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Frühling

Wenn die Eisarbeiter große Flächen abtragen, so bricht der Teich meistens früher auf, da das vom Wind bewegte Wasser selbst bei kaltem Wetter das die Löcher umgrenzende Eis wegfrißt. Das traf in diesem Jahr beim Walden nicht zu, denn er hatte schon bald wieder ein neues, dickes Wams an Stelle des geraubten angezogen. Dieser Teich wird nie so zeitig eisfrei wie andere in der Nachbarschaft, erstens, weil er größere Tiefe besitzt und zweitens, weil kein Fluß durch ihn hindurchfließt, der das Eis schmelzen oder aushöhlen könnte. Ich erinnere mich nicht, daß er jemals im Winter aufbrach, selbst nicht im Winter 1852/53, wo die Teiche auf eine harte Probe gestellt wurden. Gewöhnlich fängt er ungefähr am ersten April an aufzutauen, acht bis zehn Tage nach dem Flintteich und nach Fair Haven. Das Eis schmilzt zuerst an der Nordseite und an jenen seichten Stellen, an denen es auch zuerst sich bildete. Er zeigt besser als irgend ein anderes Wasser ringsum den absoluten Fortschritt der Jahreszeit an, da er von vorübergehenden Temperaturschwankungen am wenigsten beeinflußt wird. Wenn es im März einige recht kalte Tage hintereinander gibt, so kann dadurch das Auftauen der erstgenannten Teiche bedeutend verzögert werden, während die Temperatur im Waldensee nahezu konstant steigt. Ein am 6. März 1847 in der Mitte des Walden ins Wasser versenktes Thermometer zeigte 32° Fahrenheit, also den Gefrierpunkt. Nahe am Ufer gab es 33° an; in der Mitte vom Flintteich an demselben Tage 32½°, und etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt in seichtem Wasser unter fußdickem Eis 36°. Dieser Unterschied von 3½° zwischen der Temperatur des tiefen und des seichten Wassers im Flintteich und die Tatsache, daß ein großer Teil dieses Gewässers verhältnismäßig flach ist, erklären, weshalb es so viel früher aufbricht als der Walden. Das Eis war an den seichten Stellen mehrere Zoll dünner als in der Mitte. Im strengen Winter war die Mitte am wärmsten und das Eis daselbst am dünnsten. Jeder, der einmal im Sommer am Ufer eines Teiches gewatet hat, konnte beobachten, wieviel wärmer das Wasser dicht am Ufer ist (wo die Tiefe nur drei bis vier Zoll beträgt), als etwas weiter hinaus, wieviel wärmer tiefes Wasser in der oberen Schicht als nahe am Grunde ist. Im Frühjahr übt die Sonne nicht nur durch die erhöhte Temperatur der Erde und der Luft Einfluß aus, sondern ihre Wärmestrahlen dringen durch mehr als fußdickes Eis, werden in seichtem Wasser vom Boden reflektiert, wärmen also das Wasser und bringen die Unterfläche des Eises zum Schmelzen, während sie gleichzeitig und auf direktem Wege auch die Oberfläche bearbeiten, so daß sie uneben wird und die Luftblasen im Eise sich nach oben und unten ausdehnen, bis die Eisfläche endlich ganz wie eine Honigscheibe aussieht und während eines Frühlingsregens plötzlich verschwindet. Das Eis hat seine Faserung so gut wie das Holz, und wenn ein Eisstück anfängt zu zerfallen oder Zellen zu bilden, d. h. wenn es das Aussehen einer Honigscheibe annimmt, so stehen die Luftzellen rechtwinklig zur ehemaligen Wasseroberfläche, ganz einerlei, in welcher Lage sich das Eisstück befindet. Dort, wo ein Felsen oder ein Baumstumpf nahe an die Oberfläche emporragt, ist das Eis bedeutend dünner, ja es ist sogar häufig durch die zurückgestrahlte Wärme völlig geschmolzen. In Cambridge hat man, wie mir erzählt wurde, den Versuch gemacht, Wasser in einem flachen Holzgefäß zum Gefrieren zu bringen. Dabei stellte sich heraus, daß die vom Boden des Gefäßes reflektierten Sonnenstrahlen, die unter dem Gefäß und auch zu beiden Seiten zirkulierende kalte Luft an Kraft übertrafen. Wenn ein warmer Regen mitten im Winter den Schnee auf dem Waldeneis zum Schmelzen bringt und in der Mitte hartes, dunkles oder durchsichtiges Eis zurückläßt, so sieht man meistens am Ufer einen etwa sechzehn Fuß breiten Streifen aus brüchigem, wenn auch dickerem Eise. Er verdankt sein Aussehen der zurückgestrahlten Wärme. Obendrein wirken, wie ich früher bereits einmal erwähnte, die im Eis befindlichen Blasen selbst als Brenngläser und bringen das unter ihnen befindliche Eis zum Schmelzen.

Die Erscheinungen des Jahres spielen sich in kleinem Maßstabe täglich an einem Teiche ab. Jeden Morgen wird – im großen und ganzen gesprochen – das flache Wasser schneller erwärmt als das tiefe (es braucht darum durchaus nicht so warm zu werden wie dieses), und an jedem Abend wird es rascher bis zum Morgen abgekühlt. Der Tag ist ein kurzer Auszug des Jahres. Die Nacht ist dem Winter, Morgen und Abend sind dem Frühling und Herbst zu vergleichen und der Mittag ist die Sommerglut. Das Krachen und Dröhnen des Eises zeigt eine Temperaturveränderung an. An einem prächtigen Morgen nach einer kalten Nacht, am 24. Februar 1850, war ich zum Flintteich gewandert, um dort den Tag zuzubringen. Da bemerke ich mit Erstaunen, daß im Eis, wenn ich mit dem dicken Ende meiner Axt daraufschlug, viele Meter weit ringsum ein Klang sich fortpflanzte, als ob ich ein Gongong oder eine straff gespannte Trommel berührt habe. Ungefähr eine Stunde nach Sonnenaufgang, sobald der Einfluß der Sonnenstrahlen sich bei ihm bemerkbar machte, die über die Hügelspitzen auf ihn herniederfielen, begann der Teich zu krachen. Er reckte und streckte sich, gähnte wie ein erwachender Mensch unter allmählich zunehmendem Spektakel. Das dauerte ungefähr drei bis vier Stunden lang. Um die Mittagszeit hielt er ein kleines Schläfchen, um gegen Abend, wenn er die Sonne nicht mehr spürte, abermals zu krachen. Ist das Wetter günstig, dann feuert ein Teich sein Abendgeschütz mit großer Regelmäßigkeit ab. Nur um die Mittagszeit, wo er viele Wunden besitzt und wo auch die Luft weniger elastisch ist, verliert er seine Resonanz ganz und gar. Wenn man dann auf ihn schlägt, jagt man den Fischen und den Bisamratten keinen Schrecken ein. Die Fischer glauben, daß das Donnern des Teiches die Fische scheu macht, und daß sie deshalb nicht anbeißen. An jedem Abend donnert der Teich übrigens nicht. Auch läßt sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen, wann es geschehen wird. Wenn ich auch keinen Witterungswechsel bemerke, er kann es. Wer hätte solch ein großes, kaltes und dickhäutiges Geschöpf für so empfindlich gehalten? Doch auch ein Teich steht unter bestimmten Gesetzen, denen er donnernd Gehorsam bezeugt, wenn er so sicher wie die Knospen im Frühling aufbrechen muß. Überall lebt die Erde, überall ist sie mit Papillen bedeckt. Der größte Teich ist so empfindlich für atmosphärische Veränderungen wie das Quecksilbertröpfchen in seiner Röhre.

