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Als Nechludoff sich am nächsten Morgen ankleidete, brachte ihm der Diener eine Karte des Advokaten Fajnitzin, der sich selbst auf den Weg gemacht hatte, nachdem er sein Telegramm erhalten. Er fragte Nechludoff nach den Namen der Senatoren, vor denen die Sache zur Verhandlung gelangen sollte.
»Man möchte wahrhaftig glauben, sie wären absichtlich ausgesucht, um die verschiedenen Typen des Senators zu verkörpern,« rief er. »Wolff ist der Petersburger Beamte, Skoworosnikoff der gelehrte Jurist, und Be der praktische Jurist. Auf ihn können wir am meisten rechnen. Na, und wie steht's mit der Begnadigungskommission?«
»Ich will eben zu dem Baron Worobjeff gehen. Gestern konnte ich nicht zu ihm gelangen.«
»Wissen Sie, warum dieser Worobjeff Baron ist?« fragte der Advokat als Antwort auf die ironische Betonung, mit der Nechludoff diesen fremden Titel »Baron« aussprach, der einem so durchaus russischen Namen beigefügt war. »Der Kaiser Paul hat diesen Titel seinem Großvater verliehen, der bei ihm Kammerdiener war. Da dieser Diener ihm einige Dienste intimen Genres erwiesen hatte, so ernannte ihn der Kaiser zum Baron, denn einen russischen Titel wagte er ihm nicht zu geben, das hätte zu viel Geschrei gegeben. Seitdem haben wir die Barone Worobjeff. Und man muß sehen, wie stolz der Kerl auf seinen Titel ist. Uebrigens ein Stockfisch ohnegleichen. Ich habe einen Wagen vor der Thür; soll ich Sie hinbringen?«
Auf der Freitreppe übergab der Portier Nechludoff ein Billet, das ein Diener eben für ihn gebracht. Es war von Mariette und lautete folgendermaßen:
»Um Ihnen gefällig zu sein, habe ich ganz gegen meine Grundsätze gehandelt und mich bei meinem Manne für Ihren Schützling verwendet. Die betreffende Person kann sofort freigelassen werden. Mein Mann hat an den Kommandanten geschrieben. Machen Sie mir doch jetzt einen »uneigennützigen« Besuch, Ich erwarte Sie. – M.«
»Wie?« rief Nechludoff; »diese Frau halten sie seit sieben Monaten in geheimem Gewahrsam, und jetzt entdecken sie, daß sie nichts verbrochen hat! Und es hat nur eines Wortes bedurft, um sie in Freiheit zu setzen!«
»Darüber dürfen Sie sich nicht wundern,« sagte der Advokat lächelnd. »Sie sollten sich lieber freuen, daß Sie in dieser Sache durchgedrungen sind!«
»Nein, ich mag thun, was ich will, dieser Erfolg erfüllt mich mit tiefer Bitterkeit. Ist es möglich, daß es so zugeht? Warum behielt man sie denn im Gefängnis?«
»Wenn Sie das ergründen wollen, dann werden Sie sich nur selbst Sorgen bereiten.«
Diesmal empfing der Baron Worobjeff. In dem ersten Zimmer, das Nechludoff betrat, saß ein junger Beamter mit ungeheuer langem Halse und stark hervortretendem Adamsapfel.
»Ihr Name?« fragte er Nechludoff.
Nechludoff nannte seinen Namen.
»Ach, ganz recht; der Baron haben eben von Ihnen gesprochen. Sie werden gleich empfangen werden.«
Der Beamte trat in das Zimmer im Hintergrunde und kam nach einer Minute in Begleitung einer schwarzgekleideten alten Dame, die ohne Unterbrechung weinte, wieder heraus.
»Treten Sie gefälligst ein,« sagte der junge Beamte zu Nechludoff und deutete auf die Thür von des Barons Arbeitszimmer.
Der letztere war eine magere, aber muskulöse Mittelfigur mit kurzgeschnittenen Haaren. Er saß an einem ungeheuren Schreibtisch und blickte wohlgefällig vor sich hin. Sein rotes Gesicht überflog ein wohlwollendes Lächeln, als er Nechludoff erblickte.
»Bin entzückt, Sie zu sehen; Ihre Mutter und ich, wir waren die besten Freunde. Ich habe Sie als Kind und später als Offizier gekannt. Na, setzen Sie sich und sagen Sie mir, womit ich Ihnen dienen kann!«
Nechludoff erzählte ihm Fedossjas Geschichte.
