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Fünftes Kapitel

Als sie aus dem Senat kamen, gingen Nechludoff und der Advokat zusammen das Trottoir entlang. Der Advokat erzählte Nechludoff die Geschichte des hohen Beamten, von dem sich die Senatoren unterhalten hatten; er sagte ihm, wie dieser hohe Beamte, anstatt, wie er das nach dem Gesetzbuch mußte, ins Zuchthaus geschickt zu werden, an die Spitze eines Gouvernements gestellt worden war. Als sie dann an einem Platze vorüberkamen, erklärte er Nechludoff, es wäre eine Subskription eröffnet worden, um auf diesem Platze ein Denkmal zu errichten, doch dieses Denkmal wäre immer noch nicht da, und die bedeutenden Persönlichkeiten, die das Comité bildeten, hätten das gesammelte Geld in ihre Taschen gesteckt. Anläßlich einer dieser Personen fügte er hinzu, seine Geliebte hätte Millionen auf den Rennplätzen verloren. Ein anderer hatte nach den Behauptungen des Advokaten seine Frau für eine hohe Summe verkauft; und unzählig wären die von den und jenen begangenen Betrügereien, die, anstatt im Gefängnis zu sitzen, noch immer höchst angesehene Stellungen inne hatten. Diese Erzählungen – die Quelle war offenbar unerschöpflich – schienen dem Advokaten eine persönliche Befriedigung zu gewähren; sie ließen ihn in der That glauben – und verbreiteten auch bei andern diese Meinung – die von ihm angewendeten Mittel zum Geldverdienen wären durchaus gesetzlich und unschuldig, im Vergleich zu den Mitteln, die die höchsten Vertreter der Aristokratie und der öffentlichen Macht anwandten. Daher war er höchst überrascht, als er sah, wie Nechludoff, ohne das Ende einer seiner Anekdoten abzuwarten, von ihm Abschied nahm und in einen Fiaker sprang, um zu seiner Tante zurückzukehren.

Nechludoff war tieftraurig. Seine Traurigkeit kam vor allem daher, daß die Entscheidung des Senats die ungeheuerliche Strafe der Maslow bestätigt hatte. Deshalb dachte er auch traurigen Sinnes daran, daß diese Senatsentscheidung die Verwirklichung seines Planes, sein Schicksal mit dem der Maslow zu verbinden, noch erschweren würde. Diese Geschichten, die der Advokat mit so großem Behagen erzählt, versetzten ihn vollends in Verzweiflung, denn sie zeigten ihm überall den Triumph des Bösen, ganz abgesehen, davon, daß er stets den kalten und übelwollenden Blick Selenins wiedersah, des Mannes, der früher so gut, so liebevoll und offen gewesen.

Als er zu seiner Tante kam, übergab ihm der Portier mit einer gewissen Verachtung einen Brief, den »ein Weib«, wie der Portier sagte, für ihn gebracht. Dieser Brief war von der Mutter der Tschustoff. Sie dankte dem »Wohlthäter«, dem »Retter« ihrer Tochter in gerührten Ausdrücken und bat ihn, Petersburg nicht zu verlassen, ohne sie zu besuchen. Es wäre im Interesse Wera Bogoduschoffskas, fügte sie hinzu.

Nach allen in Petersburg erlittenen Enttäuschungen fühlte sich Nechludoff äußerst mutlos; die Pläne, die er vor wenigen Tagen entworfen, erschienen ihm ebenso undurchführbar, als die Jugendträume, denen er sich früher überlassen. Als er in sein Zimmer trat, zog er ein Papier aus seiner Brieftasche und wollte sich eine Liste aufstellen, was ihm noch vor seiner Abreise zu thun übrig bliebe, als ein Diener ihm sagte, die Gräfin bäte ihn, in den Salon herunterzukommen und den Thee mit ihr zu nehmen.

Nechludoff steckte seine Papiere wieder in die Brieftasche und ging in den Salon hinunter. Auf dem Wege bemerkte er durch das Treppenfenster den Landauer Mariettes, der vor dem Hause hielt; und plötzlich hatte er die Empfindung, sein Herz freue sich. Es erfaßte ihn der Wunsch, jung zu sein und zu lächeln.

Mariette, die diesmal einen hellen Hut und ein helles Kleid trug, saß auf einem Stuhl neben dem Sessel der Gräfin, eine Tasse Thee in der Hand und sprach mit halblauter Stimme, während ihre lachenden Augen förmlich leuchteten. Als Nechludoff in den Salon trat, hatte sie eben etwas so Komisches – und zwar unpassend Komisches – Nechludoff erkannte das an der Art ihres Lachens – gesagt, daß die treffliche Gräfin Katharina Iwanowna von einer tollen Freude ergriffen wurde, die ihren dicken Körper von den Füßen bis zum Kopfe schüttelte, während Marietta sie mit einem reizend pfiffigen Ausdruck betrachtete, indem sie ihr entzückendes, energisches und leichtfertiges Gesicht ein wenig zur Seite neigte.

»Ich muß noch vor Lachen sterben!« rief die alte Gräfin.

