Ludwig Thoma
Andreas Vöst
Ludwig Thoma

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Fünfzehntes Kapitel

»Der rechte Fuß setzt im Takt ein, der linke zieht einen Bogen nach rechts! Also nochmal! Eins, zwei, drei - vier, fünf, sechs!«

Der ehemalige herzogliche Hoftänzer Merkle gab Tanzunterricht, und es waren im Saale des Schimmelwirtes ein Dutzend Studenten und ebensoviel Bürgermädchen anwesend, welche die gesellige Kunst in sechs Lektionen erlernen wollten.

Und Merkle war der Mann dazu, sie jedem beizubringen, weil er sie ernst nahm.

Er hatte ein Buch über die Tanzkunst geschrieben, und das begann so: »Der Tanz als Kunst ist die vollendetste ästhetische Formenbewegung, also das Symbol der plastischen Schönheit. Er ist das Streben, dem Körper die höchste Schönheit zu verleihen, ihn durch Anmut zu verklären, ihm ästhetische Bedeutung zu geben; das wenigstens ist der Standpunkt, den ich als Repräsentant der modernen Tanzkunst einnehme.«

Und er lebte nach diesem Glauben.

Niemals stellte er seine Beine in gewöhnlicher Weise nebeneinander auf den Boden; immer ruhte eines auf der Fußspitze, indem es sich in schönem Halbbogen wölbte; niemals ballten sich seine Hände zu Fäusten zusammen, niemals steckten sie in Taschen oder hingen bedeutungslos an ihren Gelenken.

Sie vorzüglich hatten, wie Merkle sagte, die Aufgabe, durch Attitüden das Symbol der plastischen Schönheit darzustellen. Man erreicht dieses Ziel, indem man die kleinen Finger sich von den übrigen wegstrecken läßt und die gerundeten Zeigefinger an die Daumen preßt.

Aber wenn Merkle für sich diese Vollendung erreichte, so war es ihm doch unendlich schwer, sie anderen mitzuteilen.

Denn unter seinen Schülern waren Menschen, deren Gliederbau nicht zierlicher war als der von jungen Hühnerhunden; und welche erst reiflichen Nachdenkens bedurften, wenn sie eine entferntere Extremität in Bewegung setzen wollten; und welche eine runde Linie herstellten, indem sie eine gerade zwei- oder dreimal knickten.

Es waren Menschen da, welche niemals einsahen, warum ihre Fersen nicht auch am Vergnügen teilhaben sollten, und welche wie vom Blitz getroffen umfielen, wenn sie ihr Dasein auf die Fußspitzen verlegen wollten.

Und dann gab es Mädchen, welche die ganze Hilflosigkeit ihres Geschlechtes begriffen, wenn der Tanz begann. Und welche sich an die Herren klammerten, als müßten sie durch einen reißenden Fluß hindurchwaten, oder als würden sie aus einem brennenden Hause gerettet.

Und wirklich, es war nicht leicht, sie alle so abzurichten, daß ihr Tanz als das Symbol der plastischen Schönheit gelten mußte. Aber Merkle war der Mann dazu.

Er gab dem fetten Herrn am Klavier ein Zeichen. Und dieser begann wieder.

»Komm herab, O Madonna Theresa!
Sieh doch, wie schön ist die Nacht!«

Ein junger Mann riß eine Blondine grausam von den Freundinnen weg und begann, um sie herumzulaufen, und stieß ihr die Knie in den Leib und versuchte, ihr die Hüften abzudrehen und schüttelte sie, als wolle er ihren ganzen Inhalt verstreuen.

»Halt!«

Das Klavier schwieg.

»Sie sind zu heftig, mein Herr!« sagte Merkle. »Gerade der Walzer erleichtert den elastischen Schwung und verleiht dem Körper eine ungemein natürliche Grazie. Sehen Sie her! So! Der rechte Fuß setzt im Takt ein, der linke Fuß zieht einen Bogen nach rechts.«

Die Musik begann wieder.

»Komm herab, O Madonna Theresa!
Sieh doch, wie schön ist die Nacht!«

Der junge Mann versuchte aufs neue, die Hindernisse zu besiegen. Er biß die Zähne zusammen und schaute starr auf den Boden und trat mit den Stiefeln darauf herum, als müsse er eine Menge Ungeziefer tottreten, und dann schleuderte er wieder seine Füße von sich weg, als wolle er sie nie mehr in seinem Leben sehen, und dann drehte er sich in einem Wirbel um sich selber herum, als wäre durch seinen Leib eine Eisenstange gezogen. Und das blonde Mädchen hüpfte für sich allein auf und ab, da es diese ungeahnten Bewegungen nicht mitmachen konnte.