»Sehr gut, sehr gut; ich sehe schon, um was es sich handelt,« sagte der Greis. »Das ist in der That sehr rührend, – Haben Sie ein Gnadengesuch aufgesetzt?«
»Jawohl,« versetzte Nechludoff und zog ein Papier aus der Tasche. »Doch ich wollte Sie persönlich sprechen, um Sie zu bitten, diesem Falle Ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken.«
»Sie haben daran sehr recht gethan. Ich werde mich mit der Sache selbst beschäftigen. Die Geschichte ist wirklich sehr rührend,« fuhr der Baron mit der freundlichsten Miene fort. »Ich sehe die Sache förmlich vor mir. Diese Unglückliche war ein Kind, ihr Mann widerte sie durch seine Plumpheit an; dann haben beide bereut und sich gegenseitig in einander verliebt. Ja, ich werde mich mit der Angelegenheit selbst beschäftigen.«
»Der Graf Iwan Michaelowitsch hat mir übrigens versprochen, er würde ebenfalls ...«
Doch kaum hatte Nechludoff diese Worte gesprochen, als sich der Gesichtsausdruck des Barons veränderte und er in kühlem Tone zu Nechludoff sagte:
»Geben Sie Ihr Gesuch doch im Bureau ab, und ich werde sehen, was sich thun läßt!«
Nechludoff verließ das Gemach und begab sich in die Bureaus, um sein Gesuch abzugeben. Auch hier sah er, wie im Senat, eine Menge Beamte, Angestellte und Aufseher, die alle auffallend sauber und höflich waren.
»Wie viele das sind, und wie wohlgenährt! wie glänzend, geschniegelt und gebügelt! Aber was haben sie wohl für einen Zweck?« fragte sich Nechludoff, während er sie betrachtete.
Der Mann, in dessen Händen das Schicksal der Gefängnisgefangenen lag, war ein alter General, der zwar in dem Rufe stand, ein großer Dummkopf zu sein, trotzdem aber die glänzendsten Diensterfolge aufwies. Er besaß eine große Menge von Orden, deren Insignien er übrigens zu tragen verschmähte, mit Ausnahme eines kleinen weißen Kreuzes, das in seinem Knopfloch hing. Er hatte sich dieses Kreuz im Kaukasus verdient, weil er unter seinem Befehle stehende junge russische Bauern gezwungen hatte, Tausende von Leuten aus dem Lande zu töten, die ihre Freiheit, ihre Häuser und ihre Familie verteidigten. Dann hatte er in Polen gedient, wo er junge russische Bauern gezwungen hatte, dieselben Handlungen zu begehen, was ihm neue Ehren eingebracht hatte; dann hatte er noch irgendwo anders gedient und sich dort in derselben Weise ausgezeichnet. Jetzt war er alt und abgespannt, und bekleidete den Posten eines Festungsinspektors. Er erfüllte die Pflichten seines Amtes mit unbeugsamer Strenge und hielt dieselben für die heiligste Sache von der Welt.
Die Pflichten seines Amtes bestanden darin, politische Gefangene beiderlei Geschlechts im geheimen in düstere Zellen einzusperren und sie derart zu behandeln, daß die Hälfte von ihnen unfehlbar in zehn Jahren starb; einige verloren den Verstand, andere wurden schwindsüchtig, und eine große Anzahl tötete sich, indem sie Hungers starben, sich mit einem Glasscherben die Adern öffneten oder sich an der Stange eines Fensters aufhingen.
Der alte General wußte das alles, und das alles passierte unter seinen Augen; doch diese Vorfälle regten ihn nicht mehr auf, als das Unglück, das der Blitz, die Ueberschwemmungen und andere Naturerscheinungen hervorbrachten. Das einzige, was ihn interessierte, war der Gehorsam gegen das ihm vorgeschriebene Reglement. Dieses Reglement mußte vor allen Dingen befolgt werden; die Folgen, die daraus entstanden, kümmerten ihn wenig. Einmal in der Woche besuchte der alte General nach der Vorschrift des Reglements sämtliche Zellen und fragte die Gefangenen, ob sie irgend eine Beschwerde vorzubringen hätten. Die Gefangenen führten sehr oft Beschwerde, er hörte sie ruhig an, ohne etwas zu erwidern, erledigte dieselben aber nie, denn er wußte im voraus, daß alle diese Beschwerden Dinge verlangten, die mit dem Reglement nicht im Einklang standen.
Als Nechludoff sich dem alten General vorstellte, saß dieser in einem kleinen Salon, dessen sämtliche Fenstervorhänge heruntergelassen waren, so daß man sich in vollständiger Dunkelheit befand. Er war eben damit beschäftigt, in Gesellschaft eines jungen Malers, des Bruders eines seiner Untergebenen, einen Tisch zum Klopfen zu bringen. Die dünnen und zarten Finger des jungen Künstlers berührten die dicken, runzligen und zum Teil verknöcherten Finger des alten Generals. Der Tisch war eben im Begriff, auf eine von dem General gestellte Frage zu antworten, und zwar lautete dieselbe, »ob die Seelen sich nach dem Tode wohl wiedererkennen«.
An diesem Tage sprach die Seele der Jeanne d'Arc aus dem Tische. Schon hatte sie gesagt: »Ja, die Seelen erkennen sich,« und hatte schon das folgende Wort zu diktieren angefangen, als sie plötzlich innehielt. Sie hatte von dem folgenden Wort bereits die ersten Buchstaben, ein p, ein o und ein s diktiert. Thatsächlich hatte sie innegehalten, weil der General wünschte, der folgende Buchstabe solle ein l werden, während der Künstler wollte, es würde ein v. Der General wünschte, Jeanne d'Arc solle sagen, die Seelen erkennen sich nach ( posl) ihrer Reinigung, der Künstler dagegen wollte Jeanne d'Arc sagen lassen, die Seelen erkennten sich nach dem Lichte ( po svitu), das ihnen entströmte.
