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Eine seltsame Zärtlichkeit wallte in Rentier Otto Schwalbe auf. Er hatte am Mittagtische still und gedrückt teilgenommen, war zerstreut gewesen und hatte sehr wenig gegessen. Jetzt erhob er sich beinahe stürmisch und machte den Versuch, seine Frau auf den Mund zu küssen, traf aber nur die Wange, da sie den Kopf zur Seite bog. Er wiederholte die Sache nicht, da sie ihm selber ungewöhnlich, fast ein bißchen blödsinnig vorkam. Er sagte: »Tinchen!« recht aus der Tiefe herauf und ging.
»Was er nur hat?« fragte Mama.
»Gott!« sagte ihr Töchterchen Hanna, eine frische Blondine mit einer entzückend frechen Stupsnase. Tante Mally behauptet, daß diese Stupsnase ein Geschenk Gottes sei, denn mit so 'ner Nase könne man sich viel mehr erlauben, als sonst jungen Mädchen verstattet sei, und man könne unbeanstandet verfängliche Dinge sagen. Jedermann fände es stilvoll. Hanna sagte und fragte viel Unpassendes; sie war schon als Backfisch nicht gezwungen, eine Verständnislosigkeit zu heucheln, die ihr bei diesen Augen und dieser Nase doch niemand geglaubt hätte. Eigentlich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie sagte späterhin, als sie die Zwanzig überschritten hatte, nicht mehr so viel Entsetzliches wie ehedem in den unschuldsvollen Jahren. Vielleicht hatte sie mit feinem Gefühle den pikanten Reiz verstanden, den der Kontrast zwischen unreifer Jugend und überreifen Äußerungen hatte. Sie machte auch jetzt noch Gebrauch von dem Rechte der Stupsnase, aber spärlicher, mit kluger Einteilung. »Gott!« sagte sie jetzt und zog die Achseln hoch. »Wahrscheinlich hat er ein schlechtes Gewissen!«
»Aber Hanna! Übrigens, ich muß zugeben...« Frau Klementine vollendete den Satz nicht, vielleicht blieb sie sogar mitten in dem Gedanken stecken. Ihr mildes Wesen hatte sie zur Körperfülle, ihre Körperfülle zur absoluten Gleichgültigkeit geführt. Sie setzte sich in einen bequemen Lehnstuhl, und ihre Augenlider waren schwer, als sie nach langer Pause fragte: »Schlechtes Gewissen glaubst du...?«
»Ich finde seine unpassende Zärtlichkeit verdächtig –«, antwortete das Töchterchen.
»Unpassende Zär...«
Frau Klementine war eingeschlafen.
Herr Schwalbe ging gewohnheitsmäßig seinem Stammkaffee zu, aber auf halbem Wege kehrte er um und irrte planlos durch die Straßen. Was tun? Irgend etwas mußte geschehen. Das heißblütige Weib hatte ihm in einem ziemlich unorthographischen Briefe Rache angedroht. Diese ungarischen Volksschulen... na ja... aber stolz waren sie, diese Kinder der Pußta... Paprika, setzte Schwalbe in Gedanken hinzu... stolz waren sie, und Kränkungen nahmen sie nicht stillschweigend hin.
Was würde sie tun, diese Verschmähte? Ach, Herr Schwalbe ahnte, wußte es nur zu gut! Er hatte sich von seinen Gefühlen zu Briefen hinreißen lassen, die von Phantasie strotzten, von einer verderbten, auf schlimme Abwege geratenen Phantasie. Wenn sie diese frivolen, häßlichen Erzeugnisse an Tina...
»Un – mög – lich!«
Er schrie es so laut hinaus, daß sich die Leute nach ihm umdrehten. Er überquerte die Straße und setzte sich in den Anlagen auf eine Bank. Nur ruhig denken, ruhig überlegen!
Konnte die Polizei...? Unsinn! Was ging es die an? Im Gegenteil, dieses staatserhaltende Institut konnte und mußte ihm die Verletzung seiner Familienpflicht verübeln.
Ein Detektiv? Welcher Kulturmensch schaut heute in fatalen Situationen nicht zu diesen Sternen am großstädtischen Nachthimmel empor? Es gab Namen, besser gekannt als die der größten Gelehrten. Sherlock Holmes, Stuart Webbs. Aber es waren Helden, deren Taten wohl das ganze Volk bewunderte, die gefilmt in den Herzen der Deutschen weiter lebten, aber sie waren sagenhaft, wie Achill und Hektor. Die wirklichen Detektive, deren Offerten in den Zeitungen standen, waren nicht so edel und nicht so kühn; die stiegen nicht an Blitzableitern empor, um anzügliche Briefe zu stehlen.
Nee – mit Detektivs war's auch nichts.
