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Sylvester Mang war ein stiller und bescheidener Mensch. Er fügte sich in den Willen derer, welche ein Recht auf seinen Gehorsam hatten, und dachte nicht viel über seine eigenen Wünsche nach.
Er hatte sich nicht gefragt, ob ihm der geistliche Beruf zusage. Er wußte es nicht anders, als daß er Theologie studieren müsse.
So war es bestimmt von Anfang an; von der Stunde an, in welcher die alte Veronika Mang ihrem Schwager, dem reichen Spanninger von Pasenbach, in die Hand versprach, es solle der kleine Sylvester auf das geistliche Fach studieren und dereinst die Messe lesen zu Ehren Gottes.
Sylvester erinnerte sich oft an jenen Tag. Wie die Mutter so stolz war und geschwind aus der Stube lief, daß sie es gleich der Nachbarin sagen konnte.
Und wie sie dann mit ihm zum Schneiderfranzl ging, der zwei Anzüge anmessen mußte. Einen schwarzen dabei auf den besonderen Wunsch des Vetters, damit sich die Sache gleich geistlich ansah. Das gab ein Staunen und Bewundern, als der schwarze Rock fertig war!
Er hing dem kleinen Sylvester über die Knie herunter, die Schulternaht saß auf halber Brusthöhe, und die Ärmel streckten sich vor bis auf die Fingerspitzen.
Überall war der Rock zu weit und zu lang.
Aber der Schneiderfranzl sagte, so wäre es recht, und so müsse es sein. Denn die engen Röcke sähen so windig aus und paßten nicht für das studierte Wesen.
Da lachte die Veronika Mang von Herzen vergnügt und freute sich über den kleinen Sohn und den großen Rock. Und dann mußte Sylvester seine schuldige Aufwartung machen beim alten Pfarrer Maurus Held.
Der lachte auch, wie er den neuen Lateiner sah, und sagte: »Du schaust ja aus wie noch mal ein geistlicher Rat. Verlier nur den Mut nicht! Discendo crescimus oder crescendo discimus muß es bei dir heißen; im Wachsen lernen wir. Wenn dir der Rock einmal knapp sitzt, hernach bist du schon ein Gelehrter.«
Und er holte sein Lieblingsbuch vom Spinde herunter, Forsteneichners »Naturbilder«. »Das will ich dir schenken, parvule«, sagte er, »es ist ein herrliches Buch. Darin sollst du lesen, wie brav es der liebe Gott meint mit unserer Welt.«
Dann schrieb er auf die erste Seite:
»Perfer et obdura, labor hic tibi proderit olim. Halte aus und arbeite, kleiner Sylvester, später wird es dir nützen. Denke zuweilen an deinen geistlichen Lehrer Maurus Held.«
Wohl dachte er oft an den gütigen Mann, der ihn später fragte, ob er auch die Kraft fühle für den geistlichen Stand.
»Es ist nicht immer leicht, auf dem einsamen Weg zu gehen. Manches Mal hält man den Schritt an und möchte lieber umkehren.«
Damals durfte er die Frage heiter bejahen. Er lernte gern und dachte nicht über die Schule hinaus.
Oder nur so, daß er sich auf die Ferien freute. Auf das Herumschlendern in des Herrgotts grünem Wald, an der Seite des würdigen Pfarrers Held.
Der fragte ihn ordentlich aus, ob er Pflanzen und Tiere kenne und die Sprache der Natur verstehen lernte aus den Schilderungen des Meisters Forsteneichner.
Und Sylvester bestand die Prüfung mit Ehren. Denn ihm selber war das Buch, welches so treuherzig erzählte, lieb geworden. Und dann mußte er ihm berichten, wie das Studium vorwärtsging.
Der Alte hörte lächelnd zu, wenn der junge in Eifer kam und die Schönheit des Gelernten rühmte.
»So ist es recht, parvule. Bleib nur dabei und verlier mir die Wärme nicht!« – »Es wird einmal trockener kommen«, sagte er ein anderes Mal, »die artes liberales werden in den Winkel gestellt, wenn es über die Dogmatik und Homiletik hergeht. Vergiß darüber nicht alles, was dich jetzt freut. Libri amici optimi; die Alten bleiben uns gute Freunde.«
Und an einen Tag erinnerte sich Sylvester oft und gerne. Es war ein Sonntag im August. Nach der Kirche gingen Held und er über die Felder gegen Webling zu. Das Korn stand in der Reife. Von Hügel zu Hügel dehnte sich der goldgelbe Segen. Über den Wald herüber kam der frische Morgenwind und rauschte in den Kronen der Bäume.
Dann ging er liebkosend über die Fluren. Die Halme bogen sich, und leichte Schatten liefen über das Gold vom Fuße des Hügels bis hinauf, wo die Ähren in den blauen Himmel ragten. Da nahm Maurus Held den Hut ab und sah mit leuchtenden Augen in die schöne Gotteswelt.
»So denke ich mir den Herrn Christus am liebsten«, sagte er, »wie er segnend durch die Felder wandelt. Und just so müßte sich das ansehen wie hier. Daß es wie ein Hauch geht über die Halme, die sich ehrfürchtig beugen vor des Menschen Sohn.
Vor der Menschen Freund, parvule, der die Armut weihte und den Reichen den Himmel verwehrte; das haben wir von ihm als besten Gewinn, daß er das Leben der Kleinen und die Arbeit verklärte.