Der General zog mit mürrischer Miene seine ungeheuren weißen Augenbrauen zusammen, betrachtete starr seine Hände und dachte noch immer, der Tisch würde sich entschließen, ein l zu schreiben; der Künstler dagegen, der das Gesicht der Ecke des Zimmers zuwandte, machte mechanisch mit seinen Lippen die zur Aussprache des Buchstabens v erforderliche Bewegung. Inzwischen übergab ein Soldat, der die Stelle des Kammerdieners bei dem alten General vertrat, dem letzteren Nechludoffs Karte. Der General, dem es sehr unangenehm war, gestört zu werden, zog die Brauen noch stärker zusammen; setzte dann nach einer minutenlangen Pause sein Lorgnon auf die Nase, las die Karte, die er mit ausgestreckten Armen hielt, erhob sich mit schmerzlicher Anstrengung, rieb sich lange die Lenden und Beine und sagte dann:
»Laß ihn in mein Kabinett treten.«
»Ew. Excellenz brauchen sich nicht zu beunruhigen, ich werde die Sache allein zu Ende bringen; ich fühle, wie das Fluidum wiederkehrt.«
»Es ist gut, bringen Sie es allein zu Ende,« versetzte der General in seinem strengen Tone und ging, mühselig seine alten, angeschwollenen Beine nachschleppend, in sein Kabinett.
»Freue mich, Sie zu sehen,« sagte er zu Nechludoff und deutete auf einen an seinem Schreibtisch stehenden Stuhl. »Sind Sie schon lange in St. Petersburg?«
Nechludoff versetzte, er wäre eben angekommen.
»Und der Fürstin, Ihrer Mutter, geht es noch immer gut?«
»Meine Mutter ist tot, Excellenz.«
»Verzeihen Sie, ich bin untröstlich. Wissen Sie, daß ich mit Ihrem seligen Vater zusammen gedient habe? Wir waren Freunde, Brüder. Und Sie, sind Sie noch im Dienst?«
»Nein, augenblicklich nicht.«
Der General schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Ich habe eine Bitte an Sie zu richten, Herr General,« fuhr Nechludoff fort.
»Schön, worin kann ich Ihnen dienen?«
»Wenn meine Bitte Ihnen nicht annehmbar erscheinen sollte, so bitte ich jetzt schon um Entschuldigung; doch ich glaubte mich verpflichtet, sie vorzutragen.«
»Na, was wünschen Sie denn?«
»Unter den Ihrer Obhut anvertrauten Gefangenen befindet sich ein gewisser Gurkewitsch; seine Mutter bittet um die Erlaubnis, ihn sprechen und, wenn das unmöglich sein sollte, ihm doch wenigstens Bücher schicken zu dürfen.«
Der General hatte diese Bitte ohne das geringste Zeichen von Zustimmung oder Unzufriedenheit angehört und sich darauf beschränkt, den Kopf zu neigen und eine nachdenkliche Haltung anzunehmen. Thatsächlich dachte er aber gar nicht nach und interessierte sich für die Worte Nechludoffs absolut nicht, denn er wußte im voraus, daß das Reglement die Erlaubnis nicht zuließ. Deshalb hörte er nur aus Höflichkeit zu und erwiderte:
»Sehen Sie, das alles hängt nicht von mir ab. Was die Besuche anbetrifft, so werden die Bedingungen derselben durch ein kaiserliches Dekret geregelt. Was dagegen die Bücher anbelangt, so haben wir hier eine Bibliothek, und die Gefangenen haben das Recht, Bücher aus derselben zu entnehmen.«
»Ja, aber dieser Gurkewitsch möchte wissenschaftliche Werke haben und sich beschäftigen.«
»Glauben Sie doch das nicht, er will sich gar nicht beschäftigen; nur aus Insubordination verlangt er die Bücher.«
»Aber diese Unglücklichen müssen doch in ihrer traurigen Lage den Wunsch hegen, sich zu beschäftigen,« sagte Nechludoff.
»Sie beklagen sich stets,« sagte der General; »wir kennen sie.«
Er sprach immer von »ihnen«, wie von einer ganz besonderen Menschenrasse.
»Und tatsächlich haben sie hier Bequemlichkeiten, wie Sie sie in anderen Festungen vergeblich suchen würden,« fuhr er fort.
Darauf begann er, diese Bequemlichkeiten ausführlich zu beschreiben, und wenn man ihn hörte, konnte man glauben, die Gefangenen würden nur zu dem Zweck in die Festung eingesperrt, um ihnen einen angenehmen Aufenthalt zu verschaffen.
»Früher behandelte man sie allerdings sehr streng, doch jetzt werden sie so gut wie nur möglich behandelt. Sie bekommen drei Gerichte zu essen, und darunter immer eine Fleischspeise: Cotelettes oder Hackfleisch. Sonntags geben wir ihnen sogar ein Gericht mehr, eine Zwischenspeise. Wollte Gott, daß sich ganz Rußland eines Tages so wie sie ernähren könnte.«
Wie alle alten Leute hielt der General, wenn er sich einmal in einen Gegenstand festgebissen hatte, nicht mehr auf und wiederholte sich immer aufs neue.
