Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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Neuntes Kapitel

Es war ein ruhevoller Sommerabend. Die Häuser auf dem Marktplatze schlürften durch offene Türen und Fenster frische Luft ein, nach der sie den langen Nachmittag geschmachtet hatten.

Die Uhr auf dem Kirchturme glühte noch unter den letzten Sonnenstrahlen, aber dunkle Schatten, die langsam hinaufkrochen, versprachen ihr erquickende Kühle. Der Brunnen plätscherte lauter, und den Bürgern unter den Haustüren war eine stille Freude auf den Abendtrunk anzusehen.

Vor der Post ging Herr Dierl mit dem Kanzleirate unter ernsten Gesprächen auf und ab.

»Ich muß sagen, ich hab' eigentlich nichts g'merkt. Bis jetzt wenigstens is mir nix aufg'fallen«, sagte Schützinger.

»Sie wern's ja sehg'n, daß i recht hab'. Der Berliner hat was im Sinn, und der fade Kerl da drüben« – Dierl deutete mit dem Stocke nach dem Kaufhause Natterer hin – »der wepsige Kramer is natürli mit dabei ...«

»Was wollen s' denn machen?«

»An Fremdenschwindel ei'führ'n, d' Leut verderb'n, alles in d' Höh treib'n ... I kenn' de G'schicht'n, weil i s' scho a paarmal erlebt hab' ...«

»Vielleicht sehen Sie doch zu schwarz ...«

»Na! Na! Verlassen S' Ihnen auf mich! ... Ah gut'n Abend Herr Posthalter! Sind S' heute reicht fleißig g'wes'n?«

»Hat scho sei müass'n ... 's letzte Fuada Korn hamm ma rei ...«

Man hörte ein Horn tuten.

Die Altaicher Kühe wurde über den Marktplatz heimgetrieben. Geduldig trotteten sie übers Pflaster; ab und zu sonderten sich etliche vom Haufen ab und bogen in Seitengassen ein.

Dann blies der alte Hüter fest ins Horn zum Zeichen, daß die Stalltüren geöffnet werden sollten.

Dierl sah mit freundlicher Miene auf das Treiben.

»So was tuat wohl«, sagte er. »Dös is no was aus der guat'n alt'n Zeit ...«

»Ja ... ja ...« meinte der Posthalter, »aber . . .«

»Was aber?«

»Der Zuastand paßt nimmer recht her ...«

Blenniger wies auf eine Kuh, die stehen blieb, und indes sie nachdenklich vor sich hin schaute, ein stattliches Andenken fallen ließ.

»No ... was is nacha?« fragte Dierl.

»So was paßt si nimmer her ...«

»Auweh! Dös hätt' i liaba net g'hört.«

Dierl wandte sich unwillig ab und entfernte sich etliche Schritte mit dem Kanzleirate.

»Spanna S' was? Dös san scho de erst'n Anfäng'. Jetzt hätt' der Lalli aa scho an Graus'n vor'm Landleb'n. A Kurort werd's halt, dös Altaich ...«

»Eine Änderung in dem speziellen Punkt wär' ja net so schlimm«, entgegnete Schützinger, den der Vorgang nicht so stark angeheimelt hatte.

»Net? I will Ihna was sag'n. Wenn d' Leut amal de Sprüch' macha vom Ändern und vom Fortschritt, wenn eahna dös Alte ordinär vorkimmt, nacha is's scho g'fehlt ...«

»Ich bin ja auch fürs Romantische, aber ich meine, Herr Oberinspektor, es laßt sich auch vom hygienischen Standpunkt aus ...«

»Nix! I kenn' d' Leut und i hab' meine Erfahrunga g'macht. Wenn amal de Redensart'n ei'reiß'n von zeitgemäß und Fortschritt, nacha verschwindet der solide Geist ...«

Die Kühe waren weitergetrottet, und aus der Ferne hörte man zuweilen den Hüter blasen. Die verklingenden Töne erregten in Dierl eine wehmütige Ahnung, daß es bald aus sein werde mit alten Bräuchen und alter Biederkeit.