Die Menschen wissen es freilich nicht mehr und die am wenigsten, welche seine Lehre den Fürsten und Herren mundgerecht machen. Auch du kannst mich heute nicht verstehen, parvule. Nein, nein! Später einmal, wenn dir die tiefe Weisheit klar wird, daß aus dem alten Fluche ein Segen wurde. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!«
Sylvester verstand den Alten nicht, aber er dachte wohl, daß es gut sei, wie alles, was er sagte.
Er hing mit gläubiger Verehrung an dem Manne, und es war sein erster großer Schmerz, als ihm die Mutter nach Freising schrieb, die Woche vorher sei Pfarrer Held nach längerem Leiden gestorben.
Das war wenige Monate nach jenem Sonntage.
Als Sylvester zu Ostern heimkam, war sein erster Gang in den Friedhof. Da stand auf prunkvoller Marmortafel der Name Maurus Held. Und darunter der Satz: »Er lebte einzig seinem Gotte und fand sein Labsal nur im Gebete.«
Seine wohlhabende Schwester hatte ihm dieses Denkmal gesetzt, das jedem in die Augen fiel.
Sylvester war nicht zufrieden damit. Am wenigsten mit der Inschrift. Er wußte es besser als viele, daß der heitere Mann seine Erholung nicht ausschließlich im Gebetbuche suchte und fand. Er hatte von ihm oft kräftige Worte gehört, wenn er diese Welt pries, welche nur Dummköpfe als schlecht verschreien. Ein eifriger Kooperator hatte sogar arge Zweifel gehegt, ob Pfarrer Held sein Brevier fleißig lese. Er steckte wohl das heilige Buch in die Tasche, wenn er in den Garten ging, aber er nahm es selten heraus.
Nun hatte Sylvester keine unehrerbietigen Bedenken gegen die Erwähnung des Gebetes; er fühlte nur, daß dieses übliche Lob seinem Wohltäter nicht gerecht wurde und den Nachkommen nichts erzählte von den trefflichen Eigenschaften ihres alten Pfarrers.
Sie hätten auf das Denkmal schreiben müssen, daß er keinen Menschen haßte, in allem das Gute suchte und die Armen nach des Heilands Vorbilde liebte.
So wäre es recht gewesen und nützlich für die Erlbacher.
Sylvester bemerkte mit Unmut, daß geheime Einflüsse schon in den ersten Monaten das Andenken an Maurus Held trübten.
Seine eigene Mutter schüttelte einmal bedenklich den Kopf, als er den Verstorbenen rühmte, und sie meinte, es wäre wohl alles schön, aber ob der selige Herr so recht eifrig im Christentum gewesen sei, das wisse sie nicht.
Er fuhr zornig auf und wollte wissen, woher sie das habe.
Und die alte Veronika Mang hatte Mühe, ihn zu beschwichtigen. Es sei nur ihre Meinung gewesen, und sie wolle nur ja dem guten Herrn Held nicht Unrechtes nachsagen. Aber weil er doch selbigesmal abgeredet habe, wie dem jetzigen Paulimann sein Vater tausend Mark hergeben wollte für eine Mission, daß die Kapuziner in Erlbach predigen sollten. Und da habe der Herr Held gesagt, es sei besser, wenn er das Geld dem Spital schenke. Deswegen habe sie das so gemeint.
Daß auch der neue Pfarrer hinter dem Gerede steckte, sagte sie lieber nicht.
Aber Sylvester ahnte es und dachte, es könne nicht ohne Zusammenhang sein, daß seine Mutter sagte, was er auch sonst zu hören bekam.
Zum ersten Male sah er den Undank und das oberflächliche Urteil der Menschen. Seine Begeisterung ließ ihm diese Fehler größer erscheinen, und er mußte die Enttäuschung stärker empfinden, weil es ihm an Erfahrung fehlte.
Traurig und verstimmt kehrte er nach Freising zurück. Auch hier blieb ihm der Verlust fühlbar genug. Gerade in diesem letzten Halbjahre, welches er noch auf dem Gymnasium zubrachte, mußte er sich immer wieder an den väterlichen Freund erinnern.
Sein treuer Rat fehlte ihm, und dann sein Beifall, als er die abschließende Prüfung bestand.
Er wäre wohl freudiger an das Berufsstudium gegangen, wenn er noch das Beispiel Helds lebendig vor Augen gehabt hätte. Wenn er sich die Aufmunterung bei ihm hätte holen können.
Das war nun alles so anders geworden. Als er mit der roten Absolventenmütze heimkam, ging er in den Pfarrhof.
Es war ihm, als müsse er neben den Rosenstauden im Garten den weißhaarigen Herrn sehen und die freundliche Stimme hören. »Ei, sieh da, parvule, mit der farbigen Mütze! Nun bist du hineingewachsen in den Rock und in die Gelehrsamkeit. Salve confrater in litteris!«
Aber der Mund war geschlossen für immer; die lieben Augen, in denen ein gütiges Lachen saß, waren gebrochen.
Zwei andere blickten Sylvester an. Zwei kalte Augen mit grünlichem Schimmer, und eine gleichgültige, harte Stimme fragte: »So, Sie sind der hiesige Student? Ich habe von Ihnen gehört. Sie wollen Geistlicher werden?«
»Ja.«
»Man sagt mir, daß mein Amtsvorgänger Sie unterstützt hat.«
»Ich verdanke ihm viel.«
»Hat er Ihnen pekuniär geholfen?«
»Nein, das nicht.«
»Ich fragte nur, weil ich bemerken wollte, daß ich nicht in der Lage bin zu so was.«
»Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer. Aber ich habe, was ich brauche.«
»Ihr Vetter, der Spanninger von Pasenbach...«
»Der läßt mich studieren, ja.«
»Da brauchen Sie freilich keine Hilfe. Es kommt nur zu oft vor, daß man uns in Anspruch nimmt. In meiner ersten Pfarrei, in Breitenau, mußte ich bei zwei mittellosen Studenten ab und zu aushelfen. Man tut es ja gerne, wenn es einigermaßen geht. Nun, Sie bleiben in den Ferien hier?«
»Ja.«
»Da sehen wir uns wohl oft in der Kirche. Also guten Tag!«
Die grünlichen Augen blickten Mang während des Gespräches lauernd an. Sie glitten an ihm hinauf und hinunter, und wenn er sie fest ansah, huschten sie weg. Und dann schoben sich feuchtkalte Finger in die Hand Sylvesters und zogen sich wieder zurück: ohne Druck, glatt, wie sie gekommen waren.