»Was die Bücher anbetrifft, so stellen wir ihnen religiöse Werke und auch alte Zeitungen zur Verfügung. Wir haben eine sehr gut ausgestattete Bibliothek. Aber sie lesen nur selten. Zuerst thun sie allerdings so, als wenn sie sich für die Lektüre interessierten; doch nach kurzer Zeit geben sie die Bücher zurück, ohne sie nur angerührt zu haben. Auch schreiben können sie; wir geben ihnen Schiefertafeln, damit sie zu ihrem Vergnügen und Zeitvertreib darauf schreiben können. Sie können schreiben, auslöschen und wieder schreiben, aber auch das thun sie nicht. Nein, nein, nur in der ersten Zeit denken sie daran, sich zu beschäftigen; später werden sie fett und immer bequemer und fühlloser.«
Nechludoff hörte diese heisere Stimme an, betrachtete die schwerfälligen Glieder, die unter den ungeheuren Augenbrauen angeschwollenen Lider, den kahlen Schädel, und das kleine weiße Kreuz im Knopfloch; und wieder erkannte er, wie unnütz es war, einem solchen Menschen irgend etwas zu erklären.
Er erhob sich und verbarg mit großer Mühe das Gemisch von Abscheu und Mitleid, das ihm dieser gräßliche Greis einflößte. Diesem dagegen war es ganz angenehm, dem Sohne seines alten Freundes die Leviten lesen zu können.
»Adieu, mein Kind,« fuhr er fort. »Nehmen Sie das, was ich Ihnen gesagt, nicht übel auf, ich sage es Ihnen aus reiner Freundschaft; doch kümmern Sie sich nicht um unsere Gefangenen. Bilden Sie sich nur nicht ein, daß es Unschuldige unter ihnen giebt! Alle, die einen wie die andern, sind elende Verbrecher, und wissen, was sie wert sind ... Und dann glauben Sie mir, treten Sie wieder in den Dienst, der Kaiser bedarf aller seiner Leute und das Vaterland auch. Denken Sie doch nur, was passieren würde, wenn ich und alle Leute unseres Standes nicht mehr dienen wollten.«
Nechludoff stieß einen Seufzer aus, verneigte sich sehr tief, schüttelte dem Greise die grobe, knochige Hand und verließ das Zimmer.
Als der General wieder allein war, rieb er sich lange Zeit die Hüften und schleppte sich wieder in den Salon, wo der junge Künstler während seiner Abwesenheit die vom Geiste Jeanne d'Arcs diktierte Antwort niedergeschrieben hatte. Der General las durch sein Lorgnon: »Sie erkennen einander an dem Lichte, das ihrem Astralkörper entströmt.«
»Ha,« rief der General, heftig mit den Augen blinzelnd; doch plötzlich erfaßte ihn ein Zweifel.
»Dieses Licht ist also nicht für alle gleich?« fragte er, legte von neuem seine Hand auf die des Künstlers und ließ sich neben dem kleinen Tische nieder.
Als Nechludoff auf die Freitreppe getreten war, rief er seinen Kutscher.
»Ach, gnädiger Herr, wie man sich hier langweilt,« sagte der Kutscher, »ich wäre beinahe, ohne auf Sie zu warten, fortgefahren.«
»Ja, man langweilt sich hier wirklich,« versetzte Nechludoff seufzend, setzte sich in den Wagen und versuchte sich zu zerstreuen, indem er das Spiel der grauen Wolken am Himmel und die glitzernden Wasser der Newa bewunderte, die von Barken und Dampfschiffen durchfurcht wurde.
Am nächsten Tage, einem Mittwoch, sollte der Fall der Maslow untersucht werden, und Nechludoff kam frühzeitig in den Senat. Vor dem Eingangsthor traf er mit dem Advokaten zusammen, der auch eben angekommen war. Zusammen stiegen sie die ungeheure, feierliche Treppe bis zum zweiten Stock hinauf. Im ersten Zimmer, das sie betraten, nahm ihnen ein Nuntius ihre Stöcke und Mäntel ab und sagte ihnen, die vier Senatoren wären schon da, der letzte wäre eine Minute vor ihnen gekommen. Fajnitzin, der Frack und weiße Kravatte trug, ließ Nechludoff in das Nebenzimmer treten, an dessen Wänden große Schränke von etwas außergewöhnlicher Form standen. Ein Greis von patriarchalischem Aussehen befand sich dort in diesem Augenblick, ein großer Mann mit weißen Haaren; zwei Diener halfen ihm ehrfurchtsvoll den Mantel ausziehen, dann wandte er sich einem der Schränke zu, in dem Nechludoff ihn plötzlich verschwinden sah.
Indessen hatte Fajnitzin einen seiner Kollegen, der ebenfalls Frack und weiße Kravatte trug, bemerkt, lief auf ihn zu, und Nechludoff hatte volle Muße, die andern Personen die sich im Saale befanden, zu betrachten. Es waren etwa 15 Männer und zwei Damen anwesend, die eine jung, mit einem Lorgnon, die andere schon mit grauen Haaren. An diesem Tage sollte ein Preßbeleidigungsprozeß untersucht werden, daher dieser Zulauf eines Publikums, das sich gewöhnlich zu den Sitzungen des Kassationshofes nicht drängte.