»Halt!« kommandierte Merkle. »Mein Herr, Sie müssen noch die Positionen der Füße üben; in der Führung der Dame sind Sie nicht sicher genug. Ein anderes Paar! Darf ich bitten?«

Ein langer Jüngling trat aus der Reihe vor und hielt seine rotwangige Tänzerin mit gestreckten Armen von sich weg.

»Nehmen Sie eine ungezwungene Haltung an!« mahnte Merkle. »Die Dame muß sich anschmiegen. In natürlicher Grazie, aber nicht zärtlich! So ist es schon besser. Eins, zwei, drei - vier, fünf sechs! Gut! Bravo! Es geht ganz ordentlich, Herr Mang. Sie müssen nur Zwanglosigkeit zeigen.«

Sylvester kam mit Ehren um den Saal herum, und der Tanzmeister sagte: »Sie werden eine gute Figur auf dem Kränzchen machen; ich wäre sehr froh, wenn alle Herren so fortgeschritten wären.«

Diese Übungen wurden nämlich nicht abgehalten in dem Streben, dem Körper die höchste Schönheit zu verleihen; sie hatten einen besonderen Zweck.

Die studentische Verbindung »Klio« wollte ein Kränzchen veranstalten, und ihre jungen Mitglieder mußten sich darauf vorbereiten.

Sylvester war von einem Schulfreunde eingeladen worden, an der Tanzstunde teilzunehmen und das Kränzchen mitzumachen. Er sagte nicht sogleich zu, weil er in seiner Lage üble Deutungen und Nachreden scheute. Aber der alte Schratt erklärte ihm, daß es zu den notwendigen Erfahrungen des Lebens gehöre, ein hübsches Mädel im Tanze herumzuschwenken, und der Schulfreund erzählte ihm, daß die besten Familien eingeladen wären und daß sehr feine Mädchen kommen würden, als zum Beispiel die Töchter des Herrn Rektors, und die Töchter des Magistratsrates Küfel, und die Tochter des Kaufmanns Sporner. Da ging Sylvester noch einmal in sich und sagte seine Beteiligung zu.

Er hatte mit Traudchen nie mehr gesprochen seit jenem Abend. Gesehen hatte er sie des öfteren, das heißt, zweimal, wie er genau wußte.

Zuerst in der Woche vor Weihnachten, als er abends durch die Theatinerstraße wandelte.

Da drängten sich die Leute und bewunderten die festliche Pracht der Auslagen.

Plötzlich sah er vor einem Laden eine stattliche Dame stehen, neben ihr ein schlankes Mädchen, dessen reiches Haar in einem schönen Knoten gebunden war.

Und der Studiosus Mang verspürte ganz plötzlich Herzklopfen und blieb wie angewurzelt stehen, indem er seine Augen auf das Pelzbarett und den Haarknoten gerichtet hielt.

Zufällig wandte die junge Dame den Kopf, und zufällig traf ihr Blick den langen Studenten.

Er zog hastig den Hut, aber er war zu schüchtern, um sie genau anzusehen.

Überdies stieg ihm das Blut heiß in den Kopf, und außerdem hatte er Ohrensausen.

Das alles gab mit dem Herzklopfen bedenkliche Krankheitserscheinungen und trübte seine Beobachtungsgabe.

So wußte er nicht, hatte sie ihm wirklich zugenickt, und hatte sie wirklich freundlich gelächelt, und war sie wirklich rot geworden? Oder kam das von den bunten Glühlampen, welche hinter dem Auslagefenster brannten?

Sylvester dachte lange über diese Sache nach und kam zu keinem abschließenden Urteile.

Die zweite Begegnung fand einige Wochen später statt. Den 3. Januar, nachmittags, auf dem Maximiliansplatze.

Sylvester ging mit dem Sohne des Hannes Weiß aus Pirmasens. Er belehrte ihn, daß der Diktator Lucius Cornelius Sulla nicht, wie John White jun. angenommen hatte, den Gajus Julius Cäsar ermordete und daß man einen solchen Verdacht schon deshalb nicht nähren könne, weil der Cornelius Sulla ungefähr vierunddreißig Jahre vor dem ruchlosen Morde gestorben war.

In diesem Vortrage hielt Sylvester plötzlich inne, als zwei junge Mädchen mit fröhlichem Lachen um die Ecke bogen.