Zu meiner Niederlassung in den Wäldern bestimmte mich auch der Umstand, daß ich dort Muße und Gelegenheit finden konnte, den Frühlingseinzug zu beobachten. Endlich fängt das Teicheis an wie eine Honigscheibe auszusehen. Ich kann meinen Schuhabsatz hineinbohren, wenn ich hinübergehe. Nebel, Regenschauer und wärmere Strahlen schmelzen allmählich den Schnee. Die Tage sind schon merklich länger geworden. Ich weiß jetzt, daß ich in diesem Winter meinen Holzvorrat nicht mehr zu ergänzen brauche. Großer Feuer bedarf es nicht mehr. Aufmerksam fahnde ich nach dem ersten Anzeichen des Frühlings, nach dem ersten verlorenen Zwitschern eines ankommenden Vogels, nach dem Gezirpe des gestreiften Eichhörnchens – denn sein Proviant muß jetzt beinahe verzehrt sein –, nach dem ersten Ausfall des Murmeltieres aus seinem Winterlager. Schon hatte ich die blaue Grasmücke, Blaue Grasmücke, Motacilla sialis. den Singsperling und die Weindrossel gehört, und doch war am 13. März das Eis noch fast einen Fuß dick. Als wärmeres Wetter eintrat, wurde es nicht auffallend vom Wasser weggefressen, brach auch nicht auf und wurde nicht wie in Flüssen fortgetrieben. Am Ufer war es zwar in einer Ausdehnung von ungefähr 1¾ Metern ganz weggeschmolzen, in der Mitte dagegen hielt es stand, sah zellig aus und war mit Wasser so sehr durchtränkt, daß man seinen Fuß selbst dort, wo es sechs Zoll dick war, hindurchstoßen konnte. Am nächsten Tage war es – vielleicht durch einen warmen Regen, dem Nebel folgte – ganz verschwunden, mit dem Nebel auf und davon – im Nebel entführt. Einmal war ich sogar noch über die Mitte gegangen fünf Tage bevor es gänzlich verschwunden war. 1845 war Walden am 1. April völlig eisfrei. 1846 am 25. März; 1847 am 8. April; 1851 am 28. März; 1852 am 18. April; 1853 am 23. März; 1854 ungefähr am 7. April.

Jeder Vorgang, der mit dem Aufbrechen der Flüsse und Teiche und mit regelmäßigerer Witterung zusammenhängt, ist besonders für uns, die wir in einem solch großen Schwankungen unterworfenen Klima leben, interessant. Wenn wärmere Tage kommen, dann hören die in der Nähe der Flüsse wohnenden Menschen während der Nacht das Krachen und erschreckende Dröhnen des Eises, das wie Artilleriefeuer klingt, oder als ob der Fluß seine Eisfesseln kurz und klein reißen wolle. Nach wenigen Tagen sehen sie dann das Eis hurtig davontreiben. So kriecht der Alligator aus dem Schlamme empor, wenn die Erde erbebt. Ein alter Mann, ein scharfer Beobachter der Natur, der all ihr Tun und Treiben so gut zu kennen scheint, als ob sie während seiner Kinderjahre auf Dock gelegen und er beim Einsetzen ihres Kieles geholfen hätte, dieser alte Mann, der, selbst wenn er so alt wie Methusalem werden sollte, sich kaum mehr natürliche Kenntnisse erwerben wird, erzählte mir (und ich war erstaunt, daß irgend ein Vorgang in der Natur ihn in Erstaunen setzen konnte, weil ich glaubte, zwischen ihr und ihm bestände kein Geheimnis), daß er an einem Frühjahrstage seine Flinte genommen und das Boot bestiegen habe, um sich ein wenig mit den Enten zu unterhalten. Die Wiesen waren noch mit Eis bedeckt, der Fluß dagegen war eisfrei und ohne Mühe kam er von Sudbury zum Fair Haven-Teich hinab, den er zu seinem Erstaunen mit festem Eis bedeckt fand. Der Tag war warm und er wunderte sich, wie eine solch große Eismasse sich noch behaupten konnte. Da er keine Enten sah, verbarg er sein Boot an der Nordseite, d. h. an der Rückseite einer Insel, und versteckte sich dann selbst in dem Unterholz an der Südseite, um auf die Tiere zu warten. Am Ufer war das Eis im Umkreis von zwölf bis fünfzehn Metern geschmolzen. Das Wasser war dort ruhig und warm, der Grund schlammig, wie ihn Enten lieben. Er glaubte, die Tiere würden sich schon bald einfinden. Nachdem er ungefähr eine halbe Stunde lang ruhig dort verweilt hatte, hörte er ein dumpfes und augenscheinlich sehr entferntes, aber ein eigenartig erhabenes und eindrucksvolles Geräusch, das sich mit keinem anderen je von ihm gehörten Laut vergleichen ließ. Immer mehr schwoll es an, als ob eine furchtbare Weltkatastrophe herannahe. Und plötzlich kam es ihm so vor, als ob dieses dumpfe Rauschen und Brausen von einem großen Schwarm Wasservögel herrühre, die sich hier niederlassen wollten. So griff er denn schnell seine Büchse und sprang erregt empor. Da fand er zu seiner Überraschung, daß der ganze Eiskörper sich während seines Wartens in Bewegung gesetzt hatte und gegen das Ufer trieb. Das Geräusch aber, das er vernommen hatte, war durch das Reiben des Eises am Ufer erzeugt. Erst wurde es stückweise abgebröckelt und abgespalten, dann aber türmte es seine Schollen zu einer beträchtlichen Höhe am Ufer des Teiches empor, bevor es zum Stillstand kam.