Der Nuntius, ein schöner Mann mit rotem Gesicht, der eine imposante Uniform trug, näherte sich Fajnitzin, um ihn zu fragen, in welcher Angelegenheit er plädieren wolle. Während er die Antwort des Advokaten auf ein Papier notierte, öffnete sich die Thür des Schrankes, und Nechludoff sah den Greis mit dem patriarchalischen Aussehen heraustreten; derselbe trug aber jetzt nicht Jacket und graue Pantoffeln wie vorher, sondern hatte vielmehr seine Kleider gegen eine buntscheckige Uniform vertauscht, die ihm das Aussehen eines Riesenvogels gab. Diese Verkleidung mußte ihm übrigens peinlich sein, denn er verließ den Saal im Laufschritte.
»Das ist Be, ein respektabler Mann,« sagte der Advokat zu Nechludoff, und fing an, den Fall, der eben zur Verhandlung gelangte, zu erklären.
Kurz darauf wurde die Sitzung eröffnet, und mit dem übrigen Publikum trat auch Nechludoff in den Sitzungssaal, der weniger groß und einfacher ausgestattet als der des Schwurgerichtshofes, aber sonst in derselben Weise eingerichtet war. Dieselbe Trennung zwischen Publikum und Richter, dieselben Bilder an den Wänden; und als der Nuntius meldete: »Der Gerichtshof!« erhoben sich alle, um die Senatoren zu begrüßen, die sich in großer Uniform an den Tisch setzten und eine möglichst feierliche Miene annahmen.
Es waren vier Senatoren; zuerst Nikitin, ein großer, glattrasierter Mann mit dünnem Gesicht und stählernen Augen, der das Amt des Präsidenten versah; dann Wolff, der frisch rasiert war und seine schönen weißen Hände zeigte; dann Skoworodnikoff, ein kleiner, dicker und schwerfälliger alter Mann, dessen Gesicht von den Blattern ganz zerfressen war, und endlich Be, der Greis mit dem patriarchalischem Aussehen. Hinter den Senatoren traten der Aktuar und der Staatsanwalt auf die Estrade; der letztere ein noch junger, magerer Mann mit dunkler Gesichtsfarbe und tieftraurig blickenden Augen. Trotz des seltsamen Kostüms, das er trug, erkannte Nechludoff sofort in ihm einen seiner besten Freunde von der Universität.
»Heißt dieser Staatsanwalt nicht Selenin?« fragte er seinen Advokaten, der sich auf den für das Publikum bestimmten Bänken neben ihn gesetzt hatte.
»Ja, was weiter?«
»Ich kenne ihn genau, er ist ein bedeutender Mensch.«
»Und ein außergewöhnlich hervorragender Staatsanwalt, sehr thätig und bereits sehr einflußreich. An ihn hätten Sie sich wenden müssen,« sagte der Advokat.
»O, der wird einzig und allein nur nach seinem Gewissen handeln,« sagte Nechludoff, der sich an die hervorragenden Eigenschaften der Milde, Rechtlichkeit und vornehmen Gesinnung seines früheren Mitschülers erinnerte.
»Uebrigens wäre es jetzt auch zu spät,« erwiderte Fajnitzin und hörte wieder aufmerksam die weitere Diskussion des Falles mit an.
Auch Nechludoff hörte zu und suchte eifrig zu begreifen, was sich da vor ihm abspielte; doch von neuem wurde er daran dadurch verhindert, daß man, anstatt den eigentlichen Prozeß zu besprechen, die ganze Verhandlung auf die Nebenumstände leitete. Der Prozeß hatte einen Zeitungsartikel zur Grundlage, in welchem die Schwindeleien des Präsidenten einer Aktiengesellschaft aufgedeckt worden waren. Die Hauptfrage wäre gewesen, ob dieser Präsident seine Mandaten wirklich bestahl, und wie man in diesem Falle diesen Diebstählen ein Ende machen konnte. Man stritt aber einzig und allein um die Frage, ob der Zeitungsredakteur nach einem bestimmten Paragraphen das Recht hatte, den Artikel zu drucken und ob er, wenn er nicht das Recht hatte, durch die Drucklegung eine Beleidigung oder eine Verleumdung oder eine verleumderische Beleidigung begangen hatte.
Nur zweierlei fiel Nechludoff auf; er beobachtete zuerst, daß Wolff, der ihm einige Tage vorher erklärt hatte, der Senat beschäftige sich nur mit den in der Verhandlung begangenen Formfehlern, mit großer Wärme die den Prozeß selbst betreffenden Argumente anrief, um die Verurteilung des Zeitungsredakteurs annullieren zu lassen; er beobachtete ferner, daß Selenin, der gewöhnlich so kühl war, die entgegengesetzte These mit gleicher Wärme aufrecht erhielt; ja, er glaubte sogar, bei dieser Wärme des Staatsanwalts eine gewisse Feindseligkeit Wolff gegenüber zu bemerken, der schließlich wohl einen ähnlichen Eindruck empfangen mußte, denn bei einer Bemerkung Selenins zitterte er, errötete und erwiderte kein Wort mehr.