Sylvester verabschiedete sich.
Der ehrliche Bursche hatte nasse Augen, als er das Haus verließ. Aus allen Ecken heraus hatten ihn Erinnerungen gegrüßt.
Nun war es so ganz anders; ein bitteres Gefühl der Verlassenheit überkam ihn.
Und verließ ihn nicht mehr alle die folgenden Wochen. Er hörte zerstreut zu, wenn seine Mutter von der schönen Zukunft erzählte. Von der ersten heiligen Messe, bei welcher Veronika Mang den glückbringenden Segen ihres Sohnes erhalten sollte; von dem großen Pfarrhofe, in welchem Veronika Mang ihre alten Tage beschließen würde, und von dem seligen Absterben, welches nunmehr der Veronika Mang durch die Gnade des Himmels beschieden sein werde.
Hier und da mußte er lächeln, wenn die Alte über die Jahre hinwegsprang und sich in die Frage vertiefte, ob der künftige Pfarrer die Ökonomie selber betreiben oder lieber verpachten sollte.
Aber fröhlich wurde er darum nicht.
Und dann war Sylvester allein in der großen Stadt. Von seinen Schulfreunden blieben die meisten in Freising, und die wenigen, welche nach München kamen, stolzierten mit farbigen Bändern herum und lüfteten kaum die Mützen, wenn ihnen der unscheinbare Mang begegnete.
Es wurden Versuche gemacht, den langen Sohn Erlbachs für katholische Verbindungen zu erwerben. Aber er hatte kein Verständnis dafür: weder für die trinkfesten Künste, noch für die politische Bedeutsamkeit dieser Gelbschnäbel. Und in ein Seminar wollte er auch nicht eintreten, trotz des lebhaften Wunsches seiner Mutter.
Die alte Veronika wußte nichts von den pädagogischen Vorzügen dieser Anstalten, aber die Tracht ihrer Jünger gefiel ihr über die Maßen.
Vor Jahren herbergte der Alumnus Stephan Freutsmiedel von Webling des öftern in Erlbach. Und wenn er mit flatterndem Gewande durch die Dorfgasse schritt, schaute Veronika Mang ehrfürchtig durch das Fenster und malte sich im Geiste aus, wie stattlich dereinst ihr Sohn in diesem Kleide dahingehen werde.
Sie mußte ihre Sehnsucht bezwingen, denn Sylvester sträubte sich gegen den Schmuck und saß lieber einsam und frei in seinem Kämmerlein.
Hoch oben im vierten Stocke als Zimmerherr der königlich bayerischen Sekretärswitwe Kornelia Rottenfußer, welche sich oft über den freudenarmen Jüngling wunderte. Der blieb so manchen Abend daheim und las.
In den ersten Tagen der akademischen Freiheit hatte er, zögernd und doch von einem unwiderstehlichen Wunsche angetrieben, Bücher gekauft, vor denen man ihn als Schüler eindringlich gewarnt hatte.
Es waren die Werke ungläubiger Dichter, welche in jungen Herzen Zweifel und Unruhe erregen mußten. Nur wer im reiferen Alter gefestigten Glauben erworben habe, könne ihnen ungefährdet nahen, hatte der Professor gesagt. Die Namen Lessing, Wieland, Kleist leuchteten nicht am Freisinger Himmel, Schiller stand nicht in hohem Ansehen; Goethe war ein Heide.
Und nun erfreute sich Sylvester mit empfänglichen Sinnen an den Geschmähten.
In seine Bewunderung drängte sich ein beklemmendes Gefühl.
Warum hatten die Berater seiner frühen Jugend so feindselig geurteilt?
Er sah nichts von allem, was sie getadelt hatten, und er begriff nicht, wie sie in der Schönheit Schlechtes suchten, noch weniger, wie sie es fanden.
Dazu kamen andere Enttäuschungen. Es lag nichts Vorlautes in seinem Wesen, und er wetzte nicht frühreifen Verstand an den Worten der Lehrer. Aber er fühlte sich unbefriedigt von einer Wissenschaft, die mit trockenen Schlüssen an die ewigen Geheimnisse herangeht und wieder auf halbem Wege stehenbleibt, um den Glauben anzurufen.
Darin lag eine harte Probe für sein rechtschaffenes Gemüt, das sich gegen Selbsttäuschung sträubte.
Und so hatte Sylvester über vieles nachzudenken, wenn er allein in seiner kleinen Stube saß.
Auch darüber, wie schmerzlich die Einsamkeit für ein junges Herz ist.
Da führte ihm das Schicksal einen Freund zu.
Als er sein Zimmer gemietet hatte, fragte er bescheiden bei der Sekretärswitwe an, ob er täglich ein wenig auf der Geige spielen dürfe.
Frau Rottenfußer sagte, ihr wäre es recht, und auch der alte Revoluzzer werde nichts dagegen haben.
Wer das sei, der alte Revoluzzer, fragte Sylvester.