Nechludoff begrüßte sie und setzte sich neben sie, und sogleich änderte Mariette, die den ernsthaften Ausdruck seiner Züge bemerkt hatte und ihm gefallen wollte – was sie ohne recht zu wissen warum, von dem ersten Augenblick an wollte, da sie ihn wiedergesehen – nicht nur ihren äußeren Ausdruck gänzlich, sondern auch ihre innere Stimmung. Sie wurde sofort ernst, schwermütig, mit sich unzufrieden, bekam düstere Ahnungen, und zwar alles ganz aufrichtig, ohne die geringste Heuchelei und ohne die geringste Anstrengung. Unwillkürlich versetzte sie sich, um Nechludoff zu gefallen, in eine ähnliche Stimmung, wie sie sie in diesem Augenblicke bei Nechludoff voraussetzte.

Sie fragte ihn nach dem Erfolge seiner Bemühungen. Er sagte ihr, wie seine Absichten beim Senat gescheitert waren und erwähnte bei dieser Gelegenheit seine Begegnung mit Selenin.

»Ach, welch eine Seele! Das ist wirklich ein Ritter ohne Furcht und Tadel! welch eine Seele!« riefen die beiden Damen und gebrauchten ein Epitheton, das man augenscheinlich auf den jungen Staatsanwalt anzuwenden pflegte.

»Er ist verheiratet; wie ist denn seine Frau?« fragte Nechludoff.

»Seine Frau? ... O, sie ist ... doch wir wollen niemand verdammen. Leider versteht sie ihren Mann nicht. Und er war auch für die Verwerfung der Berufung?« fuhr Mariette mit aufrichtigem Mitleid fort. »Aber, das ist ja entsetzlich! Wie ich diese Unglückliche beklage!«

Dabei stieß sie aus tiefstem Herzensgründe einen Seufzer aus.

Nechludoff wechselte, von ihrem Kummer bewegt, den Gesprächsstoff. Er erzählte Mariette von der Tschustoff, die durch seine Vermittelung, die Festung endlich verlassen hatte. Nachdem er ihr für ihre Verwendung gedankt, wollte er ihr sagen, wie entsetzlich der Gedanke sei, daß dieses junge Mädchen und ihre ganze Familie so lange gelitten, nur weil niemand für sie die Stimme erhoben, doch Mariette ließ ihn nicht fortfahren, sondern drückte selbst in ähnlichen Ausdrücken wie er ihre tiefe Entrüstung aus.

Die Gräfin Katharina Iwanowna sah sofort, daß Mariette mit ihrem Neffen kokettierte, was ihr übrigens großen Spaß machte.

»Weißt du was?« sagte sie zu Nechludoff. »Komm' morgen abend mit uns zu Aline. Kiesewetter wird dort sein. Und du, komm nur auch,« fügte sie, zu Mariette gewendet, hinzu.

»Denke dir, Kiesewetter hat dich bemerkt,« fuhr sie, sich wieder zu Nechludoff wendend, fort. »Er hat mir gesagt, alle Ideen, die du mir auseinandergesetzt und die ich ihm mitgeteilt, wären in seinen Augen ein vortreffliches Zeichen, und du würdest sicherlich bald zu Christus kommen. Ich rechne auf dich für morgen abend! Mariette, sag' ihm, daß du auch kommen wirst und auf ihn rechnest!«

»Erstens, teure Gräfin, habe ich kein Recht, Dimitri Iwanowitsch Ratschläge zu geben,« versetzte Mariette, indem sie Nechludoff einen Blick zuwarf, der besagte, sie wäre mit ihm hinsichtlich der evangelischen Manie der guten alten Dame vollkommen einer Meinung ... »Und dann, wissen Sie auch, liebe ich es nicht besonders ...«

»Ja, ich weiß, du bist stets anders als die andern und denkst über alles in deiner eignen Weise ...«

»Wie? in meiner eignen Weise? Aber ich habe ja den einfachsten und alltäglichsten Glauben, den Glauben der unwissendsten Bäuerin!« sagte sie lächelnd. »Vor allem aber muß ich morgen ins französische Theater gehen!«

»Ah! – kennst du übrigens die berühmte ... wie heißt sie doch? ...« fragte die Gräfin Nechludoff.

Mariette flüsterte ihr den Namen einer berühmten französischen Schauspielerin zu.

»Die mußt du auf alle Fälle sehen, Sie ist erstaunlich!«

»Was soll ich Ihrer Meinung zuerst sehen: die Schauspielerin oder den Propheten?« fragte Nechludoff lächelnd.

»Du bist boshaft, daß du meine Worte so auslegst!«

»Ich glaube, es ist besser, ich sehe zuerst den Propheten und dann die Schauspielerin, sonst könnte ich am Ende jedes Vertrauen auf die Prophezeiungen verlieren,« sagte Nechludoff.