Endlich haben die Sonnenstrahlen den rechten Winkel erreicht. Warme Winde blasen Nebel und Regen fort und schmelzen die Schneehaufen. Die Sonne zerteilt den dunstigen Schleier und lacht auf eine rotbraun und weiß getüpfelte Landschaft herab, die Weihrauch zu ihr emporsendet, und durch welche der Wanderer von Inselchen zu Inselchen seinen Weg sucht, während ihn der Gesang von tausend murmelnden Bächlein und Flüßchen erfreut, die in ihren Adern Winterblut davontragen.

Selten hatte ich größere Freude an der Beobachtung einer Naturerscheinung als beim Anblick jener Formen, welche im auftauenden Sand und Ton zutage traten, wenn Sand oder Ton an den Seiten eines tiefen Eisenbahnhohlweges, an welchem ich auf meinem Wege zum Dorf vorbeikam, herabflossen. In solch großem Maßstabe sieht man dieses Phänomen nicht sehr häufig, obwohl die Anzahl frisch aufgeworfener Dämme aus diesem Material sich seit der Erfindung der Eisenbahnen sehr vermehrt haben muß. Das Material bestand aus Sand in allen Feinheitsgraden und in verschiedenen warmen Farben, meistens mit ein wenig Ton vermischt. Wenn die Kälte im Frühjahr nachläßt, ja selbst an einem Tautag im Winter beginnt der Sand die Abhänge hinunterzufließen wie Lava, wobei er bisweilen durch den Schnee hindurchbricht und ihn dort, wo bisweilen kein Sand zu sehen war, überschwemmt. Zahllose kleine Bäche überspringen einander, verflechten sich miteinander, wodurch ein hybrides Gebilde entsteht, das halb dem Gesetz der Strömung, halb dem der Vegetation gehorcht. Beim Fließen nimmt es die Gestalt saftiger Blätter oder Ranken an, bildet Haufen weicher Zweige, die mehr als einen Fuß dick sind und die, wenn man auf sie niedersieht, dem ausgezackten gelappten und dachziegelförmigen Thallus einiger Flechten gleichen. Oder man wird an Krallen erinnert, an Leopardentatzen oder Vogelfüße, an Hirn, Lungen oder Gedärme, an Exkremente aller Art. Es ist wirklich eine groteske Vegetation, deren Form und Farbe wir in Bronze nachgeahmt sehen, eine Art architektonisches Laubwerk, älter und typischer als Akanthus, Zichorie, Eine Komposite, Cichorium intybus. Epheu, Rebe oder irgend ein Pflanzenblatt. Vielleicht ist sie dazu bestimmt, unter gewissen Umständen den Geologen der Zukunft Rätsel aufzugeben. Der ganze Hohlweg machte auf mich den Eindruck einer mit Tageslicht überfluteten Stalaktitenhöhle. Die mannigfachen Schattierungen des Sandes sind auffallend reich und ansprechend. Sie umfassen die verschiedenen Eisenfarben, braun, grau, gelblich und rötlich. Wenn die flutende Masse den Graben erreicht, so breitet sie sich flacher in Strähnen aus. Die getrennten Ströme verlieren ihre halbzylindrische Form, werden allmählich flacher und breiter und vereinigen sich, sobald mehr Feuchtigkeit sie durchdringt, so daß sie schließlich einen flachen Strand bilden, der noch immer mannigfaltig und prächtig schattiert ist, und in dem man noch die ursprüngliche Pflanzenform zu erkennen vermag. Schließlich werden sie im Wasser zu Sand, zu Sandbänken, wie sie sich vor Flußmündungen bilden. Dann verliert sich die Pflanzenform in den welligen Erhebungen des Grundes.

Die ganze etwa zwanzig bis dreißig Fuß hohe Böschung ist an einer Seite und bisweilen gar an zwei Seiten mit Massen dieses Blätterwerkes oder dieses »Sandbruches« eine viertel Meile lang bedeckt. Sie alle schuf ein einziger Frühlingstag! Dieses Sandlaub ist deswegen so merkwürdig, weil es so außerordentlich schnell sich entfaltet. Wenn ich an der einen Seite die träge Dammböschung entlang sehe – denn die Sonne arbeitet zuerst nur an einer Seite – und an der anderen dieses üppige Laubwerk erblicke, so habe ich das Gefühl, als ob ich gewissermaßen in der Werkstatt jenes Künstlers stände, der die Welt und mich geschaffen hat, als ob ich zu ihm gekommen sei, während er noch bei der Arbeit ist und gerade diese Böschung spielend schafft, im Übermaß der Kraft neue Ornamente hier verstreuend. Ich habe das Gefühl, als ob ich den Eingeweiden des Erdballes näher stehe, denn diese sandige Überschwemmung ist gewissermaßen eine solch verzweigte Masse wie die Eingeweide des animalischen Körpers. So findet man also sogar im Sand eine Antizipierung des Pflanzenblattes. Kein Wunder, daß die Erde sich nach außen in Blättern ausspricht, da in ihr dieser Gedanke wohnt. Die Atome haben schon dieses Gesetz gelernt und sind damit erfüllt. Das schattenspendende Blatt sieht hier sein Vorbild. Innerlich, einerlei ob im Erdball oder im menschlichen Körper, ist es ein feuchter dicker Lappen, ein Wort, das sich besonders auf Leber, Lungen und Fettlappen anwenden läßt, λείβω, labor, lapsus, laufen oder gleiten, »Lapsus«; γόβος, globus, lobe, globe, auch lap, lappen, flap, klappen, und viele andere. Äußerlich ist es ein dünnes Blatt (engl. leaf) und f und v sind getrocknete b. Die Wurzel von lobe (Lappen) ist lb: die weiche Masse des b einlappig oder B doppellappig; dazu das flüssige l, das sie vorwärts schiebt. In globe, glb, wird die Funktion des Rachens zu Hülfe genommen, um durch das g den Sinn des Wortes zu vermehren. Die Federn und Flügel der Vögel sind noch trockenere, dünnere Blätter. So werden wir also aus der plumpen Larve im Erdboden zum luftigen, flatternden Schmetterling. Der Erdball selbst übertrifft sich beständig und wird in seiner Bahn beflügelt. Selbst das Eis gleicht anfangs Kristallblättern, als ob es in Formen geflossen wäre, die das Laub der Wasserpflanzen in den Wasserspiegel eindrückte. Ja, der ganze Baum ist nur ein Blatt. Flüsse sind noch größere Blätter; die zwischen ihren Windungen liegende Erde ist ihr Fleisch und die Städte und Städtchen sind die Insekteneier in den Winkeln, welche von den Abzweigungen gebildet werden.