Über den Platz herüber kam Martl und schlenkerte einen leeren Maßkrug, daß der Deckel auf- und zuklappte. Er pfiff vor sich hin und schritt daher wie das Sinnbild des altbayrischen Feierabends.

In Dierls Gemüt fiel ein Sonnenstrahl, als er den von aller Neuzeit unberührten Hausknecht sah, und er fingerte in der Westentasche an einem Markstück herum. Doch er gewann seine Besonnenheit wieder und zog die Hand leer zurück.

Martl hatte den Seelenkampf bemerkt, denn Hausknechte sind scharfblickend, und ihre Beobachtungsgabe ist nicht gering.

Er wunderte sich auch nicht über den kläglichen Ausgang, denn er und sein Freund Hansgirgl betrachteten den Inspektor als notigen Hund. Deswegen achtete er nicht auf die landsmännische Freude Dierls und schlurfte ohne Gruß ins Haus.

»Wie lang' is der Martl schon bei Ihnen?« fragte Dierl den Posthalter.

»Da Martl? A vierz'g Jahr g'wiß. Er is scho als Bua herkemma ...«

»Das is noch einer von der alt'n Garde Solchene gibt's nimmer viel.«

»... Ja ja ... ko scho sei«, sagte Blenninger trocken und schenkte seine Aufmerksamkeit einem aufgedonnerten Frauenzimmer, das gerade auf dem Bürgersteige daher kam. Als wollte es ihnen die ganze Verdorbenheit der neuen Zeit vor Augen führen, so rauschte es an den kernigen Altbayern vorüber und warf aus untermalten Augen verächtliche Blicke auf sie.

Der Kanzleirat schaute ihm verblüfft nach, und Dierl rief:

»Ja, was waar denn jetzt dös? Wia kimmt denn so was hieher?«

»Is ja a hiesige ...« sagte der Blenninger.

»De ... ?«

»Von hier?« fragte Schützinger. »Das kann man ja gar net glaub'n ...«

»Wenn i's Eahna sag'! D' Hallberger Marie is; an Schlosser Hallberger sei Tochta ... .«

»In an solchan Aufzug?« staunte Dierl.

»Sie is beim Theata oder halt bei so a 'ra Gaudi und Schlawinag'sellschaft in Berlin drob'n. Seit etli Tag is s' dahoam. Wahrscheinli is ihr der Diridari ausganga, sonst waar de wohl net hergroast . . .«

Der Kanzleirat war nachdenklich geworden.

»Eine Dame vom Theater is sie? Das is eigentli sehr merkwürdi, wenn man denkt, als Altaich ... Und ein Schlosser is ihr Vater ... ? Is er vielleicht der Schlosser grad gegenüber von der Kirch ...«

»Ganz richti ... der is. Der Hallberger ...«

»M ... hm ...« machte Schützingr. »Ich find', es eigentlich sehr merkwürdi ...«

»Und des merkwürdigst is, daß anständige Bürgersleut eahna Tochter zu a 'ra Gaudig'sellschaft geh' lass'n ...« sagte Dierl. »Dös hätt's früher all's net geb'n. Da hamm S' Eahna geliebte Neuzeit!« wandte er sich an Blenninger.

»I? Was geht denn mi d' Neuzeit o?«

»Sie san aa sho o'g'steckt ... Wia S' voring daher g'redt hamm weg'n de Küah ...«

»Ah so ...«

»Was sind denn diese Hallberger für Leut?« fragte Schützinger.