Da zwinkerte Frau Rottenfußer mit den Augen und hielt die Hand an den Mund.
»Net so laut! Den alten Herrn mein ich, der neben Ihnen wohnt.«
Sie schlich auf den Zehenspitzen vorwärts und bückte sich vor der nächsten Türe zum Schlüsselloche hinunter.
»Er is schon daheim und hockt wieder am Fenster mit an Buch in der Hand. Ich frag ihn nachher gleich wegen dem Geigenspielen.«
»Ich möcht ihn nicht stören«, sagte Sylvester.
»Na, na! Er is net so arg. Bloß daß er net unter d' Leut geht. Wissen S', weil er bei da Revoluzzion dabei war. Mei Schwager hat ma's erzählt. Da san viele dabeigwesen, de später de schönsten Stellen kriegt hamm. Aber der Herr Schratt hat's Maul net ghalten, wie er scho Assessor war. Natürli hamm s' 'n pensioniert, und er mag nix mehr wissen von de Leut. Aber wie gsagt, er ist gar net so uneben, und i frag 'n no heut.«
Frau Rottenfußer meldete bald, daß der Revoluzzer gesagt habe, er höre gerne Musik, besonders wenn der Herr Mang kein Anfänger sei.
Sylvester spielte nun häufig. Von seinem Zimmernachbar hörte er lange Zeit nichts mehr.
Da ging er an einem Wintertage von der Universität nach Hause. Es hatte die Nacht vorher geregnet, und dann war Kälte eingetreten, so daß die Wege mit Glatteis überzogen waren.
Plötzlich sah Sylvester vor sich einen alten Herrn, der bei jedem Schritte ausglitt und nun hilflos stehenblieb.
Er stützte ihn und führte ihn sorgsam über die gefährlichen Stellen.
Vor dem Wohnhause Sylvesters hielt der alte Herr und sprach seinen Dank aus. Da stellte es sich heraus, daß er der Revoluzzer der Frau Kornelia Rottenfußer war.
Die erste Bekanntschaft war geschlossen, und wenn Sylvester nun musizierte, kam Schratt von seinem Zimmer herüber, hörte zu und gab durch seine Bemerkungen zu erkennen, daß er in der edlen Kunst wohl erfahren war. Das führte bald zu regerem Verkehre.
Schratt fand Gefallen an dem offenen Wesen Sylvesters, und dieser fühlte sich hingezogen zu dem Alten, aus dessen Gesichte so fröhliche Augen blickten.
Der trug eine unverwüstliche Jugend in sich herum, wie alle die Männer, welche in der politischen Sturmzeit das neue Deutschland errichten wollten. Das gärte noch unter den weißen Haaren, und sie wurden ihr Leben lang keine kühlen Rechner.
Eines Abends fragte Schratt seinen jungen Freund nach Heimat und Eltern.
Als Sylvester Erlbach nannte, wurde er aufmerksam.
»Erlbach? Das Dorf bei Nußbach?«
»Ja. Waren Sie dort?«
»Einmal, vor Jahren. Ich besuchte den Pfarrer Held.«
»Den Herrn Maurus Held? Kannten Sie ihn?«
»Ob ich ihn kannte?« Der Alte lächelte und wurde wieder ernst.
»Er war mein Freund.«
Da sprang Sylvester vom Stuhle auf und schüttelte ihm die Hand und sagte, daß er den verehrten Mann wie einen Vater geliebt habe.
Es tat ihm wohl, daß er von ihm erzählen durfte.
Und dann kam die hastige Frage:
»Er war Ihr Freund? Wo haben Sie ihn kennengelernt?«
»Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, Herr Mang. Heute ist es zu spät, aber wenn Sie morgen herüberkommen, will ich einen langen Faden spinnen.«
Sylvester ging den nächsten Abend zu Schratt, dessen Wohnzimmer sich beim Lampenlicht ungemein behaglich ansah.
Die lange Wand neben der Türe war mit einer hohen Bücherstelle verkleidet; zwischen den beiden Fenstern stand der umfangreiche Schreibtisch, und darüber hingen alte Stahlstiche in hellbraunen Rahmen, deren Leisten in schwarzen Vierecken zusammenliefen.
Einige Steindrucke in ovalen Rahmen waren dazwischen angebracht, Brustbilder von Männern in altväterlichen Trachten.
Einer schaute absonderlich verwegen von der Wand herunter, hatte die Arme über der Brust gekreuzt und einen breitkrempigen Hut in die Stirne gedrückt.
Vom Hute herab wallte eine Feder mit kühnem Schwunge.
Sylvester trat näher hinzu und las die Unterschrift: Friedrich Hecker seinem Freunde und Mitkämpfer Hans Schratt zur Erinnerung an den 20. April 1848.
»Der Hans Schratt war mein Bruder«, sagte der Alte, »aber nun setzen Sie sich. Ich will sehen, daß Madame Rottenfußer Tee bringt.«
Sylvester setzte sich auf das geblümte Sofa, über welchem eine Silhouette neben der andern hing; meist jugendliche Köpfe mit bunten Mützen.
Frau Rottenfußer setzte den Teekessel über die Spiritusflamme, Schratt stopfte seine lange Pfeife und hüllte sich in duftende Wolken.