»Lacht, spottet nur! Ihr werdet mir meine Ansicht nicht rauben. Kiesewetter ist eins, und das Theater ist etwas anderes. Man braucht nicht, um für sein Seelenheil zu sorgen, fortwährend düstre Gesichter zu schneiden und zu weinen. Den Glauben besitzen, das genügt; dann findet man am Leben nur noch mehr Gefallen.«

»Aber Tante, wissen Sie, daß Sie besser prophezeien, als der beste Prophet?«

»Und Sie?« fragte Mariette, »wissen Sie, was Sie thun sollten. Sie sollten mich heute abend in meiner Loge besuchen.«

»Ich fürchte, ich werde dazu keine Zeit haben.«

Die Unterhaltung wurde durch den Eintritt des Kammerdieners unterbrochen, der der Gräfin den Besuch des Sekretärs einer wohlthätigen Stiftung meldete, deren Präsidentin sie war.

»O, das ist der langweiligste Mensch von der Welt, ich werde ihn einen Augenblick im kleinen Salon empfangen und komme dann gleich wieder zu euch. Du, Mariette, gieß inzwischen Thee ein.« Darauf verließ die Gräfin mit ihrem männlichen Schritte den Salon. Mariette zog einen ihrer Handschuhe aus und zeigte eine ziemlich schmale, aber vollständig mit Ringen überladene Hand.

»Darf ich Ihnen einschenken?« fragte sie Nechludoff und legte ihre Hand auf die Theekanne.

Dabei hatte ihr Gesicht einen noch ernsteren und traurigeren Ausdruck angenommen.

»Ich will Ihnen ein Geständnis machen,« sagte sie. »Nichts ist mir peinlicher, als der Gedanke, daß Personen, an deren Achtung mir gelegen ist, mich mit der Stellung verwechseln, in der zu leben ich gezwungen bin.«

Es hätte wenig gefehlt, so hätte sie bei diesen Worten zu weinen angefangen, und obwohl ihre Worte, wenn man sie genau betrachtete, nur eine oberflächliche Bedeutung hatten, so erschienen sie Nechludoff doch tief aufrichtig und gütig, eine so große Macht hatte über ihn der Blick, der die Worte der hübschen, frischen und eleganten Frau begleitete.

Ohne ihr zu antworten, sah Nechludoff sie an und konnte seine Augen nicht von ihrem Gesichte abwenden.

»Sie glauben vielleicht, ich verstehe Sie nicht, und wüßte nicht, was in Ihnen vorgeht. Ja, natürlich weiß ich, was Ihnen passiert ist, jeder weiß es hier. Doch niemand versteht Sie; nur ich verstehe, billige und bewundere Sie.«

»Es ist wirklich kein Grund, mich zu bewundern; noch habe ich nichts gethan.«

»Gleichviel, ich verstehe Ihre Gefühle, und die dieser Person. ... Es ist gut, es ist gut, ich werde nicht mehr davon sprechen ...« unterbrach sie sich, denn sie glaubte in Nechludoffs Zügen eine leise Unzufriedenheit zu bemerken. »Und ich begreife auch,« fuhr sie fort, indem sie sich nur mit dem Gedanken beschäftigte, sich das Herz des jungen Mannes zu erobern, »daß Sie, als Sie den ganzen Greuel und alle Leiden des Gefängnislebens erkannt, das Verlangen empfunden haben, diesen Unglücklichen zu Hilfe zu kommen, diesen Opfern der Selbstsucht und des Egoismus der Menschen ... Ich begreife, daß Sie den Plan gefaßt, Ihr Leben für diese Unglücklichen hinzugeben. Auch ich hätte gern das meinige geopfert, doch jedem ist sein Schicksal bestimmt.«

»Sind Sie denn mit Ihrem Schicksal nicht zufrieden?«

»Ich?« rief sie, gleichsam verblüfft, wie man überhaupt solch eine Frage stellen konnte. »Ja, ich habe die Pflicht, damit zufrieden zu sein, und bin es auch. Doch stets lebt in mir ein nagender Wurm, und ich muß Anstrengungen machen, um ihn mit Erde zuzuschütten.«

»Sie dürfen ihn nicht zuschütten, Sie müssen auf diese Stimme hören, die in Ihnen spricht,« sagte Nechludoff, vollständig unterjocht.

Häufig erinnerte sich Nechludoff in der folgenden Zeit mit tiefer Scham dieser ganzen Unterredung; häufig litt er darunter, wenn er die Miene ehrfurchtsvoller Aufmerksamkeit wieder vor sich sah, mit der Mariette ihm zugehört, als er ihr dann seine Besuche im Gefängnis und seine Eindrücke im Verkehr mit den Bauern erzählt hatte.

Als die Gräfin in den Salon zurückkehrte, unterhielten sich Mariette und Nechludoff wie intime Freunde, die nur sich inmitten einer fremden und feindseligen Menge verstehen. Sie unterhielten sich von der Ungerechtigkeit der Machthaber, von den Leiden der Schwachen und dem Elend des Volkes; doch in Wirklichkeit unterhielten sich ihre Augen trotz des Gemurmels der Worte von einem ganz anderen Gegenstand. »Wirst du mich lieben können?« fragten Mariettes Augen. »Ich werde es können,« erwiderten die Augen des jungen Mannes, und trotz der edlen Gedanken, die ihre Lippen aussprachen, zog sie der physische Wunsch zu einander.