Nach Sonnenuntergang hört der Sand zu fließen auf. Am Morgen beginnen die Ströme jedoch aufs neue zu fluten, und zahllose Verästelungen zu bilden. Hier kann man vielleicht beobachten, wie Blutgefäße sich bilden. Beim genauen Hinsehen bemerkt man, daß zuerst von der tauenden Masse ein Strom weichen Sandes, dessen Spitze wie ein Tropfen aussieht, sich absondert, daß dieser Strom wie eine Fingerspitze langsam und blind seinen Weg abwärts tastet, bis dann schließlich, während die Sonne höher und höher steigt und mehr Hitze und Feuchtigkeit sich entwickelt, der flüssigste Teil in seinem Bestreben, dem Gesetz zu gehorchen, dem auch der schwerfälligere Teil unterworfen ist, sich von dem Hauptstrom abtrennt und selbständig eine gewundene Rinne oder Arterie bildet, in welcher kleine, silberne Ströme von einem Teil der fleischigen Blätter oder Zweige zum anderen wie Blitze leuchten und bisweilen vom Sand verschlungen werden. Es ist wunderbar, wie schnell und mit welcher Vollkommenheit der Sand beim Fließen sich formt, indem er das beste Material, das in seiner Masse enthalten ist, benutzt, um die scharfen Ufer seines Kanals zu bilden. So mag es auch an den Quellen der Flüsse geschehen. Vielleicht ist in den Silikaten, die das Wasser absetzt, das Knochengerüst und in dem noch feineren Erdsediment und in den organischen Stoffen die Fleischfaser oder das Zellengewebe enthalten. Was ist der Mensch anders als eine Masse auftauenden Tones? Die Fingerspitze des Menschen ist ein erstarrter Tropfen. Die Finger und die Zehen stießen von der auftauenden Masse des Körpers nach der äußersten Peripherie des Körpers hin fort. Wer weiß, wie der menschliche Körper sich unter einem noch lieblicheren Himmel ausdehnen, wie er überströmen würde! Ist nicht die Hand ein Palmblatt mit seinen Läppchen und Adern? Das Ohr mit seinem Läppchen oder Tröpfchen kann man, wenn man die Phantasie zu Hülfe nimmt, als eine Flechte, umbilicaria, an den Seiten des Kopfes betrachten. Die Lippen ( labium von labor?) sind Lappen oder Auslappungen an den Seiten der Mundhöhle. Die Nase ist augenscheinlich ein geronnener Tropfen, ein Stalaktit. Das Kinn ist ein noch größerer Tropfen – der Tropfenfall vom Gesicht sammelt sich hier an. Die Wangen sind von der Stirn in das Tal des Gesichtes hinuntergerutscht: durch die Backenknochen wurden sie aufgehalten und breiteten sich flächenhaft aus. Jedes abgerundete Läppchen eines Pflanzenblattes ist ebenfalls ein dicker, jetzt zaudernder, größerer oder kleinerer Tropfen. Die Zacken sind die Finger des Blattes, und so viele Zacken es hat, nach so vielen Richtungen will es fließen. Noch mehr Wärme oder andere ihm zusagende Einflüsse würden es veranlaßt haben, noch weiter sich auszubreiten.

So hatte es den Anschein, als ob dieser eine Hügelabhang das Prinzip aller Naturvorgänge enthülle. Der Schöpfer dieser Erde patentierte nur ein Blatt. Welcher Champollion Jean Francis Champollion, ein französischer Gelehrter, Begründer der Ägyptologie, 1790–1832. Im Jahre 1831 ward für ihn ein Lehrstuhl der Ägyptologie am Collège de France gegründet. wird diese Hieroglyphe für uns enträtseln, damit wir schließlich ein neues Blatt umwenden können? Dieses Phänomen gewährte mir größere Freude als die üppige Fruchtbarkeit der Weingärten. Allerdings: es hat etwas Exkrementartiges in seinem Charakter und die Zahl der Haufen aus Lebern, Lungen und Gedärmen nimmt kein Ende, als ob der Erdball gewendet wäre und die Innenseite nach außen läge . . . Aber man wird hierdurch wenigstens daran gemahnt, daß die Erde Eingeweide besitzt und auch hier die Mutter der Menschheit ist . . . Das ist der Frost, der aus dem Boden kommt – das ist Frühling . . . Er ist der Vorbote des grünen, blühenden Frühlings, wie die Mythologie der Vorbote der Dichtkunst an sich ist. Nichts reinigt uns besser von Winterqualen und Verdauungsschwäche. Er überzeugt mich, daß Mutter Erde noch immer in den Windeln liegt und ihre Kinderfinger nach allen Seiten ausstreckt. Frische Locken bedecken die nackteste Stirn. Nichts Anorganisches ist zu bemerken. Diese Haufen Laubwerk liegen den Damm entlang wie die Schlacken eines Ofens und beweisen, daß die Natur innen »unter Hochdruck« steht. Die Erde ist durchaus kein Fragment toter Geschichte, wo stratum über stratum, wie eine Druckseite über der anderen liegt, kein Fragment, das Geologen und Archäologen hauptsächlich erforschen sollen, sondern lebendige Dichtung wie die Blätter eines Baumes, die den Blüten und Früchten vorauseilen – keine versteinerte, sondern lebendige Erde. Mit ihrem gewaltigen, zentralen Leben verglichen erscheint alles animalische und vegetabilische Leben nur schmarotzerhaft. Ihr Kreißen wird unsre exuviae aus den Gräbern heben. Und wenn wir auch Metalle schmelzen und ihnen die schönsten Formen geben: sie können mich nicht so ergreifen, wie die Formen, in welche diese geschmolzene Erde sich ergießt. Nicht nur die Erde, nein auch ihre Satzungen sind plastisch wie der Ton in des Töpfers Hand.