Nachdem die Diskussion beendet war, zogen sich die Senatoren zur Beratung zurück. Der Nuntius machte Fajnitzin darauf aufmerksam, daß der Fall der Maslow in einigen Augenblicken zur Verhandlung gelangen würde.
Sobald die vier Senatoren in ihrem Beratungszimmer Platz genommen hatten, begann Wolff mit vieler Wärme die Gründe auseinanderzusetzen, weshalb man das gegen den Zeitungsredakteur gefällte Urteil kassieren müsse.
Der Präsident, ein schon im allgemeinen wenig wohlwollender Mann, war an diesem Tage ganz besonders schlecht aufgelegt. Schon während der Fall in öffentlicher Sitzung verhandelt wurde, hatte er sich seine feste Meinung gebildet und blieb jetzt in seine Gedanken versunken, ohne auf Wolff zu hören. Seine Gedanken wandten sich fortwährend der Thatsache zu, daß er am vorigen Tage in seinen Memoiren erzählt, wie Weljanoff und nicht er zu einem Posten ernannt worden war, um den er sich seit langer Zeit beworben hatte. Dieser Präsident Nikitin war im tiefsten Innern davon überzeugt, daß seine Meinung über die verschiedenen hohen Beamten, die kennen zu lernen er Gelegenheit gehabt, ein höchst wichtiges Dokument für die Geschichte bilden würde. In dem Kapitel, das er am vorigen Tage geschrieben, beurteilte er mit äußerster Strenge das Verhalten einiger dieser hohen Beamten, die ihn, wie er sich ausdrückte, verhindert hatten, Rußland vor dem Untergang zu retten, was einfach sagen wollte, sie hatten ihn verhindert, ein höheres Gehalt zu erheben; jetzt fragte er sich, ob er sich auch klar genug ausgedrückt, damit die Nachwelt das alles einmal von einem ganz neuen Gesichtspunkte aus beurteilen konnte.
»Gewiß, gewiß,« gab er Wolff zur Antwort, wenn dieser sich an ihn zu wenden schien, hörte aber nicht ein Wort von dem, was jener sagte.
Auch Be hörte nichts von dem, was Wolff sprach. Mit vertiefter Miene zeichnete er Wappen auf ein vor ihm liegendes Papier. Dieser Be war ein Liberaler der alten Klasse. Noch immer hegte und pflegte er die Tradition der Schule von 1860, und nur seine politischen Meinungen ließen ihn von seiner Unparteilichkeit abweichen. So wollte er auch in dem Verleumdungsfalle nichts weiter sehen, als einen Angriff auf die Freiheit der Presse. Als Wolff zu sprechen aufgehört, erhob der Greis einen Augenblick den Kopf, setzte seine Ansicht in einigen klaren Worten auseinander, senkte seinen weißen Kopf von neuem und fing wieder an, Wappen zu zeichnen.
Skorowodnikoff, der Wolff gegenüber saß und die ganze Zeit damit zubrachte, seine Schnurrbarthaare in den Mund zu stecken, unterbrach sich einen Augenblick bei dieser Beschäftigung und erklärte, in Ermanglung eines jeglichen Formfehlers erscheine ihm das Urteil zur Kassation nicht geeignet. Der Präsident stimmte dieser Ansicht bei, und das Urteil wurde infolgedessen aufrecht erhalten. Wolff war wütend, um so mehr, als er aus mehreren Anspielungen bei seinen Kollegen, wie beim Staatsanwalt Zweifel an seiner Uneigennützigkeit herausgemerkt hatte. Doch als Mann comme il faut verstand er es, seine schlechte Laune zu verbergen, nahm sofort ein anderes Aktenstück zur Hand und fing an, die auf den Fall Maslow bezüglichen Dokumente vorzulesen. Seine drei Kollegen klingelten und bestellten sich Thee und unterhielten sich dann über ein Ereignis, das sich mit dem Duell Kamensky in die Aufmerksamkeit von ganz Petersburg teilte. Ein höchst bedeutender Beamter, Abteilungschef in einem Ministerium, war unter der Anklage eines Sittlichkeitsverbrechens verhaftet worden.
»Gräßlich!« sagte Be in einem Tone des Ekels.
»Was finden Sie denn daran so gräßlich?« fragte Skoworodnikoff, während er mit der Zunge die Cigarette befeuchtete, die er sich eben gewickelt hatte, »Ich habe in diesen Tagen eine Studie eines deutschen Schriftstellers gelesen, der verlangt, die Ehe eines Mannes mit einem anderen Manne solle als gesetzlich angesehen werden.«
»Nicht möglich?!« rief Be.
»Ich werde Ihnen den Artikel nächstens mitbringen,« versetzte Skoworodnikoff und zitierte ohne Stocken ganze Sätze aus dem Artikel, dessen Titel, Datum und Erscheinungsort er außerdem nannte.