Und er zog wieder hastig seinen Hut und wußte wieder nicht, ob Fräulein Traudchen Sporner seinen Gruß freundlich aufgenommen haue.

Diesmal aber erhielt er Gewißheit. Als er seine Rede etwas zerstreut wieder aufnahm und sich über die persönlichen Verhältnisse des Cornelius Sulla ausließ, sagte John White jun.: »Ich glaube, sie hat gewartet, daß Sie mit ihr sprechen.«

»Wer?«

»Die junge Dame, welche Sie gegrüßt haben. Sie ist mit der anderen vor dem Laden stehengeblieben und hat hineingesehen.«

»Das wissen Sie nicht, John. Man darf eine Dame nicht anreden.«

Sylvester sagte das so bestimmt, als verkünde er eine große Wahrheit. Innerlich machte er sich Vorwürfe über sein Verhalten. Er malte sich umständlich aus, wie er sich hätte benehmen sollen, und was dann gewesen wäre.

Wenn er zum Beispiel Fräulein Traudchen angesprochen hätte: »Ich wollte mich nur nach dem Befinden Ihrer werten Eltern erkundigen«, oder »Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie im Klavierspielen noch immer so große Fortschritte machen?« Es war zu vermuten, daß die junge Dame freundlich geantwortet hätte, und dann war die Möglichkeit geboten, noch einige detaillierte Fragen zu stellen nach dem besonderen Befinden des Papa Sporner und dem besonderen Befinden der Mama Sporner, ja, sogar nach den Erlebnissen der Tochter selbst.

Sylvester nahm sich fest vor, die nächste Gelegenheit nicht wieder so töricht zu versäumen und gründlich das Gesetz zu übertreten, welches er soeben feierlich dem John White jun. kundgegeben hatte.

Aber das Schicksal ließ ihn diesen Fehltritt nicht begehen.

Obwohl er von nun ab für seine belehrenden Spaziergänge immer wieder den Maximiliansplatz wählte, unterbrachen ihn keine lachenden Mädchen mehr, und er konnte ganz ungestört alle Irrtümer beseitigen, welche sich in die geschichtlichen Kenntnisse seines Schülers eingeschlichen hatten.

Jetzt ging Sylvester in seinen kühnen Plänen weiter. Er wollte möglichst oft den Weg durch die Rosengasse nehmen und so den ersehnten Zufall mit Gewalt herbeiführen. Er konnte doch wie andere Menschen ganz unbefangen an der Firma Sporners selige Erben vorübergehen, auch zufällig zum dritten Fenster im ersten Stock hinaufsehen und zufällig einem Mitgliede der Familie begegnen.

Solche Vorsätze faßte Sylvester Mang und hielt an ihnen fest, bis er an die Ecke der Rosengasse kam. Hier kehrte er jedesmal wieder um und legte sich die Gründe vor, welche gegen das Unternehmen sprachen.

Doch einmal faßte er sich ein Herz und bog mit unbefangener Miene in die Gasse ein. Aber seine Schritte wurden langsamer, je näher er an das Haus kam.

Er schlich hart an der Wand von Sporners seligen Erben vorbei, und als er zur Ladentüre kam, machte er mit abgewandtem Gesichte drei große Schritte, um den Blicken der Madame Sporner zu entgehen, welche von der Kasse aus die Straße übersehen konnte.

Ach, wie lieblich duftete der Kaffee! Wie freundlich glänzte der Messinggriff an der Türe!

Und wie lustig rauchte der Neger auf dem gemalten Schilde! Das würde nun so kommen, dachte Sylvester. Herr Assessor Schratt und er würden den Ball besuchen. Herr Assessor Schratt würde die Familie Sporner begrüßen, und da müßte sich eine gute Gelegenheit finden, daß er sich gleichfalls dem Papa, der Mama und dem Fräulein in Erinnerung bringen konnte.

»Warum soll ich noch auf einen Ball gehen?« fragte Schratt.

»Bitte, sagen Sie zu! Sie werden sich sehr gut unterhalten«, bat Sylvester.

»Das weiß ich nun gar nicht.«

»Gewiß; Sie werden sehen. Hufnagel sagt, es kommen sehr feine Familien.«

»Wer ist Hufnagel?«

»Der Vorstand der ›Klio‹. Er studiert Philologie.»

»Das verrät allerdings eine gewisse Gediegenheit des Charakters. Und er übernimmt die Garantie, daß nur feine Familien kommen?»