»Also, ich habe Ihnen die Erzählung versprochen. Wie ich gut Freund wurde mit dem Gottesgelahrten Maurus Held. Das heißt, damals ist er noch nicht soweit gewesen. Anno 1848 gesegneten Andenkens.«
Der Alte schwieg eine Weile, dann sagte er lächelnd:
»Gesegneten Andenkens; jawohl! Trotz allem, was seither gesagt und geschrieben wurde. Die gescheiten Menschen von heute zucken die Achseln über das tolle Jahr. Ich sage Ihnen, junger magister in artibus, die Herzen waren heiß und der Verstand nicht immer kühl damals. Aber in den Leuten war mehr Weisheit als in den trockenen Dienern der Nützlichkeit, die heute die Nasen rümpfen und sich das bißchen Freiheit wegstehlen lassen, was ihre Väter errungen haben –
Und jetzt nehmen Sie Tee. Er kommt aus Fukian, wie mein trefflicher Freund Sporner versichert.«
Sylvester trank und nahm eine aufmerksame Miene an.
Der Alte unterbrach sich oft; in den Pausen blies er den Rauch vor sich hin.
»Sechsundvierzig Jahre. Und just so lange ist es her, daß ich mit dem Studiosus Held Stuhl an Stuhl in der Kneipe saß und von der rosenroten Zukunft redete. Er war noch länger als Sie. Mager, derbknochig, gute Bauernrasse aus der Tölzer Gegend. Er redete nicht viel, und ich glaube fast, daß er heimlich über die Freunde lachte, welche die Welt verteilten.
Na, es ist auch manches mit untergelaufen, was man nicht ernsthaft nehmen konnte. Obenan die große Revolution in München, die nichts anderes war als ein bischöflich genehmigtes Haberfeldtreiben.
Die Freiheit lag damals in der Luft. So einen Vorfrühling hat die Welt nicht mehr gesehen. Es war wie eine Ahnung in die Menschen gefahren, daß diesmal mit den Knospen noch ein anderes aufkeimen müßte, und wer jung war, hielt freudig die Nase in die Höhe.
Man hat unsern lieben Altbayern hinterher eingeredet, daß sie auch die Flügel rührten, als der Freiheit Hauch mächtig durch die Welt ging. Es war aber nicht so schlimm, junger Herr Mang. Wenn Sie den Freisinger Abscheu vor den Revolutionen haben, dürfen Sie ihn nicht auf unsere braven Mitbürger ausdehnen. Sie haben nichts gegen ihre Gewissen und ihre Gewissensräte getan. Wer damals die Finger ins Maul steckte und seinen erhabenen Herrscher auspfiff, tat es in honorem ecclesiae, zu Ehren der Mutter Kirche. Auch wenn er es nicht wußte.
Also, unser Maurus Held. Der hörte zu, wenn wir die großen Reden hielten, und schwieg. Er hat die Übertreibungen nicht altklug verachtet oder gar aus Angst vermieden. Den hat nur seine Bescheidenheit von den großen Gebärden abgehalten, und als etwas geschah, was sein rechtlicher Sinn nicht billigte, hat er gezeigt, daß er kein Hasenfuß war.«
Der Alte klopfte die Pfeife aus und füllte sie wieder.
»Ja, und das war zu Anfang Februar. Ein schöner, warmer Tag, nur etwas bewegt. Die Krämer hatten ihre Läden geschlossen und trieben sich mit den akademischen Bürgern in der Ludwigstraße herum. Die Biederkeit erging sich im Freien und wartete, ob nichts geschähe. Und es geschah auch was. Von der Universität herunter kamen die Alemannen. Sie wissen, das Leibkorps der Lola. Schlechte Kerle, ganz gewiß. Schon deshalb, weil sie in jungen Jahren auf Karriere spekulierten.
Aber warum beim Anblick dieser unreifen Pagen das Volk in Wut geriet, warum ehrwürdige Greise ihre Hausschlüssel aus den Taschen holten und so greulich darauf pfiffen, das kann man nicht so einfach erklären. Die Guten haben vorher und nachher den Anblick von schlimmeren Fürstenknechten ertragen. Damals aber schien es mir recht und billig. Ich schrie brav mein Pereat mit und drängte mich heran. Ein Graf Hirschberg von den Alemannen zog seinen Dolch, als man ihm zu nahe auf den Pelz rückte. Er wollte einmal spanisch kommen. Da erhob sich ein Geschrei unter den Manichäern, ohrenzerreißend! Sie führten Reden, in denen keine Liebe zum Hause Wittelsbach atmete. Die Hispanier rissen aus, und wir zogen weiter in den Hofgarten. Mit einem Mal erscheint mitten unter den brüllenden Hafnermeistern der Gegenstand der Volkswut. Lola Montez selber, in eigener Person.
Schneid hatte das Frauenzimmer und eine Verachtung gegen diese sittsamen Spießbürger, die mir später imponierte.
Ich stand keine zehn Schritte von ihr entfernt und sah die blitzenden Augen.
Links und rechts von mir bückte sich die bürgerliche Ehrbarkeit bis auf den Boden. Diesmal nicht aus Ehrfurcht, sondern um Steine und Kot aufzuraffen. Neben mir steht ein behäbiger Herr und nimmt sich eine Handvoll. Er zieht kräftig aus, damit sein Wurf ausgiebig sei, aber er warf nicht. Jemand schlug ihm den Kot aus der Hand mit den Worten:
›Pfui Teufel! Gegen ein Frauenzimmer! Ihr schämt Euch nicht?‹
Meine Hafnermeister das hören und auf den jemand losfahren, war eines.
›Auch so ein Lolaner! Nieder mit dem Kerl!‹
Aber sie merkten schnell, daß ein Tölzer Bauernbub sich besser wehren kann wie ein Frauenzimmer.
Es ist ihm nichts geschehen, dem Maurus Held, und die Geschichte hat keine Steigerung gegen den Schluß. Aber sie zeigt, daß Ihr Freund seine brave Meinung gegen die vielen behauptet hat.