Und gar bald kommt nicht nur aus diesen Dämmen, sondern aus jedem Hügel, aus der Ebene und aus jeder Höhlung der Frost aus dem Boden, wie ein schläfriger Vierfüßler aus seinem Schlupfwinkel hervor, wandert mit Gesang dem Meere zu oder zieht in den Wolken in fremde Lande. Tau ist mit seiner milden Überredungskunst mächtiger als Thor mit seinem Hammer. Der eine schmilzt – der andere zertrümmert nur.

Als der Boden teilweise schneefrei war und einige warme Tage seine Oberfläche etwas getrocknet hatten, war es ein Genuß, die ersten zarten Zeichen des eben aus der Erde hervorlugenden, neugeborenen Jahres mit der stolzen Schönheit der verdorrten Vegetation zu vergleichen, welche den Winter überdauert hatte. Immergrün, Goldstab, die Spierstaude und anmutiges, wildes Gras fallen jetzt mehr auf, erwecken jetzt mehr Interesse als im Sommer, als ob ihre Schönheit erst jetzt zu voller Reife gelangt sei. Und das Woll- und Katzenschwanzgras, Wollkraut, Beifuß-, Nadel- und Mehlkraut und andere Pflanzen mit derbem Stengel, diese unerschöpflichen Kornspeicher, welche den ersten Vögeln Nahrung gewähren, gleichen dem bescheidenen Gewand, das die verwitwete Natur zunächst noch trägt. Hauptsächlich interessiert mich die gewölbte und garbenartige Spitze des Wollgrases. Sie ruft im Winter den Sommer zurück, und zeigt jene Formen, welche die Kunst mit Vorliebe nachahmt, und welche im Königreich der Pflanzen dieselbe Beziehung zu dem Menschenherzen bereits bekannten Typen haben, wie die Astronomie. Sie gibt einen uralten Stil wieder, der älter ist als der griechische oder der ägyptische. Viele Erscheinungen, die der Winter mit sich bringt, sind unaussprechlich zart, zerbrechlich und zierlich. Wir sind daran gewöhnt, daß dieser König als ein wilder, ungebändigter Tyrann geschildert wird. Er schmückt jedoch mit der Zärtlichkeit eines Verliebten des Sommers Locken . . .

Als der Frühling herannahte, kamen – immer gepaart – die roten Eichhörnchen unter mein Haus. Sie liefen über meine Stiefel, wenn ich dasaß und las oder schrieb. Dabei ließen sie das wunderlichste Glucksen und Girren, vokale Pirouettieren und Kichern hören, das ich je vernahm, und wenn ich dann mit den Füßen stampfte, so kicherten sie nur um so lauter, als ob sie mit ihren verrückten Possen jenseits von Furcht und Achtung ständen und der Menschheit das Recht absprächen, ihnen Einhalt zu gebieten . . . Was fällt Euch denn ein! . . . Chikarie, Chikarie! . . . Sie blieben meinen Forderungen gegenüber vollkommen taub, oder konnten ihre Berechtigung nicht einsehen. Sie schimpften dermaßen, daß man ihnen gegenüber machtlos war.

Der erste Sperling des Frühlings! Mit jüngerer Hoffnung denn je beginnt das Jahr! Einen leisen silbernen Triller lassen der Singsperling, die Weindrossel und die blaue Grasmücke über die teilweise noch nackten, feuchten Felder erschallen, als ob die letzten Winterflocken klingend herniederschweben. Wie wertet man in solchen Stunden Geschichte, Chronologien, Traditionen und alle geschriebenen Offenbarungen? Die Bäche singen Lobgesänge und jubeln dem Frühling zu. Tief über die Wiesen hin segelt der Sumpffalke und späht nach dem ersten schleimigen Leben, das hier erwacht. Der ersterbende Ton des schmelzenden Schnees läßt sich überall vernehmen und schnell löst sich das Eis auf den Teichen. An den Hügelhängen flammt das Gras wie ein Frühlingsfeuer empor – » et primatus oritur herba imbribus primoribus evocata« – als ob die Erde ein inneres Feuer nach außen sende, um die Wiederkunft der Sonne zu begrüßen. Nicht gelb, nein grün ist die Farbe dieser Flamme . . . Das Symbol ewiger Jugend, der Grashalm, quillt wie ein langes, grünes Band aus dem Boden in den Sommer hinein; zwar hat er mit dem Frost zu kämpfen, doch weiter und immer weiter strebend erhebt er seinen dürren Speer vom letzten Jahre in die Lüfte, während frisches Leben unten schon sich regt. Er wächst so stetig wie das Bächlein aus dem Boden sickert, ja, er ist identisch mit ihm. Denn wenn im Juni die langen Tage kommen und die Wässerchen austrocknen, dann sind die Grashalme ihre Kanäle und Jahr aus Jahr ein trinken die Herden diesen unversieglichen, grünen Strom, welchem der Schnitter bei Zeiten seinen Wintervorrat entnimmt. So stirbt auch unser Menschenleben nur bis zur Wurzel ab und schickt dann wieder grüne Sprossen zur Ewigkeit empor.