Bevor sie ging, sagte Mariette noch zu Nechludoff, wie sehr sie sich freuen würde, ihm bei seinen Plänen zu dienen, und bat ihn, sie auf jeden Fall am nächsten Abend in ihrer Loge im Theater aufzusuchen, indem sie ihm versicherte, sie hätte in »einer höchst wichtigen Angelegenheit« mit ihm zu sprechen.

»Wer weiß, wann wir uns dann wiedersehen,« sagte sie seufzend, und richtete ihre Blicke auf ihre mit Ringen bedeckte Hand. »Es ist also abgemacht, Sie kommen, nicht wahr?«

Nechludoff versprach zu kommen.

In dieser Nacht blieb Nechludoff sehr lange in seinem Bett liegen, ohne einschlafen zu können. Jedesmal, wenn er sich an die Maslow, die Verwerfung ihrer Berufung, seinen Plan, ihr überallhin zu folgen, und die Art, wie er auf seine Güter verzichtet hatte, erinnerte, sah er, wie sich gleichsam wie eine Antwort auf diese Gedanken, die feine und reizende Gestalt Mariettes vor ihm aufrichtete, und er hörte, wie sie seufzend zu ihm sagte: »Gott weiß, wann wir uns wiedersehen werden!« Und wieder sah er ihr Lächeln; er sah es so deutlich und lebhaft, daß er selbst in der Nacht zu lächeln anfing. Unwillkürlich fragte er sich, ob er ein Recht gehabt, die Verpflichtung einzugehen, nach Sibirien zu reisen und sich seines ganzen Vermögens zu berauben.

Er fragte sich das, und die Antworten, die ihm in dieser klaren Petersburger Nacht in den Sinn kamen, waren merkwürdig unbestimmt und verworren. Alles ging in seinem Kopfe drunter und drüber. Er beschwor seine alten Gefühle herauf und ließ seine alten Gedanken wieder auferstehen; doch diese Gedanken und Gefühle hatten ihre frühere Macht über ihn verloren. »Ich habe mir da wieder Träume zusammengebaut, mit denen ich nicht leben kann,« dachte er, und da er sich von Fragen bedrängt fühlte, auf die zu antworten er nicht im stande war, so empfand er eine tiefe Traurigkeit und Mutlosigkeit, wie er sie seit langer Zeit nicht mehr gekannt. Als er gegen Morgen endlich einschlafen konnte, verfiel er in jenen dumpfen, schweren Schlummer, wie früher, wenn er die Nächte beim Kartenspiel zugebracht.


Das erste Gefühl Nechludoffs, als er am nächsten Morgen erwachte, war die unklare Empfindung, am vorigen Tage eine häßliche Handlung begangen zu haben. Er sammelte seine Erinnerungen, eine häßliche Handlung hatte er nicht begangen, aber häßliche Gedanken hatte er gehabt, was in seinen Augen noch schlimmer war. Entsetzt fragte sich Nechludoff, wie er bloß, wenn auch nur auf einige Minuten, solchen Gedanken sein Ohr hätte leihen können. So neu und schwierig sein Entschluß ihm auch war, er wußte doch, das Leben, das sich für ihn daraus ergeben würde, wäre das einzig mögliche für ihn. Und so leicht es auch für ihn gewesen wäre, zu seinem alten Leben zurückzukehren, er wußte doch, das wäre für ihn mit dem Ende des Lebens gleichbedeutend gewesen. Sein Zögern vom vorigen Tage machte auf ihn nur den Eindruck, wie die letzten faulen Bewegungen des erwachenden Menschen, der sich noch in seinem Bette reckt und wieder unter die Decken kriecht, während er doch weiß, daß der Augenblick gekommen ist, da er sich zu einer guten und wichtigen Angelegenheit erheben muß.

Schnell stand er auf und begab sich nach der Straße, in der die Mutter der Tschustoff wohnte.

Die Wohnung der Tschustoffs befand sich im zweiten Stock. Nach den Angaben des Portiers schritt Nechludoff durch dunkle Gänge, kletterte eine düstre und anstrengende Treppe hinauf und trat in eine zu stark geheizte Küche, die ein unerträglicher Geruch von schlechtem Fett erfüllte. Eine alte Frau stand mit aufgekrempten Aermeln, eine Schürze umgebunden und eine Brille auf der Nase, am Herde und mischte etwas in eine Kasserole.

»Was wünschen Sie?« fragte sie mit mißtrauischer Stimme, über ihre Brille blickend.

Doch Nechludoff hatte kaum seinen Namen genannt, als das Gesicht der alten Frau bereits den Ausdruck etwas schüchternen Vergnügens angenommen hatte.