Und die Eigenschaft ist ihm geblieben.«
»Sind Sie später oft mit ihm zusammengekommen?« fragte Sylvester.
»Oft? Nein. Ich war einige Zeit in betrübsamer Lage und hätte Freunde kompromittiert. Den Maurus hätte es wohl nicht angefochten, aber ich wollte nicht. Es war genug, daß ihm mein Bruder Hans zu schaffen machte. Der da, über Ihnen, mit der roten Mütze. Ihm zulieb hat Held seine Zukunft aufs Spiel gesetzt, und es fehlte nicht viel zum Verlieren. Der Hans war einige Jahre älter als ich und saß in Lindau als junger Arzt, wie der große Wind wehte.
Von Lindau ist's nicht weit nach Konstanz, und als dort Hecker im April den Aufstand proklamierte, fuhr mein Hans ein bißchen hinüber. War auch dabei im Gefecht von Kandern und half den General Gagern totschießen und floh mit den anderen in die Schweiz.
Ein Jahr später krakeelte er in der Pfalz drüben, bis die Preußen auf Bestellung Ruhe schafften. Mein Bruder wurde in contumaciam zum Tode verurteilt. Erschrecken Sie nicht, er starb erst vor zwei Jahren als wohlhabender Mann in Genf. Aber damals hätten ihn die Preußen erschossen; sie waren dazu engagiert.
Er ließ sich nicht erwischen und lebte einige Jahre in Straßburg. Auf einmal packte ihn die Sehnsucht, heimzukommen. Eine fürchterliche Dummheit! Was einen damals nach Bayern treiben konnte, ist mir rätselhaft.
Die Polizei des Herrn von der Pfordten spürte meinen Hans in München auf; ich wurde noch rechtzeitig gewarnt und lief mit ihm den Abend und die Nacht bis Sachsenkamm. Im Kloster Reutberg saß unser gemeinschaftlicher Freund Held als Kooperator und Beichtvater der Franziskanerinnen.
Jeder andere hätte sich besonnen; der Maurus überlegte keinen Augenblick. Er gab dem Verfolgten Quartier und schickte ihn nach ein paar Tagen über die Grenze.
Damit aber die Tiroler den Hans ohne Bedenken durch ihr glaubenstreues Land pilgern ließen, hing er ihm sein geistliches Gewand um. Und der Hans ist auch richtig mit schuldiger Ehrfurcht behandelt nach Rorschach gekommen.
Für seinen Retter kamen unangenehme Tage. Die Polizei erfuhr die Sache, und Held mußte Rede stehen. Er log nicht lange; sagte es frei heraus, und das war eine Sache damals. Wenn Sie sich schon einmal gewundert haben, warum dieser feinsinnige und gelehrte Priester bis zu seinem Ende in Erlbach blieb, so wissen Sie jetzt den Grund. Die Herren oben vergessen nichts. Und wir wollen ihn auch nicht vergessen, den Maurus Held. Er war ein aufrechter Mann.
Und damit gute Nacht, Herr Sylvester!«
Die beiden wurden Freunde.
Schratt war in seiner Vereinsamung nicht grämlich geworden und hatte nichts von der Weisheit, welche vergangene Tage lobt und die Gegenwart mißachtet.
Es machte ihm Freude, ein junges Herz unmerklich, ohne lehrhafte Schwerfälligkeit, zu bilden.
Und hier war die Aufgabe nicht schwer. Sylvester besaß klaren Verstand; seine Anlagen setzten der umformenden Hand nicht spröden Widerstand entgegen.
Es war ein junger Baum, der mit starker Pfahlwurzel im aufgelockerten Boden saß. Vollsäftig und entwicklungsfähig; reiche Verästung hatte er freilich nicht angesetzt.
Schratt lächelte oft im stillen, wenn er die Ergebnisse der klerikalen Schule vor Augen hatte.
Alles Befreiende war dieser Bildung genommen. Ohne Fühlung mit der Gegenwart, schöpfte sie aus der Vergangenheit keine lebendigen Kräfte.
Mit ängstlichem Bemühen waren die Schranken aufrechtgehalten, in denen von jeher der Geist verkümmerte.
Das zeigte sich am deutlichsten in der Art, wie Geschichte gelehrt worden war. Hier war alles geschehen, um einer späteren Erkenntnis vorzubeugen. Die anerzogenen Vorurteile griffen so ineinander, daß jedes einzelne nur mit der Zerstörung des ganzen Gebäudes gehoben werden konnte.
Und sie wurzelten so tief, daß Sylvester seinem alten Freunde eine ungewohnte Hartnäckigkeit entgegensetzte, wenn er die Freisinger Weltgeschichte angriff.
Freilich beurteilte er als gutherziger Jüngling die Äußerungen Schratts mit Nachsicht.
Er wußte ja, daß ihm Unrecht widerfahren war, und schrieb seine Heftigkeit einem verbitterten Gemüte zu.
Diese Milde war nicht ganz frei von Hochmut.
Mang hatte doch etwas von den Leuten angenommen, welche ihr Leben lang eine gefestigte Meinung herumtragen und lächelnd abweisen, was sie hinzulernen sollten.
Schratt sah bald, wie selbstbewußt sich der junge Theologe hinter Vorurteilen verschanzte, die nicht seine eigenen waren. Er wunderte sich nicht darüber.
Neun Jahre unter den Händen von Lehrern, die alles in eine Form gießen; wie sollte sich ein junger Mensch ganz frei halten von ihrem Einflusse?
Es war viel, wenn das Wachstum nicht völlig erstickt war.