»Ja, bekannte Bürger und höhere Beamte.«

»Höhere Beamte, bekannte Bürger. Sagen Sie, Sylvester, wird sich unter den bekannten Bürgern auch ein gewisser Michael Sporner befinden? Mich interessiert das, weil dieser Herr mein Tee- und Tabaklieferant ist.«

Sylvester wurde rot, und der alte Max Schratt nahm die Pfeife aus dem Munde und lachte herzlich.

»Sie sind einmal ein Duckmäuser! Seit zwei Tagen schildern Sie mir alle Herrlichkeiten, die mich auf dem Balle erwarten, und die Hauptsache verschweigen Sie!«

»Ich dachte ...«

»Sie dachten, daß ich hingehen sollte, um wieder einmal höhere Beamte zu sehen?«

»Also werden Sie kommen?«

»Vielleicht. Weil Sie ein guter Kerl sind.«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich das freut. Ich bin Ihnen so dankbar!«

»Was versprechen Sie sich eigentlich von mir? Soll ich den Eltern Ihre Vorzüge schildern?«

»Nein, wenn Sie nur dort sind! Dann traue ich mich, mit der Familie zu reden.«

»Schön! Reden Sie mit der Familie, vergessen Sie dabei aber nicht, das hübsche Fräulein Traudel zu engagieren! Ich werde mein möglichstes tun, um das Gemüt des Herrn Sporner zu erheitern. Post epulas sermones haberi solent. Nach dem Souper gibt man sich Gesprächen hin. Ich will ihn fragen, wo der beste Teestrauch wächst.«

Dem Sylvester Mang war eine große Last vom Herzen genommen, als er die Zusage seines alten Freundes hatte.

Er sollte ihm ein Schild sein gegen die erstaunten Blicke der Madame Sporner, ein Bote seiner aufrichtigen Verehrung für sie, der wohlwollende Erklärer aller Tatsachen, welche seine Teilnahme an solchen Lustbarkeiten entschuldigen konnten.

Der Ball wurde abgehalten im Hackerbräusaale; begann des Abends acht Uhr mit einer Polonäse und endete am frühen Morgen mit einem Kotillon; begann mit steifen Verbeugungen der jungen Männer, scheuen Blicken der Mädchen und endete mit fröhlichem Plaudern, begann mit einem schmerzlichen Lächeln des Herrn Merkle und endete mit der ausdrucksvollen Gebärde seiner Zufriedenheit.

Sylvester war frühzeitig gekommen. Er wollte auf Schratt warten, aber der schickte ihn fort.

»Ich muß mit Gemütsruhe essen«, sagte er. »Und ich will Ihre herzklopfende Ungeduld nicht auf die Probe stellen. Sie würden heimlich die Minuten zählen und mich für ein gefühllos es Scheusal halten. Gehen Sie nur voran und erwarten Sie mich auf dem Schlachtfelde!«

Dann stand Sylvester an der Saaltüre bei den Jüngern der »Klio«. Keiner zeigte Fröhlichkeit oder jugendlichen Leichtsinn. Einige zerrten an ihren Handschuhen, andere richteten ihre Scheitel; alle blickten sorgenvoll in die Welt.

Merkle trat unter sie und gab ihnen die letzten Verhaltungsmaßregeln.

»Also ein devotes Komplimang, wenn Damen eintreten. Anweisen der Plätze durch die Komiteemitglieder. Sieht man Bekannte, so eilt man auf sie zu, begrüßt sie herzlich und ist ihnen behilflich. Und heiter, meine Herren! Fröhliche Mienen! Damit sofort eine gehobene Stimmung Platz greift. Mit dem Engagieren erst beginnen, wenn die Gäste möglichst vollzählig erschienen sind! Man nähert sich hierbei der jungen Dame bis auf zwei Schritte, macht ein Komplimang, tritt noch einen halben Schritt vor und sagt: ›Gnädiges Fräulein, darf ich ergebenst um die Tanzkarte bitten?‹ Dann zeichnet man seinen Namen mit deutlicher Schrift ein: die Dame tut das gleiche. Es ist Sache der Herren, sich genau den Namen, auch den Platz der Dame zu merken. Verwechslungen können zu sehr unangenehmen Ereignissen führen. Und jetzt noch einmal, fröhliche Mienen! Man kommt.«

Der Diener öffnete die Saaltüre.

Ein beleibter Herr, eine stattliche Dame, zwei Engel in rosafarbenen Kleidern.

Der lange Jakob Hufnagel stürzte auf sie los, als wollte er einen feindlichen Angriff gegen sie ausführen. Die stattliche Dame wich ihm aus, und Merkle eilte herbei, um die erste Verwirrung zu schlichten.