»Ach, Fürst!« rief sie, die Hände an der Schürze abtrocknend, »wie gütig von Ihnen, daß Sie diese dunkle Treppe hinaufgestiegen sind! Sie, unser Wohlthäter! Ich bin ihre Mutter, Sie sind unser Retter,« fuhr sie fort, indem sie sich bemühte, Nechludoffs Hand, die sie in der ihrigen hielt, an ihre Lippen zu drücken. »Ich habe mir erlaubt, Sie gestern aufzusuchen. Meine Schwester hatte darauf bestanden, ich solle es thun. Meine Tochter ist hier, hier entlang, bitte, folgen Sie mir.«

Sie führte Nechludoff durch eine enge Thür in einen kleinen, schlecht erleuchteten Gang und versuchte dabei fortwährend, ihre Haare aufzustecken oder ihre nachlässige Kleidung in Ordnung zu bringen.

»Meine Schwester, die Kornilowa ...« sagte sie, »Sie haben jedenfalls von ihr gehört, sie war in eine Geschichte verwickelt ... eine sehr intelligente Person.« Mit diesen Worten öffnete sie eine Thür, die auf den Gang führte und ließ Nechludoff in ein kleines Zimmer treten, in welchem ein untersetztes junges Mädchen in einer gestreiften Kattunbluse, mit blonden, leichtgewellten Haaren, die ein rundes, äußerst blasses Gesicht umgaben, auf einem Divan saß. Ihr gegenüber saß ein junger Mann mit kleinem Schnurrbart, der eine russische Bluse mit gesticktem Kragen trug. Der junge Mann, der zusammengekauert auf seinem Stuhle dasaß, sprach so eifrig, daß zuerst weder er, noch das junge Mädchen den Eintritt Nechludoffs bemerkten.

»Lydia, der Fürst Nechludoff hat geruht ...«

Das blasse junge Mädchen überflog ein nervöses Zittern. Mit mechanischer Bewegung warf sie eine Locke hinter das Ohr zurück und richtete schüchtern ihre grauen Augen auf den Fremden.

»Endlich sind Sie frei,« sagte Nechludoff und reichte ihr lächelnd die Hand.

»Ja, endlich,« versetzte das junge Mädchen, während ihr Mund sich zu einem gutmütigen Kindeslächeln öffnete, und sie eine Reihe weißer Zähne zeigte. »Meine Tante hat Sie zu sprechen gewünscht. Tantchen!« rief sie, sich einer Thür zuwendend.

»Wera Efremowna hat sich über Ihre Verhaftung viele Sorgen gemacht,« sagte Nechludoff.

»Setzen Sie sich lieber hierher,« sagte Lydia und deutete mit dem Finger auf den Rohrstuhl, von dem der junge Mann aufgestanden war. »Mein Bruder,« fügte sie als Antwort auf den Blick, den Nechludoff auf ihren Gefährten warf, hinzu. Dieser schüttelte dem Fremden mit demselben gutmütigen Lächeln, das das Gesicht seiner Schwester verklärt hatte, die Hand und setzte sich dann ans Fenster, wo sich ein Gymnasiast von 15 oder 16 Jahren zu ihm gesellte.

»Wera Efremowna ist mit meiner Tante sehr befreundet, doch ich kenne sie fast gar nicht,« sagte das junge Mädchen.

In diesem Augenblicke kam eine Frau von 40 Jahren mit angenehmen und intelligenten Gesichtszügen aus dem Nebenzimmer. »Wie gütig, daß Sie gekommen sind,« rief sie und setzte sich neben ihrer Nichte auf den Divan, »Nun, und Werotschka? haben Sie sie gesehen, wie erträgt sie ihre Lage?«

»Sie beklagt sich nicht,« versetzte Nechludoff.

»Daran erkenne ich sie; welch große Seele! alles für die andern und nichts für sich!«

»Sie hat allerdings für sich um nichts gebeten und sich nur mit Ihrer Nichte beschäftigt. Sie hat mir gesagt, sie wäre vor allem über diese ungeheure Verhaftung betrübt.«

»In der That, eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit, die Unglückliche hat für mich gelitten.«

»Aber nicht doch, Tantchen,« rief Lydia, »ich hätte diese Papiere ohne Sie genommen.«

»Gestatte! Das weiß ich besser als du,« fuhr die Tante fort, »Sehen Sie,« sagte sie zu Nechludoff, »das alles kam daher, daß jemand mich bat, seine Papiere an mich zu nehmen und ich dieselben, weil ich keine eigene Wohnung habe, meiner Nichte ließ. In derselben Nacht kam die Polizei hin, hat die Papiere konfisziert und sie verhaftet. Und man hat sie bis jetzt dabehalten, weil sie nicht sagen wollte, von wem sie diese Papiere hatte.«

»Und ich habe es auch nicht gesagt,« erklärte Lydia eifrig.

»Das sage ich ja auch nicht,« versetzte die Tante.

»Wenn man Mitin verhaftet hat, so geschah das nicht meinetwegen,« fuhr Lydia errötend fort, indem sie einen unruhigen Blick auf ihre Umgebung warf.

»Aber du brauchst uns das ja gar nicht zu sagen, Lydotschka,« meinte die Mutter.

»Warum nicht? Ich werde im Gegenteil davon sprechen,« erklärte Lydia. Sie lächelte nicht mehr, war ganz rot und wickelte ihre Haare um ihren Finger, indem sie weiter unruhige Blicke nach den verschiedenen Seiten warf.