Deshalb wurde er nicht unmutig und lockte nur den klugen Sylvester häufig aus seiner Burg heraus auf das Blachfeld, wo er ihm standhalten mußte.
Er zeigte ihm meist in scherzhaftem Tone, daß unser Wissen nicht genau da aufhört, wo man es in Freising abschneidet. Er nahm ihm ganz allmählich die Selbstzufriedenheit und lehrte ihn das Verlangen, die Wahrheit kennen zu wollen.
Und Sylvester kam täglich mehr von dem Glauben ab, daß er sein junges Wissen mit Milde gegen den Alten aufführen müsse.
Ja, sein Mitleid verwandelte sich in begeisterte Verehrung, mit einer Schnelligkeit, welche Jünglingen erlaubt ist.
Er lernte einsehen, daß die heitere Überlegenheit Schratts, seine Menschenkenntnis auf tiefgründiger Liebe ruhte; das gab ihm ein Recht, über falsche Größen zu lächeln, sein Urteil gegen alle zu stellen.
Aber auch die Möglichkeit, im Kleinsten das Anregende, Bedeutsame zu finden.
Er stand auf einer sicheren Höhe und durfte darum auch Torheiten behaglich betrachten.
Sein freier Geist konnte nicht ohne Einfluß auf Sylvester bleiben.
Der streifte unmerklich die Härten ab, welche einseitige Bildung zeitigt.
Die ersten Jahre auf der Universität verflogen ihm rasch.
Er tat seine Pflicht und besuchte fleißig die Kollegien.
Noch war er seinem Berufe innerlich nicht völlig entfremdet.
Aber wenn er jetzt an die Zukunft dachte, geschah es nicht mit freudiger Zuversicht; immer stärker mengte sich das Gefühl unabweisbarer Pflicht ein.
Da ereignete sich ein Vorfall, der nachhaltig auf ihn wirkte.
Einer seiner Lehrer hatte ein Buch herausgegeben, welches heftig angegriffen wurde.
Die ultramontane Presse erging sich in Schmähungen gegen ihn, der Professor antwortete in würdiger Weise, und das ganze Land nahm an dem Streite Anteil.
Viele ergriffen seine Partei und lobten seine Festigkeit.
Seine jungen Hörer traten leidenschaftlich für ihn ein. Sie hatten kein Urteil über die Sache; ihnen überwog das persönliche Moment.
Der Ruhm ihres Lehrers, sein männlicher Mut.
Da erging an den Gefeierten die Aufforderung, seine öffentlich bekundete und so ehrenhaft verteidigte Überzeugung aufzugeben und Widerruf zu leisten.
Er unterwarf sich.
Sein Gehorsam und der laute Beifall, den die früheren Gegner ihm spendeten, stießen Sylvester ab.
Er fühlte sich gedemütigt, unsicher in seinem Glauben an eine Autorität, welche diesen Schritt verlangte, in seiner Achtung vor einer Wissenschaft, welche ihn tat.
Wie konnte dieser Mann eine Meinung als falsch erkennen, welche er im eifrigen Streben errungen hatte? Und wenn er nicht überzeugt war von ihrer Falschheit, wie konnte er sich von ihr auf Befehl lossagen?
»Sie war nichts wert von allem Anfang«, sagte Schratt, »es ist nicht schade darum. Um den Mann noch weniger. Töricht ist nur diese Begeisterung der Kirche über den Sieg. Sie hat wenig Ursache, sich darüber zu freuen, daß sie kleine Kämpfer mehr heranzieht.«
In dieser Zeit des Wachstums, der Zweifel und des Lernens kam das Ereignis, welches ihm die Zukunft um so düsterer erscheinen ließ, je heller ihm die Gegenwart deuchte.
Sylvester Mang faßte eine herzliche Liebe zu dem hübschen Mädchen, dem er in der Heimat begegnet war. Das Glück schien freundlich in sein kleines Zimmer und verlockte ihn, die Blicke in weite Fernen zu richten. Auf einen holdseligen Garten, in welchem die schönsten Blumen blühten, die herrlichsten Früchte reiften für einen, den fremder Wille zur Einsamkeit verdammt hatte.
Und er wußte, daß er ohne Reue umkehren würde.
Jetzt baute er Luftschlösser, eines über das andere.
Und keines ähnelte denen, welche der Veronika Mang tagsüber vor Augen standen und nachts im Traume erschienen.
Keines sah aus wie ein Pfarrhof, mit dem gepflegten Garten nach vorne und den großen Stallungen nach rückwärts.
Es waren darinnen keine gewölbten Gänge mit Hausaltären, brennenden Ampeln und heiligen Bildern, keine Zimmer, von deren Fenstern aus man stündlich in frommer Beschaulichkeit zur Dorfkirche hinübersehen konnte.
Sylvesters Luftschlösser waren alle in einem Stile erbaut, lagen in engen Gassen, und aus den Toren strömte der liebliche Duft von frisch gebranntem Kaffee.
Und wer sie betrachtete, der wurde traurig und wieder fröhlich im Gemüte. So traurig, daß er tagelang schweigend umherging, so fröhlich, daß er am Morgen singend die Treppe hinunterschritt und des Mittags singend heraufkam.
Und daß er an gewissen Tagen der Woche mit dem Geigenkasten unter dem Arme achtlos an Sekretärswitwen vorüberstürmte, als hätten diese urplötzlich jede Bedeutung in der Welt verloren.
»Was hat nur grad der Herr Mang?« fragte Frau Rottenfußer.