»Der Hallberger? Ja, er is amal a ganz richtiger Mensch und hat an Ansehg'n hier. Da fehlat nix. Aber sie halt! Sie is a verruckte Heubod'nspinna; als Muatta scho gar nix wert. De hat dös Madl so dumm herzog'n. Zu der Arbat is s' z' nobl g'wen von kloa auf, und all's hat sie dem Fratz'n hi'geh' lass'n ... na ja, jetza siecht ma's scho ...«

»Also! Was sag' i denn? Da hat ma den Beweis, was rausschaugt dabei, wenn ma dös Alte, dös Solide, nimma reschpektiert ... Dös is der Zeitgeit! I bin froh, daß i net no mal jung sei muaß ... Was is, Herr Kanzleirat? Genga ma nei zum Ess'n?«

»Ich hab' no kein recht'n Appetit und möcht' noch a bissel spazier'n geh'n ...«

»Viel Vergnüg'n! I geh' zu meiner Hax'n ...«

Dierl ging ins Haus, und Schützinger schlenderte über den Platz und schaute angelegentlich in die Auslage des Kaufmanns Natterer, bis er sich durch die Spiegelung in der Fensterscheibe überzeugt hatte, daß auch der Posthalter weggegangen war.

Nun eilte er mit rascheren Schritten den Platz hinunter und bog in die Kirchgasse ein.

Eine süßliche Witterung von Parfüm zeigte ihm an, daß er auf der rechten Fährte war.

Kurz vor der Kirche nahm er die gemächlichste Gangart an und spielte zierlich mit seinem Stocke.

Er betrachtete das Portal aufmerksam, wie ein gewiegter Kenner von Barock und Rokoko; er trat zurück, um das Gesamtbild auf sich wirken zu lassen, und trat wieder näher, um die Einzelheiten zu mustern.

Dabei verlor er das Hallbergerhaus nicht aus den Augen, und er sah, daß die Dame vom Theater an ein offenes Fenster des ersten Stockwerkes trat und mit hochgezogenen Brauen zur Turmuhr hinaufschaute, um die Zeit auf ihrer Armbanduhr damit zu vergleichen.

Er bemerkte, daß ihr Blick vom Turm herunter auf einen jugendlichen Kanzleirat glitt und auf ihm ein wenig haften blieb. Er hörte sie ein Lied trällern.

Viens poupoule, viens poupoule, viens!

Er kannte es nicht, aber es kam ihm ansprechend frivol vor. Die Dame lächelte und trat vom Fenster zurück.

Das rußige Lehrbubengesicht, das hinter einer Fensterscheibe zur ebenen Erde auftauchte und aus dem zwei lustige Augen sich auf ihn richteten, sah der Herr Rat nicht. Ihm genügten seine anderen Beobachtungen, die so stark auf ihn wirkten, daß seine Beine die auf Kanzleistühlen verlorene Beweglichkeit wiedergewannen und jugendlich tänzelten. Sie behielten das bei, als der Herr Rat heimkehrte und in die Gaststube trat, so daß Dierl erstaunt aufsah und fragte:

»No ... no! Was hamm denn Sie heut für an Schwung?«

»Ich sag' Ihnen, Herr Oberinspektor, so ein Spaziergang erfrischt ungemein«, anwortete Schützinger und setzte sich quecksilbern lebhaft auf seinen Platz.

Ja, es ist schön, in einer lauen Sommernacht duch hochstehende Ährenfelder zu gehen. Die Halme streifen das Gewand, und nichts ist zu hören als das Geräusch der eigenen Schritte. Weite Flächen liegen im bleichen Mondlicht, und daneben sind tiefe, dunkle Schatten.

Drohend ragen gewaltige Massen vor einem auf, und sind harmlose Bäume, wenn man näher kommt.

Seitab vom Wege liegt zusammengekauert und verschlafen ein Bauernhaus; kein Licht brennt mehr darin.

Alles ist müde von Arbeit in tiefe Ruhe versunken.

Die Schritte knirschen über Kies, hallen lauter über hölzerne Stege. Aus dem Dunkel führt der Weg über flutendes Licht wieder ins Dunkel und Ungewisse. Allmählich werden die Formen von Baum und Strauch vertrauter; ein Geländer, ein Feldkreuz sind alte Bekannte und zeigen die Nähe der Heimat an.

»Gut'n Abend, Herr Konrad!« sagte freundlich ein Mädel, das auf einer von den neuen Ruhebänken gesessen war und nun aufstand.

»Guten Abend!« wünschte er zurück und ging weiter.