»Man sagt, er solle irgendwo nach Sibirien als Gouverneur geschickt werden,« sagte Nikitin.
»Das wäre der Gipfel! Ich sehe schon, wie der Ex-Priester ihm mit seinen ganzen Klerus entgegenzieht!« rief Skoworodnikoff, stieß einige Züge aus seiner Cigarette und fing wieder an, seine Barthaare zu kauen.
Jetzt trat der Nuntius in das Beratungszimmer und sagte den Senatoren, der Advokat Fajnitzin wünsche der Verhandlung über die Berufung der Maslow beizuwohnen.
»Diese Sache Maslow ist ein ganzer Roman,« sagte Wolff und erzählte seinen Kollegen, was er von dem Verhältnis Nechludoffs zur Maslow wußte.
Die Senatoren, die Eile hatten, fortzukommen, hätten diese Angelegenheit viel lieber unter sich, im Handumdrehen, erledigt, doch das Ersuchen des Advokaten konnte anstandshalber nicht zurückgewiesen werden; sie entschlossen sich daher, ihr Beratungszimmer zu verlassen und in den öffentlichen Sitzungssaal zurückzukehren.
Wieder entwickelte Wolff mit seiner Flötenstimme die Annullierungsgründe des Urteils; wieder that er es mit offenkundiger Parteilichkeit und ließ dabei seinen Wunsch durchblicken, das Urteil möge kassiert werden.
»Haben Sie noch etwas zu bemerken?« fragte der Präsident, sich zu Fajnitzin wendend.
Fajnitzin erhob sich, reckte sich in seiner ausgeschnittenen Weste auf und begann, Punkt für Punkt mit bemerkenswerter Klarheit und Schärfe zu beweisen, daß die Schwurgerichtsverhandlung sechs, dem Gesetze zuwiderlaufende Punkte ergeben habe; dann erlaubte er sich, der Sache selbst mit eigenen Worten zu Leibe zu gehen, um die Zusammenhangslosigkeit und augenscheinliche Ungerechtigkeit des Urteils des Schwurgerichtshofes zu beweisen. Nach dieser in gleichzeitig ehrerbietigem und festem Tone gesprochenen Rede schien die Annullierung des Urteils unvermeidlich, und Nechludoff war um so mehr überzeugt, er werde seine Sache gewinnen, als ihm der Advokat beim Sprechen befriedigt zugelächelt hatte. Doch ein Blick auf das Gesicht der Senatoren bewies ihm, daß Fajnitzin nur allein lächelte und entzückt war. Die Senatoren und der Staatsanwalt lächelten keineswegs und waren durchaus nicht entzückt; sie machten das gelangweilte Gesicht von Männern, die unnütz ihre Zeit verloren, und alle schienen dem Advokaten zu sagen: »Sprich du nur immerhin! wir haben noch ganz andere wie dich gehört!«
Sobald Fajnitzin mit Sprechen aufgehört, erteilte der Präsident dem Staatsanwalt das Wort; dieser aber beschränkte sich auf die Erklärung, die verschiedenen, angeführten Anullierungsgründe wären nicht wichtig und das Urteil müsse bestehen bleiben; darauf erhoben sich die Senatoren und gingen in ihr Beratungszimmer.
Hier teilten sich die Ansichten von neuem. Wolff war für die Annullierung; Be, der der einzige war, der sich die Natur des Falles klargelegt, sprach in demselben Sinne und entwarf seinen Kollegen ein treffendes Bild von der mangelhaften Intelligenz der Geschworenen und der Nachlässigkeit der Richter. Nikitin dagegen, der stets Anhänger des strengen Gesetzes war, stimmte gegen die Annullierung. Alles hing daher von Skoworodnikoffs Stimme ab. Dieser erklärte sich dagegen, und zwar nur, weil ihn der Entschluß Nechludoffs, sich aus Pflichtgefühl mit der Maslow zu verheiraten, im höchsten Grade empört hatte.
Dieser Skoworodnikoff war Materialist und Darwinianer; jede Kundgebung des Pflichtgefühls und noch mehr des religiösen Gefühls wirkte auf ihn nicht nur wie eine empörende Albernheit, sondern auch wie eine persönliche Beleidigung. Darum erklärte er, ohne sich im Kauen seiner Barthaare zu unterbrechen, er sähe in der Sache nichts Gesetzwidriges und die zur Kassation angeführten Gründe wären unzureichend.
»Aber das ist ja entsetzlich!« rief Nechludoff, nach der Verlesung des Urteils auf den Advokaten zugehend. »Eine offenkundig ungerechte Verurteilung! Und diese Leute bestätigen sie unter dem Vorwande, sie enthielte keinen Formfehler.«
»Das ist bei ihnen Voreingenommenheit!« versetzte der Advokat.
»Und auch Selenin war gegen die Annullierung! Das ist entsetzlich,« wiederholte Nechludoff. »Was jetzt thun?«
»Ein Gnadengesuch einbringen! Reichen Sie es selbst ein, während Sie hier sind! Ich werde es Ihnen aufsetzen.«
In diesem Augenblick trat der Senator Wolff mit allen seinen Kreuzen auf seiner Uniform in den Saal, näherte sich Nechludoff und sagte, seine schmalen Schultern zuckend:
»Was thun, mein werter Fürst? Die Annullierungsgründe reichten nicht aus!«
Darauf trat er schnell in einen der Schränke, um sich umzukleiden, hinter Wolff kam Selenin, der seinen früheren Freund sofort erkannte.