Es gelang ihm, die Familie zu beruhigen und dem beleibten Herrn zu erklären, daß sich der Präses Hufnagel lediglich die Ehre geben wolle, den Herrschaften Plätze anzuweisen. Von jetzt an war die Saaltüre in steter Bewegung. Duftige Gestalten schwebten herein, geschmückte Mädchen drängten sich aneinander und flüsterten sich Geheimnisse zu, kernige Bürger schritten neben ihren Gattinnen einher, und über die Köpfe der Eintretenden weg fiel der Blick auf leuchtende Gestalten, die sich in der Garderobe aus ihren Mänteln schälten.

Unaufhörlich flutete es in den Saal, vorüber an den Söhnen der »Klio«, welche angesichts der Herrlichkeiten immer beklommener wurden.

Sylvester ließ seine Blicke suchend über die Gäste gleiten. »Jetzt!« dachte er, sooft die Türe geöffnet wurde. »Nein. Wieder nicht.« Seine Hoffnung sank.

Vermutlich würden sie nicht kommen. Vermutlich hatte Madame Sporner erfahren, daß Leute erscheinen würden, welche sie schon einmal hatte zurechtweisen müssen.

Und da hatte Madame Sporner gewiß erklärt, es sei unpassend, diese Unterhaltung zu besuchen.

Die tiefe Baßstimme Hufnagels weckte ihn aus seinen düsteren Gedanken. »Mang, glaubst du nicht, es wäre allmählich Zeit, mit dem Engagieren zu beginnen?«

Sylvester blickte den Freund verständnislos an.

Was bedeutete diese Sache für ihn? Was bedeutete der ganze Ball für ihn?

Er antwortete irgend etwas und sah nach der Türe, die sich soeben wieder auftat.

Da!

Die majestätische Gestalt der Frau Sophie Sporner erschien. Ihr Seidengewand rauschte so lebhaft, wie sich das ein echter und gediegener Stoff erlauben darf.

Dann kam eine junge Dame in Weiß, deren Augen ein wenig forschend im Saale herumwanderten und lustig blitzten, als sie auf Sylvester fielen.

Und dann kam im Bratenrocke der gutmütige Papa. Es war nicht mehr anzuzweifeln, die Firma war anwesend.

Sylvester überlegte. Sollte er hineilen und die Eltern begrüßen?

Merkle hatte dies vorgeschrieben; aber seine Lehre war für geübte Truppen berechnet, nicht für Jünglinge, denen Ehrfurcht die Kehlen zuschnürt.

Sylvester sagte sich, daß er auf Schratt warten müsse.

In drei Minuten war es acht Uhr, und er hatte versprochen, pünktlich zu sein.

Wieder sagte die Baßstimme neben Mang: »Jetzt sollten wir zum Engagement schreiten!«

Zum Glück für Sylvester war der zweite Vorstand des Vereines, Herr Theodor Schmelzle, ein Jurist und erklärte, daß der Wortlaut des Programms maßgebend sei. Hiernach beginne der Ball Punkt acht Uhr, das Engagieren bilde aber einen Bestandteil des Balles, und ergo treffe auch hierfür die Zeitbestimmung zu.

Ob das richtig war oder nicht, jedenfalls dauerte die Interpretation so lange, daß in der Zwischenzeit der ungeduldig erwartete Schratt auftauchte.

Sylvester begrüßte ihn stürmisch. »Ich habe schon geglaubt, Sie kommen zu spät. Das Engagieren kann nicht mehr verschoben werden!«

»So? Na, einen Platz werde ich noch kriegen. Ist die angesehene Bürgersfamilie bereits anwesend?«

»Ja.«

»Die wollen wir aufsuchen.«

Schratt ging auf die Familie Sporner zu mit einem Mute, der Sylvester Bewunderung einflößte.

Er fand freundlichen Willkommen. Und Frau Sporner sagte mit sichtlichem Vergnügen: »Der Herr Assessor! An Sie hätte ich wirklich nicht gedacht.«

»Das klingt beinahe wie ein Vorwurf und tut mir in der Seele weh. Aber erlauben Sie, daß ich Ihnen einen jungen Freund vorstelle? Herr Studiosus Mang.«

»Ja, der Herr Mang! Wie geht's Ihnen denn? Und warum sieht man Ihnen denn gar nimmer?«

Papa Sporner hatte ein schlechtes Gedächtnis, und er verstand es nie, seine Gefühle zu meistern, zu temperieren und zu dirigieren.