»Genga S' scho hoam?« fragte das Mädel und folgte ihm.

Konrad blieb stehen. »Wer sind Sie denn?«

»Kenna S' mi nimmer?«

»Nein, in der Dunkelheit nicht.«

»I bin do d' Noichl Kathi ...«

»Ah so! D' Fräul'n Noichl!«

Er sagte es so, als wäre er nun ganz im reinen, und doch wußte er wenig oder nichts von der rundlichen Tochter des Konditors Noichl.

Es fiel ihm auch nicht weiter auf, daß sie so spät noch um den Weg war.

»Ah gengan S', sagen S' doch net Fräulein zu mir! Wissen S' nimma, wie ma no mitanand' in d' Schul ganga san?«

Konrad erinnerte sich an ein dickes, gutmütiges Mädel, das immer die Taschen voll Eiszucker und Himbeerbonbons gehabt und freigiebig ihre Schätze verteilt hatte. Es war kein vorteilhaftes Bild, das er im Gedächtnis trug, denn dem Mädel waren von vielem Naschen die Zähne schlecht geworden, und seine kleinen Augen waren zwischen dicken Backen eingeklemmt gesessen. Ob sich daran was geändert hatte, ließ sich beim Mondlicht nicht unterscheiden.

»Dann sag' ich Kathl, wie früher.«

»Ja, dös tean S'!« Fräulein Noichl schmiegte sich voll Freude an Konrad, der merken konnte, daß sich die Rundlichkeit erhalten und weiter entwickelt hatte.

»Kommen S' g'wiß vom Mal'n?«

»Ja. Ich war in Riedering. Aber wo kommen eigentlich Sie her?«

»I? Von dahoam.«

»Da sind S' aber spät d'ran.«

»Jessas! Geln S'? Aber i ko nix dafür. I bin nach 'n Ladenschluß spazier'n ganga, und so müad bin i g'wen, und so hoaß is g'wen, und da hab' i mi auf a Band g'setzt und bin ei'g'schlaf'n. Auf oamal bin i aufg'wacht, wia Sie kemma san. I bin fei beinah' derschrock'n.«

»Vor mir?«

»Ah gengan S'!« Kathl schmiegte sich an. »Na, i bin derschrock'n, weil's so spat g'wen is. Jessas! Was müass'n Eahna Sie am End denk'n?«

»Nix.«

»Sie sagen's halt net. Vielleicht denken S' Eahna, daß i auf wen g'wart' hab'?«

»Na. Ich glaub's Ihnen schon, daß Sie eing'schlafen sind.«

»Aba g'wiß? Dös is das erstemal im ganz'n Summa, daß i auf d'Nacht spazier'n ganga bin. Weil's so hoaß war im Lad'n.«

Konrad ging weiter, ohne zu antworten.

»Gengan S' oft nach Riedering ummi?«

»Hie und da.«

»I tat Eahna gern beim Mal'n zuaschaug'n. Derf i net?«

»I kann's Ihnen net verbiet'n.«

»Ah geh, Sie müassen ma's extra verlaab'n.«

»I erlaub's Ihnen schon, wenn's Ihnen Spaß macht.«

»I möcht's halt gern sehg'n. Vielleicht malen S' morgen in da Näh?«

»Morgen? Da will ich nach Sassau nüber.«

Kathi überlegte.

»Vielleicht, wenn d' Muatta im Lad'n bleibet. I müaßt halt an Ausred' find'n.«

»Am End' is doch g'scheiter, Sie wart'n, bis ich in der Näh' arbeit'.«

»Ah gengan S'! Eahna is net recht, wenn i kimm.«

»Ich hab nix dageg'n Kathl.«

»Da müassen S' mir aber a Botschaft schick'n, sunst woaß i 's ja net, wann i zuaschaug'n derf.«

»Schön. Also, wenn amal G'legenheit is ...«

»Amal!« rief Kathi schmollend. »I siech sho, Sie wollen's net hamm und sag'n grad a so.«

Konrad wußte nichts Rechtes zu antworten, und da wurde auch Kathi still.