Walden schmilzt immer mehr. Ein etwa neun Meter breiter Kanal hat sich an seiner Nord- und Westseite gebildet. Ein großer Eisfeld ist von der Hauptmasse abgebröckelt. Im Unterholz am Ufer trillert der Singsperling – olit, olit, olit . . . chip, chip, chip, chie, tschrr . . . chie wiß, wiß, wiß . . . Auch er hilft beim Eissprengen. Wie herrlich sind die großen, mannigfachen Windungen am Eisrand. Fast gleichen sie denen am Ufer, nur sind sie regelmäßiger. Das Eis ist ungewöhnlich hart infolge der letzten, strengen, wenn auch nur kurze Zeit dauernden Kälte und wohl gereinigt und gewellt wie der Fußboden in einem Palast. Vergeblich streicht indessen der Wind über seine durchsichtige Oberfläche, bis er die lebendige Oberfläche darunter erreicht. Dieses in der Sonne funkelnde Wasserband gewährt einen herrlichen Anblick: es ist das unverhüllte Antlitz des Teiches voll Lust und Jugend, das die Freude der Fische in der Tiefe und des Sandes am Ufer auszudrücken wünscht. Silbern glänzt es wie die Schuppen des leuciscus, als ob es nur ein munterer Fisch wäre. Das ist der Unterschied zwischen Winter und Frühling. Walden war tot und ist wieder zum Leben erwacht . . . Allerdings ging das Erwachen in diesem Jahre, wie ich schon erwähnte, langsamer vonstatten.

Der Umschlag von winterlich stürmischem zu mildem, heiterem Wetter, von trüben und trägen zu hellen und tatkräftigen Stunden ist eine denkwürdige Krisis, welche sich in allen Dingen bemerkbar macht. Schließlich ist er wie mit einem Zauberschlage da. Eine Flut von Licht erfüllte plötzlich mein Haus, obwohl Winterwolken darüber standen, obwohl der Abend nahe war und aus den Dachtraufen Graupelregen herniederrann. Ich blickte zum Fenster hinaus und – siehe da! Wo gestern noch kaltes, graues Eis sich befand, lag jetzt der durchsichtige See bereits in voller Ruhe und hoffnungsfreudig wie an einem Sommerabend, spiegelte in seinem Schoß einen Sommerabend wieder, obwohl er über ihm noch nicht sichtbar war. Es war, als ob er mit einem fernen Horizont im Einvernehmen stände! In der Ferne hörte ich ein Rotkehlchen. Zum erstenmal, wie mich dünkte, seit Jahrtausenden, lauschte ich seinem Lied. Und in vielen Jahrtausenden werde ich dieses Lied nicht vergessen – den alten süßen bezaubernden Sang aus der Ewigkeit . . . O, Du mein Rotkehlchen, mein Genosse am Sommerabend in Neuengland! Könnte ich doch den Zweig finden, auf dem Du Dich wiegst! Ich meine gerade Dich! Ich meine auch gerade diesen Zweig! Du gehörst sicher nicht zum Stamme turdus migratorius! . . . Die Pechtannen und Zwergeichen bei meinem Hause, die so lange die Köpfe hängen ließen, zeigten plötzlich wieder ihren altgewohnten Charakter, sahen heller, grüner, stolzer, lebensfroher aus, als ob sie durch den Regen wirklich gereinigt und erfrischt wären. Ich wußte, daß es nicht mehr regnen würde. Man braucht nur irgend einen Zweig im Walde, ja nur den Holzstoß anzusehen, um zu wissen, ob dieser Winter fortzog oder nicht. Als die Dunkelheit herabsank, schreckte mich das Honk – Honk der Wildgänse auf, die dicht über den Baumgipfeln dahinflogen, wie traurige Wanderer, die spät von südlichen Seen heimkehrten und schmerzvolle Klagen und gegenseitige Tröstungen sich zuriefen. Ich stand vor meiner Tür. Ihr Flügelschlag war deutlich zu hören. Doch als sie sich meinem Hause näherten und plötzlich mein Licht sahen, verstummte ihr Geschrei. Sie schwenkten nach dem Teich hin ab und ließen sich auf ihm nieder. Ich ging ins Haus, machte die Tür zu und verbrachte die erste Frühlingsnacht in den Wäldern . . .

Am Morgen beobachtete ich die Gänse von meiner Tür aus durch den Nebel. Sie segelten mitten auf dem Teiche, etwa dreihundert Meter entfernt, mit so viel Lärm und in solcher Anzahl umher, daß der Walden den Eindruck machte, als sei er künftig für ihr Vergnügen hergerichtet. Sobald ich aber am Ufer erschien, stiegen sie auf ein Zeichen ihres Führers mit lautem Flügelschlag in die Lüfte. Dann stellten sie sich – ich zählte neunundzwanzig – in Reih und Glied, zogen ihre Kreise über meinem Haupt und nahmen schließlich den Kurs direkt auf Canada zu, während der Kommodore von Zeit zu Zeit regelmäßig sein Honk ertönen ließ. Sie hofften ihren Hunger in schlammreicheren Teichen stillen zu können. Ein Schwarm Wildenten stieg zu gleicher Zeit auf und schlug den Weg nach Norden ein, die gleiche Flügelbahn benutzend wie ihre noch mehr lärmenden Verwandten.

Eine Woche lang hörte ich an nebeligen Morgen eine einsame Wildgans, die schreiend im Kreise umhertappte, um ihre Gefährten zu suchen. Sie erfüllte die Wälder mit dem Klang eines reicheren Lebens, als sie zu unterhalten vermochten. Im April ließen sich die Tauben wieder sehen; schnell kamen sie in kleinen Schwärmen herbeigeflogen. Zur richtigen Zeit hörte ich auch die Mauerschwalben, die über meiner Lichtung zwitscherten. Da es nicht den Anschein hatte, als ob das Stadtgebiet an diesen Sängern so reich sei, daß es mir einige abtreten könnte, bildete ich mir ein, daß sie jenem alten Geschlechte angehörten, das in Baumstämmen lebte, bevor die weißen Männer kamen. Fast in jedem Klima gehören die Schildkröte und der Frosch zu den Vorboten und Herolden dieser Jahreszeit. Die Vögel singen und schwirren mit glänzendem Gefieder durch die Luft. Pflanzen sprossen empor und blühen und die Winde wehen, um diese leichte Schwankung der Pole auszugleichen, um das Gleichgewicht der Natur wieder herzustellen.

Wie jede Jahreszeit, sobald sie einmal da ist, uns als die beste erscheint, so wirkte der Frühlingseinzug wie die Erschaffung des Kosmos aus dem Chaos, wie die Verwirklichung des goldenen Zeitalters auf uns.

»Eurus ad Auroram, Nabathaeaque regna recessit
»Persidaque, et radiis juga subdita matutinis.«
Ovid, Metamorphosen, Fabula I Vers 57-58.
»Eurus entwich zu Aurora, zur nabathanischen Herrschaft,
»Und zu dem Persergebiet, und den Höhen am Lichte des Morgens.

