe der Vervollkommnung?«

»Aber durchaus nicht! Das wäre unnütze Mühe. Mit der Vervollkommnung der Gefängnisse würde man noch mehr Geld verlieren, als man heut' mit der Verbreitung des öffentlichen Unterrichts verliert, und auch das müßten wieder die armen Leute bezahlen.«

»Ja, was soll man denn aber thun? Alle Welt umbringen? Oder wie es kürzlich ein bedeutender Staatsmann vorgeschlagen hat, den Verbrechern die Augen ausstechen?« fragte Ignaz Nikophorowitsch mit erzwungenem Lächeln.

»Das wäre grausam, aber es hätte wenigstens einen Sinn! während das, was man jetzt thut, auch grausam ist, aber keinen Sinn hat.«

»Aber ich gehöre ja selbst diesen Gerichten an, von denen Sie so sprechen,« sagte Ignaz Nikophorowitsch erblassend.

»Das ist Ihre Sache! Ich beschränke mich darauf, das zu erwähnen, was ich nicht verstehe.«

»Es giebt viele Dinge, die Sie nicht verstehen,« rief Ignaz Nikophorowitsch mit zitternder Stimme.

»Ich habe im Schwurgerichtshof gesehen, wie ein Staatsanwalt einen unglücklichen Burschen verurteilen ließ, der bei jedem nur einigermaßen anständigen Manne nichts als Mitleid hervorgerufen hätte.«

»Ich würde den Beruf, den ich ausübe, gewiß nicht ausüben, wäre ich von seiner Gesetzlichkeit nicht überzeugt,« sagte Ignaz Nikophorowitsch und erhob sich.

Nechludoff glaubte unter dem Lorgnon seines Schwagers etwas leuchten zu sehen und dachte: »Mein Gott, ich hoffe, es sind keine Thränen.« Es waren aber thatsächlich Thränen, Thränen des Aergers und der Demütigung. Ignaz Nikophorowitsch näherte sich dem Fenster, zog sein Taschentuch heraus, trocknete sein Lorgnon ab und wischte sich gleichzeitig die Augen. Dann setzte er sich auf den Divan, steckte sich eine Cigarre an und sagte nichts mehr.

Nechludoff fühlte sich bei dem Gedanken, seinen Schwager und seine Schwester derartig verletzt zu haben, gleichzeitig tieftraurig und beschämt, um so mehr, da er am nächsten Tage abreiste und wohl wußte, er würde sie wiederzusehen keine Gelegenheit mehr haben. Nach einigen alltäglichen Worten nahm er von ihnen Abschied und kehrte nach Hause zurück.

»Was ich ihm gesagt, ist vielleicht wahr,« sagte er sich. Doch auf jeden Fall hätte ich nicht so zu ihm sprechen sollen. Die Veränderung, die in mir vorgegangen, ist wirklich noch nicht sehr tief gedrungen, daß ich mich so habe aufregen lassen, Ignaz Nikophorowitsch so tief demütigen und meiner armen Natascha so wehe habe thun können!«


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