Vielleicht kam es ihr so vor, daß Gefühle nicht so leicht anzubringen waren wie ehedem Eiszucker und Himbeerbonbons. Sie dachte darüber nach, warum denn ihr alter Schulkamerad gar nichts spannen wollte, und sie konnte bloß den einen Grund finden, daß sich schon eine andere einloschiert habe.

Darum sagte sie offenherzig, wie einmal ihre Natur war:

»I woaß scho, eahna g'fall'n g'rad die Berlinerinna.«

Konrad lachte.

»Wie kommen S' denn auf so was?«

»I woaß 's halt. D' Postfanny hat's aa g'sagt.«

»Die muß 's ja wiss'n.«

»Weil s' Eahna sho öfter g'sehg'n hat mit de Summafrischla.«

»So?«

»I hab' Eahna sho aa g'sehg'n, wie S' auf und ab spaziert san damit.«

»Hamm Sie so gute Aug'n Kathl?«

»Dös hat ma sho sehg'n müass'n. Sie san ja lang' gnua damit ganga.«

»Mir gehen ja auch mitanand'. Nach dazu bei der Nacht.«

»Ah gengan S'!«

»Is 's net wahr?«

Kathi kicherte.

»Wer woaß, was Sie von mir denk'n? Am End' glauben S' gar was!«

»Was?«

»Daß i mit Fleiß auf Eahna g'wart' hab'. Sie san sho so ei'bilderisch ...«

Leider war Konrad nicht einbilderisch. Über die Bachbrücke ging er voran, ohne etwas zu sagen.

Da mußte es Kathi wieder an einem andern Zipfel anfassen.

»Mir g'fallt fei de Berlinarin gar net«, sagte sie.

»Net?« lachte Konrad.

»Na! Gelbe Haar hat s', und so mager is. An dera is gar nix dro. Und i glaab, daß s' recht stolz is. D' Fanny hat aa g'sagt, daß s' so g'schupft is. Mit dera gehet i fei net ...«

»So Kathl«, sagte Konrad, »da bin ich daheim. Gut' Nacht!«

»Begleiten S' mi net no a bissel?«

»Es geht net, meine Leut' wart'n auf mi.«

»Mitt'n bei da Nacht?«

»Grad desweg'n, d' Mutter hätt' am End' Angst.«

»Sie san oana! Jetzt soll i in da Dunkelheit alloa geh'!«

»Sie kennen doch den Weg. Und da vorn is glei wieder Mondlicht. Also gute Nacht!«

»Gut' Nacht!« sagte Kathi kleinlaut. Eigentlich hätte sie bös sein müssen, aber das brachte sie nicht fertig. »Herr Konrad!« rief sie dem ungalanten Menschen nach.

»Was?«

»Wann schicken S' ma denn a Botschaft, daß i zuschaug'n derf?«

»In de nächst' Tag'.«

»Aba g'wiß!«

»Jawohl. Gut Nacht!«

Seine Schritte verhallten, und Kathi mußte sich entschließen, allein heim zu gehen.

Der Weg war recht einsam, und es kamen ihr alle möglichen Gedanken. Ängstliche und andere. Busch und Strauch warfen tiefe Schatten über den Weg. Überall hätte man unbemerkt stehen bleiben können, und kein Mensch wäre einem um die Zeit begegnet.

Aber es war schon so, daß sich der junge Maler die g'schupfte Berlinerin einbildete. Und es war abscheulich, daß eine Schulkameradin, die vor vielen Jahren ihre Taschen ausgekramt hatte, um dem Konrad liebreich zu sein, wegen einer zugereisten Person hintan gesetzt wurde.

Ach! Und so lau und schön war die Nacht, und Johanniskäfer flogen herum, daß es wie Lichterschein in den Haselnußstauden aufblitzte.

Kathi seufzte wieder und noch etliche Male und eilte auf dem Staffelweg hinter den Häusern zum Marktplatz hinauf.

Alle Fenster waren dunkel. Bloß beim Natterer hinten hinaus brannte ein Licht.