»Und es erhob sich der Mensch: ob ihn aus göttlichem Samen
»Schuf der Vater der Ding' als Quell der edleren Schöpfung,
»Oder ob frisch die Erde, die jüngst vom erhabenen Äther
»Los sich wand, noch Samen enthielt des befreundete Himmels.« Ovid, Metamorphosen, Fabula II Vers 7–10.

Ein einziger, milder Regen macht das Gras um manche Schattierungen grüner. So hellt sich unsere Zukunftshoffnung durch den Einfluß besserer Gedanken auf. Gesegnet wären wir, wenn wir immer in der Gegenwart lebten, wenn wir jedes Ereignis, das an uns herantritt, vorteilhaft zu benutzen wüßten, wie das Gras, das den Einfluß des leichtesten Taus, der es feuchtet, verrät, wenn wir unsere Zeit nicht dazu mißbrauchten, früher Versäumtes nachzuholen, was wir dann Pflichterfüllung nennen. Wir kleben noch am Winter, wenn es schon Frühling ist. An einem frischen Frühlingsmorgen sind dem Menschen alle Sünden vergeben. Solch ein Tag bringt Waffenstillstand für das Laster. Solange solch eine Sonne ohne Unterlaß uns scheint, kann der größte elendste Sünder umkehren. Durch die Unschuld, die wir selber wiederfanden, sehen wir die Unschuld unserer Nachbarn. Auch wenn Du Deinen Nächsten gestern noch als Dieb, Trunkenbold oder Lüstling gekannt hast, nur Mitleid oder Verachtung für ihn fühltest und an der Welt verzweifelt bist – jetzt an diesem ersten Frühlingsmorgen, wo hell und rein die Sonne hinunterblickt, siehst Du ihn bei friedlich heiterer Arbeit, siehst wie seine schlaffen, kranken Adern mit stiller Freude sich füllen, den neuen Tag segnen und wie er den Einfluß des Frühlings mit Kinderunschuld in sich saugt, und all seine Sünden sind vergessen. Ihn umschwebt nicht nur eine Atmosphäre guten Willens, nein auch ein Drang nach Heiligkeit ringt blind und vergeblich vielleicht nach Betätigung wie ein neuerwachter Instinkt, so daß – wenigstens eine Zeitlang der Hügelabhang keinen gemeinen Witz vernimmt. Du siehst einige unschuldige, schöne Triebe, die gerade aus der knorrigen Rinde hervorbrechen wollen, um ein neues Lebensjahr zu versuchen, so zart und frisch wie der jüngste Tag. Auch er ging ein zu seines Herrn Freude. Warum läßt der Kerkermeister die Türen nicht weit offen stehen? Warum schickt der Richter den Angeklagten nicht fort? Warum schickt der Priester seine Gemeinde nicht fort? Weil sie alle Gottes Wink nicht folgen, nicht die Vergebung annehmen wollen, die ihnen von Herzen angeboten wird.

»Eine Rückkehr zum Guten, welche jeden Tag in der ruhigen und wohltuenden Atmosphäre des Morgens sich vollzieht, bewirkt, daß wir uns mit unserer Tugendliebe und mit unserem Lasterhaß ein wenig der Urnatur des Menschen nähern, wie die Sprossen des Waldes, den man niederschlug. Ebenso hindert das Böse, das wir im Verlauf des Tages tun, die kaum erwachten Keime der Tugend an ihrer Entfaltung und zerstört sie.«

»Werden die Keime zur Tugend auf diese Weise mehrfach an ihrer Weiterentwickelung gehindert, dann genügt der wohltuende Hauch des Abends nicht, sie zu erhalten. Sobald aber der Hauch des Abends nicht mehr genügt, sie zu erhalten, dann unterscheidet sich des Menschen Natur nicht mehr von des Tieres Natur. Wenn aber ein Mensch den anderen so tierisch sieht, dann glaubt er, daß dieser nie die angeborene Fähigkeit der Vernunft besessen habe. Sind das die wahren und natürlichen Gefühle des Menschen?«

»Es entsproßte das goldene Geschlecht, das von keinem gezüchtigt,
»Ohne Gesetz freiwillig der Treu und Gerechtigkeit wahrnahm,
»Furcht und Strafe war fern. Nicht lasen sie drohende Worte
»Auf dem gehefteten Herz, nicht bang vor des Richtenden Antlitz
»Stand ein flehender Schwarm; ungezüchtigt waren sie sicher.
»Nie vom eignen Gebirg', um der Fremdlinge Welt zu besuchen,
»Stieg die gehauene Fichte hinab in die flüchtige Woge:
»Außer den ihrigen kannten die Sterblichen keine Gestade.

     . . . . .

»Ewig waltete Lenz und sanft, mit lauem Gesäusel
»Fächelten Zephyrus' Hauche die saatlos keimenden Blumen.« Ovid, Metamorphosen, Fabula III: Aurea aetas. Vers 1–8; 19–20.

Am 29. April fischte ich vom Flußufer aus nahe bei der Nineacrecornerbrücke, auf Zittergras und Weidenwurzeln stehend, dort wo Bisamratten auf der Lauer liegen. Da hörte ich plötzlich einen eigentümlichen, klappernden Ton, wie ihn Knaben mit zwischen den Fingern geklemmten Holzstückchen hervorbringen, und als ich in die Höhe sah, erblickte ich einen sehr schlanken anmutigen Falken, der, einem Nachtfalken gleichend, bald in leichten Kurven aufwärtsstieg, bald, sich überstürzend, etwa drei bis sechs Meter niederfiel, wobei die Unterseite seiner Flügel sichtbar wurde, die wie Atlasband oder Perlmutter im Sonnenscheine glänzten. Dieser Anblick erinnerte mich an Falkenjagden und all das Erhabene und Poetische, was mit diesem Vergnügen verknüpft war. Merlin sollte er heißen, dachte ich bei mir. Doch der Name ist mir Nebensache. Es war der ätherischste Flug, den ich je gesehen habe. Er flatterte nicht einfach wie ein Schmetterling, oder schwebte wie die größeren Falken, sondern spielte mit stolzer Zuversicht in luftigen Gefilden. Immer wieder stieg er, während sein seltsames Glucksen erklang, hoch empor und immer aufs neue wiederholte er seinen schönen Fall, wobei er sich wie ein Papierdrache fortwährend um sich selbst drehte. Dann hemmte er plötzlich seinen Sturz durch die Luft, als ob sein Fuß nie terra firma betreten habe. In der großen, weiten Welt schien er keine Kameraden zu besitzen. Die waren für ihn nicht notwendig. Er erfreute sich an seinem einsamen Spiel mit dem Morgen und dem Äther. Er war nicht einsam, doch er machte die ganze Erde unter sich einsam. Wo waren die Eltern, die ihn ausbrüteten, wo seine Verwandten, wo sein Vater im Himmel? Dieser Bewohner der Lüfte schien mit der Erde nur durch das Ei verwandt, das vor kurz oder lang in einem Felsenspalt ausgebrütet wurde. Oder lag das Nest seiner Geburt in einem Wolkenwinkel aus Regenbogenfasern und Sonnenuntergangshimmel geflochten und mit weichem Hochsommernebel ausgepolstert, der der Erde entquoll? Horstete er jetzt an Wolkenklippen? . . .