Was sonst? Nur kühl und logisch denken! Einen Freund ins Vertrauen ziehen, der die Person durch Güte, durch List zur Herausgabe der Papiere veranlassen konnte? Ja – das war das Richtige, das Einzige, was helfen konnte. Denn ein reumütiges Geständnis vor Tine? Einfach – unmöglich!
Nicht als ob – natürlich davon war keine Rede mehr – nicht als ob eine zärtliche Liebe dadurch zerstört worden wäre, aber etwas Anderes, Wertvolles hätte sein Ende gefunden. Klementine sah zu ihm auf, und dieses Ideal, das ihr, der Guten, in sechsundzwanzig Jahren erhalten geblieben war, das durch die Stürme des Lebens et cetera... Ja, das mußte ihr bewahrt werden.
Einem Manne nimmt die rauhe Wirklichkeit – Herr Schwalbe räusperte sich, als er diesen Satz in seinen Gedanken formte – die rauhe – jawohl! – Wirklichkeit alle Illusionen; man kann sich nicht so kinderrein erhalten, wie man möchte, man hat auch einmal und gewiß aus ehrlichem Herzen heraus diesen Glauben an dauernde Liebe, an Treue gehabt, aber dann kam – tja, was kam? – eben die Wirklichkeit, die rauhe. Man denkt sich das so: man steigt am Hochzeitstage mit der Gefährtin in ein rosenumkränztes Boot; es treibt hinaus auf spiegelglatter Fläche; sie kräuselt sich, leichte Wellen bringen das Boot zum Schaukeln, aber der Mann sitzt am Steuer und hält es mit nerviger Hand. Dann kommen die Stürme, der Wind zerfetzt die Segel, aus der Tiefe herauf wirbeln die Strudel der Leidenschaften, das kocht und zischt, und schäumende Wogen schlagen über Bord. Endlich kommt man in den Hafen, verwittert, zerzaust, das wackere Boot hat Wunden, die Rosengirlanden sind längst weggespült, doch die Gattin sitzt lächelnd im Schiffe, sie hat, Gott sei Dank, von den schlimmen Stürmen nichts gemerkt, vertrauensvoll sah sie nur immerzu auf den Mann am Steuer. Tja – und dieses Vertrauen zerstören? Nie!
Es blieb nur der bewährte Freund, der helfen mußte.
Justizrat Pillkuhn? Der Mann hatte Erfahrung und kannte das Leben, das uns nicht kinderrein erhält, aber er war ein Spötter. Wie würde er ihm mit höhnischem Behagen allerlei vorhalten! Schwalbe hatte nicht selten mit ihm über sittliche Anschauungen gestritten, und Schwalbe hatte die höheren gegen die ätzenden Bemerkungen des Justizrates verteidigt. Worte – und Taten. Er sah den kleinen, dicken Herrn grinsen, er hörte ihn sagen: »Na also, da haben wir wieder einmal einen Cherusker. Aber so seid ihr, in Phrasen eingesponnen. Wenn ihr bloß eure Nebenmenschen anlügen würdet, das hätte 'n Sinn, aber ihr schwindelt euch selber an. – Nein, an Pillkuhn konnte man sich nicht wenden. Stadtrat Doege? Der hatte öfter mit ihm Schulter an Schulter für das gestritten, was einem trotzdem und alledem heilig bleiben mußte, selbst wenn die rauhe Wirklichkeit et cetera – –
Aber war der Mann so, dann konnte er für diese Dinge kein Verständnis haben, noch weniger eines zeigen.
Hagemann – natürlich der alte Fritz Hagemann war der Rechte. Der nette, joviale Kerl würde ihm auch sicher den Gefallen tun. Er dachte beinahe zärtlich an den dicken Fritz, der so dröhnend lachen konnte, der immer guter Laune war, und er machte sich Vorwürfe, daß er ihn in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Wo wohnt er wohl jetzt? Schwalbe ging in einen Laden und sah im Adreßbuch nach. Immer noch in der Jacobistraße, Ecke Inselstraße. Schwalbe nahm sich eine Droschke. Unterwegs überlegte er, wie er dem Jugendfreunde die Sache beibringen sollte. Am besten frischweg mit burschikosem Einschlag. »Junge, Junge, hör' mal...« und so weiter. Das linke Auge zukneifen. »Verfluchter Kerl, was?« Der Wagen hielt, und Schwalbe stieg leise vor sich hinpfeifend die Treppen aufwärts. Ein Mädchen öffnete, eine dralle Unschuld vom Lande, eine, die man gerne in die Backen zwickt. Im Salon mußte er warten.
Endlich Schritte. Schwalbe setzte zu geräuschvoller Herzlichkeit an, als die Türe auf ging. Aber das war doch gar nicht der fidele Fritz, das war ein grämlich blickender Herr, dessen rechter Fuß in einem Filzschuh steckte.