»Ich habe es nicht gesagt,« fuhr sie fort, »und mich darauf beschränkt, zu schweigen. Als sie mich nach meiner Tante und Mitin fragten, habe ich nicht geantwortet, und auch erklärt, ich würde nichts antworten. Da hat dieser Kiriloff ...«

»Kiriloff ist ein Gensdarm,« sagte die Tante, sich zu Nechludoff wendend.

»Da fing dieser Kiriloff an, mich auszuschelten,« fuhr Lydia seufzend und aufgeregt fort. »Jeder ist überzeugt, Sie werden sprechen,« sagte er zu mir, »und das kann niemandem schaden, im Gegenteil. Wenn Sie sprechen, werden Sie Unschuldige befreien, die sonst Gefahr laufen, ungerecht zu leiden.« »Aber trotzdem habe ich nichts gesagt, und nun meinte er: »Nun gut, sagen Sie nichts, aber leugnen Sie wenigstens nicht, was ich sagen werde.« Dann fing er an, Namen zu nennen, und nannte auch den Namen Mitin. Und denken Sie, am nächsten Tage erfahre ich, daß Mitin verhaftet ist. Also ich habe ihn ans Messer geliefert, sagte ich mir, und dieser Gedanke quälte mich derart, daß ich geglaubt habe, ich müßte wahnsinnig werden.«

»Aber es ist doch bewiesen, daß du nichts mit seiner Verhaftung zu thun hast,« sagte die Tante.

»Ja, aber ich wußte es nicht und dachte immer dabei: Ich habe ihn ans Messer geliefert. Ich ging in der Zelle hin und her und dachte: Ich habe ihn ans Messer geliefert, ich habe ihn ans Messer geliefert. Ich legte mich nieder, deckte mir den Kopf zu, und eine Stimme schrie mir ins Ohr: Du hast ihn ausgeliefert, du hast Mitin ausgeliefert! Es war entsetzlich,« rief Lydia, die immer lebhafter wurde und dabei eine Locke ihrer blonden Haare um ihren Finger hin und her wickelte.

»Lydotschka, beruhige dich,« wiederholte die Mutter und tippte ihr auf den Arm.

Doch Lydotschka konnte sich nicht beruhigen.

»Und das Gräßlichste dabei ist,« fuhr sie fort; dann stieß sie, ohne ihren Satz zu vollenden, einen Seufzer aus, stand von dem Divan auf und entfloh aus dem Zimmer, während ihre Mutter ihr folgte.

»Für die jungen Leute ist diese Einsperrung in die Zellen etwas Entsetzliches,« sagte die Tante, während sie sich eine Cigarette ansteckte.

»Nun, ich denke mir, das ist sie doch für jeden,« entgegnete Nechludoff.

»Nicht für jeden. Für die richtigen Revolutionäre – das haben mir viele gesagt – ist es im Gegenteil ein Ausruhen, eine Sicherheit. Die Unglücklichen leben in der Angst, in Entbehrung, in Furcht; sie fürchten gleichzeitig für sich, für die andern, und für ihr Werk. Dann verhaftet man sie eines schönen Tages, alles ist aus, jede Verantwortlichkeit hört auf, sie können sich ausstrecken und ausruhen. Ich kenne welche, die bei ihrer Verhaftung eine aufrichtige Freude empfunden haben. Doch für die Jungen, wie Lydotschka, ist die erste Erschütterung schrecklich. Was folgt, ist im Vergleich dazu gar nichts. Die Beraubung der Freiheit, die schlechte Behandlung, der Mangel an Luft und Nahrung, das alles hätte keine Bedeutung und ließe sich leicht ertragen, wäre nicht diese moralische Erschütterung, die man stets empfindet, wenn man zum erstenmale eingekerkert wird.«

Lydias Mutter, die jetzt zu Nechludoff zurückkehrte, teilte ihm mit, ihre Tochter wäre leidend und hätte sich ins Bett legen müssen.

»Ohne jede Ursache haben sie dieses junge Leben zu Grunde gerichtet,« sagte die Tante, »und ich leide noch mehr bei dem Gedanken, daß ich unwillkürlich die Ursache dieses schrecklichen Unglücks gewesen bin.«

»Aber nicht doch, noch ist nichts verloren, die Landluft wird sie wieder herstellen.«

»Ohne Sie wäre sie auf jeden Fall umgekommen,« fuhr die Tante, sich zu Nechludoff wendend, fort. »Doch ich vergesse ganz, Ihnen zu sagen, weshalb ich Sie eigentlich habe sprechen wollen. Ich wollte Sie bitten, Wera Efremowna diesen Brief zu übergeben. Das Kouvert ist nicht geschlossen. Sie können ihn lesen und zerreißen, wenn Ihre Ansicht mit dem Inhalt nicht übereinstimmt; doch ich habe darin nichts Kompromittierendes geschrieben.«

Nechludoff nahm den Brief, sagte den beiden Damen Adieu und verließ das Zimmer. Auf der Straße schloß er, bevor er den Brief in seine Brieftasche legte, das Kouvert, denn er war fest entschlossen, den Auftrag auszuführen, mit dem ihn die Tante der Lydia Tschustoff betraut hatte.