»Gestern waren seine Augen verweint, und heut hat er wieder gsungen. Sie sind doch sein Freund, Herr Schratt. Sagt er denn zu Ihnen auch nix?«
»Nein, Frau Sekretär, und ich fürchte, er wird mich auch fernerhin nicht ins Vertrauen ziehen. Er verbirgt sein Leiden.«
»Wissen Sie, was ihm fehlt?«
»Ich habe eine Vermutung, Frau Rottenfußer. Aber die ist lateinisch und stammt von einem gewissen Horatius.
Dulce ridentem Lalagen amabo, Dulce loquentem. Lieben werd ich Lalages holdes Lachen, |
Und dann kam der Tag, an welchem Frau Sophie Sporner, als eine Freundin der Wirklichkeit, den Bau der Luftschlösser einstellte und den holdseligen Garten verschloß, so daß die Gedanken nicht länger darin spazierengehen konnten.
Und es kam der Abend, an welchem Sylvester müde und abgespannt im Zimmer seines Freundes saß.
Schratt klopfte ihm auf die Achsel.
»Sie wollen mir heute etwas erzählen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich kann Ihnen entgegengehen. Sie heißt Traudchen und ist die Tochter des wackeren Michael Sporner.«
»Ich weiß, daß Sie ihn kennen.«
»Nicht bloß ihn; auch ein Mädel mit lustigen Augen, das sich in der letzten Zeit sehr für Musik interessierte.«
»Woher wußten Sie, daß...«
»Es war nicht schwer zu erraten. Sie wurden in der letzten Zeit so sangesfreudig und hatten ihre Gedanken immer anderswo, wenn Sie mir die seltene Ehre schenkten.«
»Es kommt Ihnen recht lächerlich vor, Herr Schratt?«
»Ein wahres Gefühl ist nicht lächerlich.«
»Aber daß ich vergessen habe, was ich bin?«
»Vorerst sind Sie Student, und Ihre Zukunft liegt noch frei vor Ihnen.«
»Ich kann nicht Geistlicher werden.«
»Stimmungen sollen da nicht mitreden, Sylvester.«
»Es ist nicht deswegen, wie Sie vielleicht meinen. Ich weiß schon lange, daß ich mich nicht zwingen kann.«
»Wollen Sie einen Rat von mir hören?«
»Ja, ich bitt Sie darum. Ich habe sonst niemand, den ich fragen kann.«
»Sie sollen nicht sofort, Hals über Kopf, Ihr Studium aufgeben. Bleiben Sie noch dieses Semester dabei! So einfach ist die Sache nicht. Sie werden Verschiedenes durchzufechten haben.«
»Danach frage ich nichts.«
»Nicht so schnell! Jedenfalls müssen Sie wissen, was Sie anfangen wollen. Ich halte Sie für so vernünftig, daß Sie sich keinen Illusionen hingeben, die auf eine junge Dame abzielen.«
»Nein, Herr Schratt. Ich weiß, daß alles aus ist.«
Der Alte lächelte.
»Das klingt entsagungsvoll. Aber aus oder nicht aus, Sylvester, auf keinen Fall darf das jetzt eine Rolle spielen. Sie werden nicht in die weite Welt hinausstürmen, um Ihr krankes Herz zu heilen und so weiter. Sie müssen die Zukunft nüchtern erwägen. Und darum ist fürs erste mein Rat, Sie bleiben noch bis Ostern der candidatus theologiae.«
»Mein Entschluß ist aber fest.«
»Ich glaube Ihnen das. Trotzdem, folgen Sie mir! Sie haben dann fast vier Monate zur Überlegung, und der Zeitverlust kommt bei Ihrer Jugend nicht in Betracht. Außerdem sprechen noch andere Gründe dafür. Rücksicht auf die Familie Sporner. Wenn Sie jetzt Knall und Fall weggehen, bringt jedermann Ihren Entschluß in einen gewissen Zusammenhang mit Ihrem Verkehr in dem Hause.« – »Das sehe ich ein.«
»Gut! Da wären wir also in der Hauptsache einig. Alles Weitere können wir noch überlegen. Ob Sie ein anderes Studium ergreifen, oder was Sie sonst tun wollen.«
»Darüber weiß ich gar nichts.«
»Heute müssen Sie sich ja nicht entschließen; aber eines, wenn Sie keine bestimmte Neigung haben, nur kein Brotstudium! Alles ist besser. Zum Beispiel in ein Geschäft eintreten, in dem Sie gleich tüchtig arbeiten müssen.«
»Das wäre mir auch das liebste.«
»Ich meine aber nicht bei Sporners seligen Erben, Sylvester!«
Die beiden saßen noch lange zusammen. Sylvester wurde gesprächig, als er über seine Verlegenheit weggekommen war.
Und der Alte ließ ihn gewähren. Er gab ihm noch manchen Rat für die nächste Zukunft. Als Sylvester sagte, der Gedanke bedrücke ihn, daß er unter den veränderten Umständen die Hilfe seines Vetters in Anspruch nehmen müsse, erwiderte Schratt, dagegen könne vielleicht Rat geschaffen werden.
Er habe einen alten Freund mit Namen John White aus Milwaukee, früher Hannes Weiß von Pirmasens. Er lebe in hiesiger Stadt und habe ihm einmal gesagt, daß er für seinen Enkel einen Hauslehrer suche. Wäre die Stelle noch frei, so könne Sylvester sie erhalten; aber auch sonst würde sich schon etwas finden. »Darum Kopf hoch!« sagte er. »Die Sorge wird Sie nicht drücken. Und tut Ihnen die Erinnerung an glückliche Stunden weh, dann sagen Sie mit unserm Goethe:
Ich träumt und liebte sonnenklar; Daß ich lebte, ward ich gewahr.« |