Er schüttelte Sylvester so herzlich die Hand, als hätte man ihm niemals angeraten, vorsichtig zu sein, und er brachte es fertig, diesen jungen Mann ganz ehrlich zu fragen, warum er so plötzlich seine Besuche unterlassen habe.

Vielleicht zog er sich durch dieses Benehmen gerechten Tadel zu; vorerst aber verscheuchte er damit alle Verlegenheiten. Madame Sophie war gütig, Traudchen war fröhlich, und in Sylvester erwachte eine seltsame Kühnheit.

Als man das Zeichen zur Polonäse gab, bot er dem jungen Mädchen furchtlos seinen Arm an und führte es sicher und männlich durch die Reihen der Gäste, daß sich der Kandidat Hufnagel höchlich darüber wunderte.

Denn er selbst war erst nach manchen Fährlichkeiten von Merkle an die führende Stelle gebracht worden. An seinem Arme hing der eine von den rosafarbenen Engeln und reichte ihm kaum zum zweiten Knopfe seiner Weste.

Anfänglich hatte das Mädchen versucht, ein Gespräch zu führen, aber seine Stimme drang nur schwach zu dieser Höhe hinauf. Und seine Mitteilungen klangen wehmütig und trostlos. Hufnagel hörte zuerst darauf und beugte seinen Oberkörper vor, als blicke er in einen Brunnen, aus dessen Tiefe jemand um Hilfe schrie.

Er schickte seine Stimme hinunter zu dem armen Wesen und sagte ihm, daß der Boden glatt sei und daß man sich vor dem Fallen hüten müsse.

Nach diesen Warnungen schwieg er.

Das Mädchen konnte nicht leugnen, daß sie berechtigt waren, denn als die Polonäse begann und Hufnagel mit seinen langen Beinen weite Spuren setzte und das Mädchen atemlos neben ihm herlief und den Arm immer höher strecken mußte, um den letzten Halt nicht zu verlieren, da hatte es oftmals die Füße in der Luft und dankte jedesmal dem lieben Gott, wenn es wieder festen Boden gewann.

Aber was bedeutete das gegen die Schrecknisse des Walzers? Gegen die Gefahren, als jetzt Hufnagel um die Jungfrau herumsprang?

Als seine Beine sich gebärdeten, als wären sie ganz für sich allein wahnsinnig geworden, während der Oberkörper immer steifer wurde? Als seine Stiefel die wütendsten Angriffe gegen ihre kleinen Ballschuhe machten, auf sie lostraten, wo sie sich nur blicken ließen?

Was blieb ihr übrig, als angstvoll auf den Boden zu stieren und ihre Füßchen vor diesen rasenden Ungeheuern zu retten?

Sie konnte nicht fliehen, denn zwei derbe Hände hielten sie fest, sie konnte nicht schreien, denn die Musik verschlang ihre Stimme.

Sie konnte nichts tun, als dulden und durch verzweifelte Sprünge ihre Zehen in Sicherheit bringen. Endlich war der Tanz zu Ende. Die feindlichen Beine machten noch einige Zuckungen und kamen langsam zur Ruhe.

Und dann führte Hufnagel das zitternde Mädchen zu seiner Mutter und verbeugte sich vor ihm und lächelte ihm zu und sagte, er würde hoffentlich noch einmal die Ehre haben.

Sylvester war glücklich. Aber das Glück machte ihn nicht gesprächig; er ging schweigend neben seiner Tänzerin und freute sich, ihre kleine Hand auf seinem Arm zu fühlen.

Einmal fanden sich ihre Augen, da wurden die zwei jungen Menschen rot.

Und nach einer Weile sagte Sylvester: »Ich habe Sie seit dem Abend nur zweimal gesehen.«

Traudchen lächelte.

»Das letztemal auf dem Maximiliansplatz.«

»Ja, und ich wollte mir erlauben, Sie anzusprechen und mich nach Ihrem Befinden erkundigen.«

»Warum haben Sie es nicht getan?«

»Ich war nicht allein, und Sie waren in Gesellschaft.«

»Meine Freundin, die Käthl Hauck. Sie ist heute auch da; Sie müssen mit ihr tanzen.«

»Gerne.«

»Können Sie jetzt tanzen? Sie haben mir früher erzählt, daß Sie nie dazu kamen.« »Ich habe es jetzt gelernt.«

»Mama war, glaube ich, überrascht, daß Sie auf dem Ball sind.«

»Sie auch?«

Traudchen errötete leicht, und dann lachte sie fröhlich.