»Dich erwartete ich nicht, hier zu treffen!« sagte er zu ihm, mit den Lippen lächelnd, während seine Augen ihren traurigen Ausdruck beibehielten.
»Ich wußte nicht, daß du Ober-Staatsanwalt bist!«
»Staatsanwalt,« verbesserte Selenin. »Und was thust du hier?«
»Hier? Ich kam in der Hoffnung, hier Gerechtigkeit und Mitleid für ein ungerecht verurteiltes Weib zu finden,«
»Was für ein Weib?«
»Nun, das, das ihr eben von neuem verurteilt habt.«
»Ach so, die Maslow!« erinnerte sich Selenin. »Ihre Berufung war nicht begründet.«
»Nicht um ihre Berufung handelt es sich, sondern um sie selbst. Sie ist unschuldig, und man bestraft sie ohne Grund.«
Selenin seufzte.
»Ja, das ist möglich, aber ...«
»Das ist nicht nur möglich, es ist gewiß!«
»Woher weißt du das?«
»Ich gehörte zu den Geschworenen, die sie verurteilt haben, und weiß, daß wir in unserer Urteilsfällung einen Irrtum begangen haben.«
Selenin dachte einen Augenblick nach und fuhr fort:
»Du hättest gleich auf den Irrtum aufmerksam machen müssen.«
»Das habe ich gethan!«
»Man hätte das ins Protokoll aufnehmen sollen! Das wäre ein Grund zur Annullierung gewesen.«
»Aber die Prüfung des Falles bewies schon allein zur Genüge, daß das Urteil der Geschworenen widersinnig war!« sagte Nechludoff.
»O, darum hat sich der Senat nicht zu kümmern! Wenn er sich erlaubte, ein Urteil im Namen der Gerechtigkeit zu kassieren, so würde er sich nicht allein bald der Gefahr aussetzen, die Ungerechtigkeit wachsen zu sehen,« versetzte Selenin, indem er an Wolff und den vorher verhandelten Fall dachte, »sondern die Entscheidungen der Geschworenen würden ihre ganze Daseinsberechtigung verlieren.«
»Ich weiß nur, daß dieses Weib unschuldig ist, und daß es jetzt jede Hoffnung verloren hat, ihrer ungeheuerlichen Strafe zu entgehen. Der höchste Gerichtshof hat die Ungerechtigkeit bestätigt!«
»Aber nicht doch, er hat sie nicht bestätigt, denn er hatte sich darum ja gar nicht zu kümmern!« wiederholte Selenin mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme, dann fügte er mit augenscheinlichem Verlangen, den Gesprächsstoff zu wechseln, hinzu: »Man hatte mir gestern gesagt, du wärest hier. Die Gräfin Katharina Iwanowna hat mich neulich abend eingeladen, bei ihr den neuen Propheten zu hören. Ich wäre hingegangen, hätte ich mir denken können, du würdest da sein.«
»Ich war auch da, bin aber angeekelt fortgegangen!«
»Weshalb angeekelt? Es ist auf jeden Fall die Kundgebung eines religiösen Gefühls, so seltsam und verroht dieselbe auch ist!«
»Ach, warum nicht gar! Eine ungeheuerliche Tollheit ist es,« erklärte Nechludoff.
»Aber nicht doch, nicht doch! Das einzige Seltsame und Häßliche dabei ist, daß wir mit den Lehren der Kirche so wenig vertraut sind, daß wir das als etwas Neues betrachten, was nur die Erklärung der Grundlehren unseres Glaubens ist,« sagte Selenin in verlegenem Tone, denn er erinnerte sich, daß er einst vor Nechludoff ganz andere Ideen ausgesprochen hatte.
Nechludoff betrachtete ihn mit großer Aufmerksamkeit, in die sich eine gewisse Ueberraschung mischte. Selenin hielt seinen Blick aus, doch Nechludoff glaubte auf dem Grunde seiner traurigen Augen ein leises Mißtrauen zu bemerken.
»Uebrigens sprechen wir noch darüber,« sagte Selenin, nachdem er dem Nuntius ein Zeichen gegeben, er habe mit ihm zu sprechen – »denn wir müssen uns um jeden Preis wiedersehen. Du triffst mich stets zur Dinerstunde zu Hause.«
Er nannte Nechludoff seine Adresse und schüttelte ihm liebevoll die Hand; dann fügte er, bevor er sich entfernte, hinzu: »Ach, wie viel Wasser ist seit unserer letzten Unterredung die Brücken hinuntergeflossen!«
»Ja, ich werde dich besuchen, wenn ich kann,« versetzte Nechludoff. Doch im Grunde seines Herzens fühlte er, daß in dieser kurzen Begegnung aus einem der Menschen, die er am meisten auf der Welt liebte und achtete, auf immer ein für ihn Fremder, ja fast ein Feind geworden war.