Nechludoff hätte Petersburg gern an diesem Abend verlassen, doch er hatte Mariette versprochen, sie im Theater aufzusuchen, und obwohl er sich darüber vollständig klar war, daß es seine Pflicht gewesen wäre, nicht hinzugehen, so beschloß er, es doch zu thun, indem er sich selbst belog, das heißt, indem er sich sagte, es wäre seine Pflicht, das gegebene Versprechen zu halten. Er sagte sich ferner, er hätte hier zum letztenmale Gelegenheit, jene Welt wiederzusehen, die einst die seine gewesen und ihm von jetzt ab fremd sein sollte. »Zum letztenmale will ich ihren Verführungen trotzen, ihr zum letztenmale ins Gesicht sehen,« dachte er und fühlte dabei doch, daß dieser Gedanke nicht so ganz aufrichtig war.

Sofort nach dem Diner erhob er sich von der Tafel, zog seinen Frack an und begab sich ins Theater, wo die Vorstellung schon längst begonnen hatte. Man spielte die ewige »Kameliendame«, in der die berühmte französische Schauspielerin dem Publikum wieder einmal zeigte, wie schwindsüchtige Frauen sterben.

Die Kontrolleure empfingen Nechludoff am Eingange des Theaters mit ganz besonderen Rücksichten, als sie erfuhren, welche hohe Persönlichkeit ihn eingeladen hatte, und beeilten sich, ihn zu Mariettes Loge zu führen. Der Kammerdiener der letzteren, der in Galalivree vor der Loge stand, begrüßte ihn vertraulich und führte ihn ein. Aller Augen im Theater waren auf eine knochige, häßliche und schon bejahrte Schauspielerin gerichtet, die, in Seide und Spitzen gekleidet, mit zerhackter und affektierter Stimme einen Monolog deklamierte. Als Nechludoff in die Loge trat und ihm gleichzeitig ein warmer und frischer Luftzug ins Gesicht schlug, drehte sich einer der Zuschauer nach ihm um und machte entrüstet: »Sst!« In der Loge hatte Mariette zwei Männer und eine dicke Dame in rotem Kleide mit einem ungeheuren Chignon neben sich sitzen. Von den beiden Männern war der eine der Gatte Mariettes, den Nechludoff zum erstenmale sah. Er war groß und wohlgebaut, mit gewölbter Brust, einem kühlen und harten Gesicht und großer Adlernase. Der andere Mann war ein kleiner, untersetzter Blondin mit grauem Schnurr- und Backenbart. Graziös, fein und elegant, in einem dekolletierten Kleide, das ihre festen und muskulösen Schultern sehr tief sehen ließ, saß Mariette im Vordergrund der Loge. Auch sie wandte sich beim Geräusch der Thür um, zeigte Nechludoff einen hinter ihr stehenden Stuhl und lächelte ihm vertraulich und bedeutungsvoll zu. Ihr Gatte nickte dem Fremden mit der Ruhe, die er bei allen seinen Handlungen zur Schau trug, mit dem Kopfe zu und warf dann einen befriedigten Blick auf seine Frau, den Blick des Besitzers eines schönen und eleganten jungen Weibes.

Als der Monolog zu Ende war, erbrauste das Theater unter einem wütenden Applaus. Sofort erhob sich Mariette und ging, mit einer Hand ihren Seidenrock festhaltend, in den Hintergrund der Loge, um Nechludoff ihrem Manne vorzustellen. Dieser lächelte seiner Frau weiter zu, reichte dem jungen Manne die Hand und sagte ihm in ruhigem Tone, er wäre entzückt, ihn kennen zu lernen. Damit war ihre Unterhaltung beendet.

»Ich hätte heute abend abreisen sollen, und ohne das Versprechen, das ich Ihnen gegeben, hätte ich es auch gethan,« sagte Nechludoff, sich zu Mariette wendend.

»Wenn es Ihnen kein Vergnügen macht, mich zu sehen,« versetzte diese, die seine Gedanken von neuem erriet, »so wird es Ihnen vielleicht Vergnügen machen, eine bedeutende Künstlerin zu sehen und zu hören. Wie schön sie in der letzten Scene war, nicht wahr?« fragte sie, sich zu ihrem Gatten wendend.

»Ich muß Ihnen gestehen, das alles bewegt mich nicht besonders,« versetzte Nechludoff, »ich habe heute so viel wirkliches Elend gesehen, daß ich ...«

»Nun, setzen Sie sich und erzählen Sie mir alles.« Der Gatte hörte die Unterhaltung zerstreut mit an, indem er immer ironischer lächelte.

»Ich bin zu dem unglücklichen Geschöpf gegangen, das man endlich in Freiheit gesetzt hat, nachdem man sie so lange im Gefängnis behalten; sie ist auf ewig vernichtet.«

»Das ist die Frau, von der ich dir heut' erzählt habe,« sagte Mariette zu ihrem Gatten.