»Ich habe gewußt, daß Sie kommen.«

»Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Die Käthl Hauck, und die hat es von Herrn Hufnagel gehört oder von seiner Schwester. Das ist das ganze Geheimnis. Aber jetzt kommt der Walzer.«

Sylvester machte sein Kompliment nach der Vorschrift des Herrn Merkle und nahm das frische Mädel um die Mitte. Und schwenkte es tapfer im Reigen.

Nach dem Tanze führte er Traudel zu den Eltern, plauderte mit ihnen, ließ sich dem Fräulein Hauck vorstellen und benahm sich mit einer so fröhlichen Sicherheit, daß der alte Schratt ihn vergnügt betrachtete.

Auch Madame Sporner sah ihn prüfend an. Dieser junge Mann hatte sich verändert; nicht zu seinem Nachteile, das mußte sie gestehen, aber sein Wesen bestärkte sie in einer Vermutung.

Manche flüchtige Bemerkung des alten Schratt war ihr aufgefallen; sie hatte nicht bloß das warme Interesse für Sylvester herausgehört, auch eine bestimmte Absicht.

Es war so, als wollte er andeuten, daß ein Kandidat der Theobgie nicht immer Pfarrer werde. Die Bemerkungen waren in scherzhaftem Tone gemacht, so nebenbei und unauffällig. Aber Madame Sporner hatte gute Ohren.

Michael Sporner nicht. Michael Sporner war ahnungslos und schwor, daß keine Klatscherei von bissigen alten Jungfern ihn abhalten könne, brave musikalische Jünglinge zu bewirten.

Und draußen im Saale ging der Ball weiter.

Merkle sah mit Zufriedenheit, daß der Ton lebhafter wurde. Die jungen Herren suchten nicht mehr mit schmerzverzerrten Gesichtern nach Unterhaltungsstoffen; die Mädchen zeigten nicht mehr die Mienen, welche sie für Kondolenzbesuche gelernt hatten; sie waren dankbar für jedes scherzhafte Wort und belohnten es mit hellem Gelächter. Sylvester war mitten im Strudel und holte sich von allen Seiten Anerkennung und Lob.

Eine Française ließ er aus und betrachtete das hübsche Bild als Zuschauer. Schratt suchte ihn auf.

»Na, Sie Tausendsassa! Unterhalten Sie sich gut?«

»Es ist wundervoll. Wie gefällt es Ihnen?«

»Geht so. Herr Sporner wird allmählich gesprächig. Wir sind jetzt bei der Teestaude.«

»Hat er etwas von mir gesagt?«

»Von Ihnen? Nein.«

»Haben Sie ...?«

»Ich? Auch nicht.«

»Ich meine, ob Sie ...«

»Ob ich Ihr Loblied gesungen habe? Das hätte doch ein bißchen verdächtig ausgesehen, Verehrtester. Sie wissen, daß die Absicht verstimmt, wenn man sie merkt.«

»Das habe ich nicht fragen wollen. Sondern, ob Herr Sporner es nicht sonderbar findet, daß ich hier bin?«

»Er? Der Herr Michael Sporner?«

»Oder seine Frau?«

»Die Frage ist eher berechtigt. Ich habe übrigens nicht bemerkt, daß sie Ihre Anwesenheit mißbilligt. Vielleicht denkt sie, der junge Mann will die Welt sehen, bevor er sich von ihr abkehrt.«

»Hat sie darüber gesprochen?«

»Nein.«

»Oder Andeutungen gemacht?«

»Auch nicht. Sie wollen offenbar herauskriegen, was an unserem Tisch geredet wurde. Ich sage Ihnen ja, wir sind jetzt bei der Teestaude.«

»Was werden sie von mir denken, wenn sie das erfahren?«

»Daß Sie der Gottesgelahrtheit den Rücken kehren?«

»Ja. Am Ende glauben sie, daß ich aus Vergnügungssucht weggehe?«

»Hm. Ich kann Ihnen nicht verschweigen, daß Sie merkwürdig viel Talent verraten für das Treiben dieser Welt. Ich habe Sie beobachtet. Ich bin paff.«

»Im Ernst, Herr Schratt, glauben Sie, daß man mir das übel auslegen kann, daß ich den Ball besucht habe?«

»Man? Wer ›man‹? Ich glaube, daß Fräulein Traudel deshalb nicht an Ihrem Charakter verzweifelt, auch Herr Michael Sporner scheint eine milde Auffassung zu hegen, und Madame Sophie...«