Sie eilte vorbei und schlich daheim über die leise knarrende Stiege in ihr Zimmer.

Sie schaute noch eine Weile zum offenen Fenster hinaus in die stille Nacht.

Irgendwo schrie eine Katze.

Wenn es ein Kater war, dann hatte er mehr Gefühl wie ein gewisser Maler.

Das Licht, das noch bei Natterer brannte, stand auf dem Tische, um den die Familie Hobbe saß. Es mußte etwas Bedeutendes geschehen sein, denn Vater, Mutter und Tochter hatten leuchtende Augen, und jedes drückte auf seine Art die gehobenste Stimmung aus.

Der Professor strich seinen Bart und sah zur Decke empor, als könnte sein Blick durch sie hindurch zu fernen Höhen dringen. Frau Mathilde blickte verklärt den Gatten an, und das Töchterchen sah so aus, als wäre der Geist der Kunstgeschichte über es gekommen.

»Horstmar, – also wirklich?«

»Ja Mathilde.«

»Laß sehen, wieviel Uhr es ist! Zehn durch, du glaubst, in einer halben Stunde?«

»Längstens in einer halben Stunde. Ich werde nur mehr die beiden Schlußsätze niederschreiben.«

»Dann also wirklich! Altaich am letzten Juli, nachts halb elf!«

Frau Mathilde sprach es halblaut vor sich hin, und ein stolzes Lächeln spielte um ihren Mund. Sie stand auf und trat ans offene Fenster. Da unten lagen im Dunkeln die Häuser Altaichs. Menschen schliefen hinter ihren Mauern unter dicken Bettdecken, Menschen schnarchten in ihnen, Menschen träumten in ihnen irgend etwas Kleinliches, etwas unsäglich Bedeutungsloses. Ihnen war es eine Nacht wie jede andere. Wenn sie erwachten, gingen sie wieder an ihre unsäglich bedeutungslose Arbeit. Hier oben aber brannte ein Licht und leuchtete weit hinaus über die gebildete Menschheit.

»Horstmar, ob jemand in diesem S ... städtchen jemals erfahren oder wissen wird, welches Buch hier vollendet wurde? Am 31 Juli, nachts halb elf Uhr?«

»Ich glaube es nicht Mathilde. Es liegt doch der Gedankenwelt dieser Menschen zu ferne.«

»Die Armen! Man fühlt unwillkürlich Mitleid mit Menschen, die immer im Dunkeln leben.«

»Gewiß, Schatz. Das ist ein natürliches Gefühl. Wir dürfen uns aber der Hoffnung hingeben, daß in einer fortgeschrittenen Epoche die quantitativen und qualitativen Bestrebungen zum Geistigen größer werden, und daß die geistigen Gesamtströmungen auch über diese Dämme treten werden.«

»Glaubst du?«

»Gewiß! Die Grenzen jeder Epoche werden weiter hinausgeschoben oder, wie man vielleicht richtiger sagen sollte: jede Epoche schiebt ihre Grenzen weiter hinaus.«

Frau Mathilde atmete tief auf und sagte zu ihrem Töchterchen: »Komm! Nun wollen wir Papa gute Nacht sagen. Und merke dir als Erinnerung für das Leben, er vollendet in dieser s ... stillen Nacht sein Werk: Über die Phantasie als das an sich Irrationale.«

»Ja, Mama!« sagte Tildchen und hüpfte zum Vater. Es hauchte einen Kuß auf seine große, bleiche Denkerstirne.

»Gute Nacht, Papa!«

»Gute Nacht!« sagte er schon etwas zerstreut, denn die Schlußsätze arbeiteten mächtig in ihm.

Seine Frau, mit dem Zustande vertraut, strich ihm über das Haar und entfernte sich lautlos.

Eine Weile brütete Hobbe vor sich hin, dann erhob er sich mit einem raschen Entschlusse und schöpfte tief Atem.

Nun trat er auch ans Fenster.

Der volle Mond hatte sich über das Dach der Nachbarscheune herausgeschoben und schaute mit stumpfer Neugierde in die Stube des Gelehrten hinein.