Außerdem fing ich mir ein erlesenes Gericht goldener, silberner und hellkupferner Fische, die wie eine Edelsteinkette aussahen. Ach, zu diesen Wiesen habe ich mir an manchem ersten Frühlingsmorgen den Weg gebahnt, von einer Bodenerhebung zur anderen, von Weidenwurzel zu Weidenwurzel springend. Das brausende Flußtal und die Wälder waren in einem so reinen, hellen Licht gebadet, daß es die Toten hätte aufwecken müssen, wenn sie – wie manche glauben – in ihren Gräbern geschlummert hätten. Es bedarf keines stärkeren Beweises für die Unsterblichkeit. In solchem Licht muß alles leben! Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Dein Sieg? . . .« Siehe 1. Korinth. Kap. XV Vers 55.

Das Leben in unseren Dörfern würde bald ins Stocken geraten, gäbe es nicht die unerforschten Wälder und Wiesen ringsherum. Wir brauchen die Wildnis als Stärkungsmittel. Wir müssen bisweilen durch Sümpfe waten, wo die Rohrdommel und das Wasserhuhn sich verstecken. Wir müssen bisweilen den Schrei der Schnepfe hören, flüsterndes Röhricht riechen, in dem nur einsamere, wildere Vögel ihre Nester bauen und wo die Sumpfotter mit dem Bauche dicht am Boden kriecht. Mit demselben Ernste aber, mit dem wir alles zu erforschen und zu lernen wünschen, verlangen wir gleichzeitig, daß alles geheimnisvoll und unerforschbar bleibe, daß Land und Meer uns unerforschte und unergründete Rätsel bleiben, weil sie unerforschlich sind. Wir können nie genug Natur bekommen. Wir müssen uns an dem Anblick unerschöpflicher Kraft erquicken, an großen titanischen Formen, am Meeresstrand mit seinen Schiffstrümmern, an der Wildnis mit ihren lebendigen und modernden Bäumen, am Gewitterhimmel und am Regen, der drei Wochen herniederfällt und das Land überschwemmt. Wir müssen sehen, wie unsere eigenen Grenzen überschritten werden, wie dort frei ein Leben weidet, wo wir nie wandern. Mit Freude sehen wir, wie der Geier sich vom Aase nährt. Was uns Ekel und Abscheu einflößt, wird ihm eine Quelle der Gesundheit und der Kraft. Ein totes Pferd lag in einer Grube neben dem Weg, der zu meinem Hause führte. Manchmal wurde ich – hauptsächlich nachts, wenn die Luft dick war – dadurch gezwungen, einen Umweg zu machen. Doch der Beweis, den die Natur mir für ihren kräftigen Appetit und ihre unzerstörbare Gesundheit gab, entschädigte mich dafür. Mit Freude sehe ich, daß die Natur Leben in solcher Fülle birgt, daß Myriaden geopfert, einander zur Beute überlassen werden können, daß zarte Geschöpfe so gelassen wie Brei aus ihrem Dasein herausgequetscht, Kaulquappen von Reihern verschlungen, Schildkröten und Kröten auf der Landstraße überfahren werden, daß bisweilen Leben aus den Wolken herniederregnet. Da jeder unglücklichen Zufällen ausgesetzt ist, können wir uns denken, wie gering das Leben veranschlagt ist. In all diesen Dingen sieht der Weise nur die universelle Unschuld. Gift ist durchaus nicht giftig und Wunden, die töten, gibt es nicht. Mitleid ist durchaus nicht beständig. Drum betätige man es schnell. Seine Argumente lassen sich nicht stereotypieren.

Am Anfang des Mai breiteten die Eichen-, Nuß-, die Ahorn- und manche andere Bäume, die im Tannenwald rund um den Teich herum jetzt gerade ausschlugen, an nebeligen Tagen einen Glanz wie Sonnenschein über die Landschaft, als ob die Sonne den Nebel durchbräche und lieblich die Hügelhänge hier und dort beleuchte. Am dritten oder vierten Mai sah ich einen Taucher auf dem Teich, und am Ende der ersten Maiwoche hörte ich noch den Tagschläfer, die Braundrossel, den Waldspötter, den Pievieh, das Rotkehlchen und andere Vögel. Die Walddrossel hatte ich schon viel früher vernommen. Auch die Phöbe kam wieder herbei, schaute zur Tür und zum Fenster hinein, um zu sehen, ob das Haus geräumig genug für sie sei. Während sie Haus und Hof betrachtete, schwebte sie mit summendem Flügelschlag umher und schlug die Krallen ein, als ob sie sich an der Luft festklammere. Bald bedeckten die schwefelgelben Pollen der Pechtannen den Teich, die Steine und die modernden Stämme am Ufer. Man hätte sie faßweise sammeln können. Das sind die »Schwefelregen«, von denen man berichtet. Selbst in Kalidasas Drama Sakuntala lesen wir, daß »die Bäche gelb sich färbten vom goldenen Staub der Lotusbäume« . . . So eilte die Zeit dem Sommer zu wie einer, der wandert durch höheres und immer höheres Gras.

Mein erstes Jahr in den Wäldern war verstrichen. Ihm ähnelte das zweite. Ich verließ Walden schließlich am 6. September 1847.


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