»Nanu, was ist los mit dir?«
»Nischt mehr, das siehste doch. Das verfluchte Podagra...«
Schwalbe machte die scherzhaften Bemerkungen, die man Gichtleidenden zuteil werden läßt, und ging zum Bedauern über, als der Patient seinen Schmerzen keine spaßhafte Seite abgewinnen wollte. Er empfahl sich rasch, und sein Herz war voll Bitterkeit. Was ist Freundschaft? Was ist sie, der man so viele Abende opfert, eigentlich wert? Nun, da er der Hilfe bedurfte, konnte er sie bei keinem der Männer finden, mit denen er so viele biedere Händedrucke getauscht hatte.
In solchen Momenten empfindet der Mensch die Nichtigkeit eingebildeter Werte. Aber was nun? Zu Verwandten gehn? Schwager Wilhelm? Nich in die la mäng! Der würde es bloß herumerzählen. Es war schon so. Das Leben brauchte nur einmal seine ernste Seite hervorzukehren, dann stand man allein.
Fünfuhrtee bei Frau Schwalbe. Heydenhauß war da mit Frau und Tochter, dann Frau Rösicke und Fräulein Pillkuhn, die Tochter des Justizrates, eine talentvolle Kunstgewerblerin. Man sprach von allem Hohen und Schönen, von Reinhardt und von Moissi, als die Türe aufging und Papa Schwalbe eintrat. So was Seltenes! Und tatsächlich sagte er mit einem milden Lächeln zu den Anwesenden, daß diese Dämmerstunden im eigenen Heim das Behaglichste wären, was er kenne. Tine schenkte ihren eigenen Gemütswallungen so wenig Beachtung, daß sie über die des Gatten nicht nachdachte, und Hanna war sich bereits im klaren; vielleicht hätte sie eine überraschende Antwort gegeben, wenn nicht die Gäste dagewesen wären.
Und so strömte Schwalbe von Güte über und von Interesse am Kleinsten, was sonst nur Damen tiefer berührt. Er verfolgte mit betonter Aufmerksamkeit ein Gespräch, das sich um die neuesten Hüte drehte, er forderte Tinchen auf, ein Modell, von dem sie schwärmte, ohne langes Besinnen zu kaufen, und er war zart, weich und milde.
Hanna faßte ihren Erzeuger scharf ins Auge und bemerkte, daß er beim Ton der Wohnungsglocke in Unruhe geriet und ängstlich nach der Tür hinhorchte; auch bestand zwischen ihm und Rieke ein heimliches Einverständnis. Das Mädchen machte mit Kopfschütteln und mit Blicken beruhigende Gesten, wenn sie der schuldbewußte Greis ängstlich anstarrte. Papa war wirklich ein schlechter Schauspieler; vor den geschärften Augen der Jugend hielten seine kümmerlichen Mittel nicht stand. Wenn er um Zucker bat, hatte er einen Tonfall – gräßlich! Und dieser Augenaufschlag! Und wenn er Mama zuflüsterte, daß er noch ein Täßchen vertragen könne, war es, als wenn er ihr ein süßes Geheimnis anvertraue. Die Gäste mußten baff sein über dieses konservierte Familienglück. Ob sie merkten, wie rührselig der Alte war? Er hatte fortwährend Tränen in der Stimme; hoffentlich glaubten sie, daß er vor einem Schnupfen stehe. Als sie gingen, kam das Wunderbare. Papa fragte flötend, ob sie, Mama und Hanna, den Abend daheim zubrächten, es wäre doch zu gemütlich, wenn man beisammen bliebe. Als sich das zufällig so traf, tat er so vergnügt, als wenn Christbescherung wäre.
»Komm mal, Rieke«, sagte Hanna im Flur draußen zum Mädchen und zog es in eine Ecke. »Was hat Papa für'n Auftrag gegeben?«
»Der gnädche Herr?«
»Ja. Tu nur nich so erstaunt und besinn dich nicht lang auf ne Lüge...«
»Ich weiß aber doch gar nich...«
»Wenn du mir's nicht sagst, schicke ich dich nie mehr abends weg, und dann kann dein Unteroffizier lange an der Ecke warten?«
»Ochott, gnädches Fräulein, nu sein Sie nich gleich böse, ich sage es Ihnen doch schon. Der gnädche Herr hat befohlen, wenn 'n Brief im Kasten liegt oder wenn 'n Brief abgegeben wird, den soll ich'n gnädchen Herrn jeben, und wenn auch die Adresse an die gnädche Frau is... Und nu weeß ich nich, soll ich...«
»Natürlich sollste. Es ist 'n Krankheitsfall in der Familie, und Mama soll nicht erschrecken. Aber siehste, wie ich dir's gleich angemerkt habe?«
»Das gnädche Fräulein sieht auch wirklich allens...«