So, als wollte er fragen: »Was machen denn Sie eigentlich?«

Dabei sah er nicht aus wie ein geistspendender Himmelskörper, sondern wie ein Spießbürger, der mit breitem Lachen Geheimnisse beobachtet und sich an Geschehnissen in Mägdekammern mehr ergötzt, als an der Vollendung eines großen kunstgeschichtlichen Werkes.

Kein Wunder, wenn man Jahrtausende hindurch Gemeinheiten sieht, die mit aufdringlicher Deutlichkeit geschehen, während sich das hohe Geistige im Verborgenen vollzieht.

Verzerrte nicht der alte Kenner der Menschen und ihrer Torheiten höhnisch sein Maul?

Hobbe hatte genug von seinem Anblicke und schob den Vorhang vor.

Er legte feierlich einen Bogen Papier vor sich hin, den letzten von so vielen, denen er sein Tiefstes anvertraut hatte.

Er tauchte die Feder ein und schrieb mit markigen Zügen:

»Das zum Minimum gebrachte Künstlerische ist das stärkste Abstrakte, das zum Minimum gebrachte Gegenständliche ist das stärkste Reale. Das quantitative Minus des Abstrakten ist gleich seinem qualitativen Plus!«

Darunter schrieb er mit großen Buchstaben: Finis, und machte einen mächtigen Schnörkel daran.

Nun holte er aus der Kommode das ganze dickleibige Manuskript hervor und ließ die tausend Blätter liebkosend durch seine Finger gleiten.

Das Quantitative entzückte ihn. Es war viel Papier und alles eng beschrieben.

Zwischen dem ersten Worte und dem Finis lagen acht Jahre, achtmal dreihundertfünfundsechzig Tage, von denen jeder ausgefüllt war mit dem Gedanken an dieses Werk.

Zwischen dem ersten Worte und dem Finis lagen schmerzliche Wehen, frohe Entbindungen, Blutleeren im Gehirne, Störungen der Assoziationszentren, verzagte Stunden und jauchzende Erfüllungen.

Und was lag nun vor ihm?

Die Umwälzung der Kunstbegriffe.

Hobbe stand wiederum auf und lüftete den Vorhang.

Aber der Mond war weggezogen.

Er hatte den historischen Moment nicht abgewartet, sondern war auf die Suche nach irgendeiner Banalität gegangen.

Mochte er!

Hobbe horchte hinaus. Die Nacht war feierlich still, in der dieses die Grundfesten des Alten erschütternde, die Welt demnächst mit Lärm erfüllende Werk vollendet worden war.

So berührte ihn die Ruhe beinahe seltsam.

Aber horch! Das klang wie Menschenstimmen. Von dem Bauernhause neben der Scheune schien der Klang herzukommen.

Wer mochte es sein, der in dieser weihevollen Stunde so nahe der geistigen Geburtsstätte weilte?

Hobbe beugte sich aus dem Fenster und lauschte.

Ein leiser Pfiff.

»Liesei!«

»Was?« fragte eine weibliche Stimme.

»Schmeiß ma mei Schiläh oba! I hab's drommat lieg'n lass'n! ...«

»Da! Host as?«

»Jawoi. Guat Nacht, Lisei!«

»Guat Nacht, Flori! Kimmst morg'n wieda?«

»Ko leicht sei. Pfüad di!«

Hobbe trat zurück.

Er verstand den Dialekt zu wenig, um den ganzen, ungeheuerlichen Kontrast, in dem das Gespräch zu seiner Welt und zu diesem Erfüllungsmoment stand, würdigen zu können.

Er merkte nur, daß etwas Bedeutungsloses, etwas niedrig Irdisches gesprochen worden war.

Durch so etwas wollte er sich nicht in seiner Stimmung stören lassen. Er löschte langsam und feierlich die Lampe aus und ging ins Schlafgemach.

»Horstmar, ist es so weit?«

»Ja, Mathilde.«

Dann schliefen auch diese Glücklichen.


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