»Ach ja, ich bin sehr glücklich gewesen, daß ich sie freilassen konnte,« versetzte der Gatte, während er sich erhob, um im Foyer eine Cigarette zu rauchen.

Nechludoff blieb sitzen und wartete immer, Mariette würde ihm »das« sagen, was sie ihm zu sagen hatte. Sie aber sagte ihm nichts, suchte ihm gar nichts zu sagen, sondern scherzte und sprach von dem Stücke, das ihn wohl ihrer Meinung nach ganz besonders interessieren mußte. Er sah bald, daß sie ihm in Wirklichkeit nichts zu sagen hatte, sondern daß sie sich ihm nur im vollen Glanze ihrer Abendtoilette mit den nackten Schultern und dem Schönheitsfleck auf einer derselben zeigen wollte, und diese Entdeckung bereitete ihm Vergnügen und erregte ihm gleichzeitig Widerwillen. Das Vergnügen kam von dem äußeren Zauber, der auf alledem lag; doch Nechludoff entdeckte gleichzeitig, was hinter diesem äußeren Zauber steckte, und das erregte ihm Widerwillen. Er freute sich über Mariettes Aussehen; doch gleichzeitig sagte er sich, diese hübsche Frau wäre eine Lügnerin, sie füge sich wunderbar in das Leben mit ihrem Schurken von Gatten; alles, was sie ihm am vorigen Tage gesagt, wäre erlogen, und sie wollte von ihm nichts weiter, als ihn zwingen, sich in sie zu verlieben. Und das war ihm gleichzeitig verhaßt und angenehm. Mehrmals erhob er sich von seinem Stuhle, um sich zu verabschieden, setzte sich aber immer wieder. Doch als der Gatte endlich mit einem starken Likörgeruch in seinem dicken Schnurrbart in die Loge zurückkehrte und seine ironischen Blicke auf den jungen Mann richtete, hielt es Nechludoff nicht mehr aus, benützte den Umstand, daß die Thür offen geblieben war, und stürzte auf den Korridor.

Als er über den Newsky-Prospekt ging, um zu seiner Tante zurückzukehren, bemerkte er vor sich eine hochgewachsene, wohlgebaute Frau, die mit auffallender Eleganz gekleidet war. Alle Vorübergehenden drehten sich nach ihr um und sahen ihr nach. Es war ein vollständig verschminktes Geschöpf, doch mit schönen Zügen. Sie lächelte Nechludoff an, und ihre Augen glänzten. Und dieses Geschöpf brachte auf Nechludoff dasselbe Gemisch von Verführung und Widerwillen hervor, das er vorhin in der Loge empfunden hatte.

Er entfloh, wütend auf sich selbst, und lief bis zur Mowskaja, wo er auf dem Quai zur großen Verwunderung der Polizisten auf und ab ging.

»Das ist dasselbe Lächeln, das Mariette an mich richtete, als ich in die Loge trat,« sagte er sich, »und dieses Lächeln hatte dieselbe Bedeutung. Der einzige Unterschied ist, daß dieses Weib offen und ehrlich spricht, während die andere ganz andere Gedanken heuchelt und scheinbar höhere Gefühle hegt. Im Grunde ist es dasselbe, doch diese spricht die Wahrheit, während die andere lügt!«

Nechludoff gedachte seines Verhältnisses mit der Frau seines Freundes, und eine Menge schmachvoller Erinnerungen kamen ihm in den Sinn. »Schrecklich,« sagte er sich, »ist dieses hartnäckige Verharren der Bestie im Menschen! Doch wenn sie offen daliegt, und du sie als das erkennst, was sie ist, so bleibst du derselbe, der du vorher warst, ob du nun nachgiebst oder widerstrebst; verbirgt sich dieses tierische Verlangen dagegen unter einer sogenannten poetischen Außenseite, will sie dir, anstatt dir in ihrer Niedrigkeit zu erscheinen, Respekt einflößen, so ist es ganz und gar um dich geschehen! Das Tier in dir unterdrückt den Menschen, und du kannst das Gute nicht mehr vom Bösen unterscheiden. Das ist schrecklicher, als alles Uebrige!«

Nechludoff sah das jetzt so klar, wie er die Paläste, die Festung, den Fluß, die Schiffe, die Fiaker vor sich sah. Und ebenso wie in dieser Nacht keine Schatten über der Stadt schwebten, sondern alles von einem traurigen und verschwommenen Lichte beleuchtet wurde, ebenso hatte Nechludoff die Empfindung, daß sich alle Schatten des Unverstandes in seiner Seele zerstreuten und einem farblosen und traurigen Lichte Platz machten. Er erkannte, daß alles, was als gut und bedeutend galt, in Wirklichkeit nur Schmach und Nichts war, und daß all dieser Glanz, all dieser Luxus des modernen Lebens uralte Laster bedeckte, die aus dem bestialischste Grunde der menschlichen Natur stammten.

Nechludoff hätte diese Entdeckung gern vergessen und nichts von ihr sehen mögen, doch er vermochte es nicht mehr, und ein seltsames Gefühl erstand in ihm, in welchem sich die Freude der Gewißheit mit einer schmerzlichen Furcht vereinte.


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