»Die wird mich für leichtfertig halten.«

»Und Madame Sophie ist eine sehr kluge Frau; sie hat mehr Verstand als mancher weise Mann. Das kann Ihnen einmal nützen in ernsteren Dingen und wird Ihnen nicht schaden, wo es sich um solche Kleinigkeiten handelt.«

»Sie glauben ...?«

»Heute gar nichts, Sylvester. Ich wollte nur sagen, daß Frau Sophie zu den Menschen gehört, deren Achtung man sich durch Tüchtigkeit verdienen kann. Das liegt für Sie in weiter Ferne, aber daß es möglich ist, bedeutet auch etwas. Jetzt wollen wir dem Tanze zusehen.«

Sylvester war nachdenklich geworden. Er blickte zerstreut in den Saal.

Merkle kommandierte: »La main droite! La main gauche! Balancez en ligne!«

»Zu meiner Zeit hat man das noch getanzt«, sagte Schratt; »die jungen Leute gehen ja nur. Wer ist denn der lange Sohn Enaks dort vorne? Wenn der nur das Mädchen nicht tot tritt!«

»Das ist der Hufnagel.«

»Der Philologe? Das hätte ich ahnen können. Die Herren haben sich seit meiner Zeit nicht verändert.«

Nach dem Kotillon erklärte Frau Sporner, daß man den Heimweg antrete. Schratt und Sylvester schlossen sich an.

Als sie im Freien waren, erbarmte sich der alte Herr über seinen Freund und sagte, in dieser milden Februarnacht wolle er noch ein wenig spazieren gehen und die Familie begleiten. Er rundete seinen Arm und bot ihn der Madame Sophie an; zu ihrer Rechten ging Herr Michael.

Traudel und Sylvester schritten voran.

»Ich werde immer an den Abend denken«, sagte Sylvester.

»Ja, es war sehr hübsch.«

»Das ist jetzt vorbei. Wer weiß, wann ich wieder einmal ...«

Er sprach den Satz nicht aus und seufzte.

Er hatte sich vorgenommen, dem Mädchen zu sagen, welche Pläne er für die Zukunft gefaßt habe. Er wollte ihr sagen, daß er nicht Geistlicher werde.

Während des Kotillons wollte er dieses Geständnis machen. Da war eine günstige Gelegenheit. Aber Traudel plauderte so lustig, und da wollte er nicht mit ernsten Dingen kommen. Nach dem Tanze vielleicht.

Es ging wieder nicht. »Also auf dem Heimwege«, dachte er. Und jetzt ging er wieder neben dem Mädchen und fand wieder nicht den Mut.

Der Weg war sehr kurz. Wenn sie um das Eck bogen, kamen sie schon in die Rosengasse.

Er sah nach den Hausnummern. 38. Wenn sie bei 34 waren, wollte er reden.

Aber da kam 34 und kam 30, und er brachte es noch nicht heraus.

Nun merkte er, daß er die ganze Zeit stumm geblieben war. Und da vorne kam schon das Eck.

»Fräulein Gertraud...«

»Ja.«

»Wenn Sie etwas von mir hören, werden Sie deswegen nichts Schlechtes von mir denken?«

»Was soll ich von Ihnen hören?«

»Ich will ..., ich glaube nicht, daß ich Geistlicher werde.«

Jetzt war es heraus. Sylvester atmete erleichtert auf. Er sah schüchtern zu Gertraud hinüber, aber sie begegnete seinem Blicke nicht, und da ihr Kopf mit einem Tuche verhüllt war, und da es ziemlich dunkel war, konnte er nicht sehen, daß sie bis unter die Haarwurzeln errötete.

Sylvester redete wieder; er war jetzt schon im Zuge.

»Sie werden nicht schlecht von mir denken?«

»Nein. Ich denke nie schlecht von Ihnen.«

»Ich habe mich nicht leicht entschlossen, aber ich kann nicht dabei bleiben.«

»Dann dürfen Sie auch nicht.«

Sie sah ihn offen an; in ihren braunen Augen lag ein fester Ernst.

Als wollte sie ihm sagen, daß er die Kraft haben müsse, das zu einem rechten Ende zu führen, was er sich vorgesetzt hatte. Sie sprachen nichts mehr.

Nach wenigen Schritten standen sie vor dem Hause; Schratt kam mit den Eltern nach, und Sylvester verabschiedete sich von ihnen. Schüttelte auch dem Fräulein die Hand, und sah ihm nach und sah auf die Türe, welche langsam ins Schloß fiel.


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