Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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Drittes Kapitel

In vielen Menschen lebt der Wunsch, von ihresgleichen niemanden zu sehen; er kann auf schöner Selbsterkenntnis beruhen oder auf der unedlen Meinung, daß die andern schlimmer seien.

Jedenfalls versteht der Sommergast unter Idylle einen Ort, wo es seinesgleichen nicht gibt, und diese Hoffnung war durch die Anzeige Natterers in Deutschland und Österreich erweckt worden.

Vielleicht hing sich daran die dunkle Ahnung, daß zwischen vorborgenen Schönheiten und billigen Nahrungsmitteln Zusammenhänge beständen.

Wie wäre sonst der k. k. Oberleutnant a. D. Franz von Wlazeck aus Salzburg auf den Einfall gekommen, nach Altaich zu reisen?

Kinder der Flora, Waldparzellen und magische Mondnächte gibt es auch im Lande des heiligen Rupertus. Wahrscheinlich auch Eisenoxydule und Eisenkarbonate, aber die österreichischen Pensionsbezüge stechen immer auffallender von den österreichischen Lebensmittelpreisen ab.

Darin ließe sich eine Erklärung für den sonderbaren Entschluß des Herrn von Wlazeck finden.

Er sah übrigens besser aus wie Herr Dierl; er war schlank, grazil und gut angezogen.

Pillartz, der als Schneider ein Auge dafür hatte, sagte, daß er auf den ersten Blick den österreichischen Offizier in dem Fremden erkannt habe.

»Die Hoße ... Das Schagätt ... wissen S', mein Vater war doch in Prag ... und i habs in Linz gelärnt ... die Hoße ... das Schagätt ... das ist Österreich. Wanns ein Minchner anhaben tut, in zwei Täg is verkrippelt; aber so elegant abi falln, kirzengrad, nit voll, sondern, als wann die Hoße eer waar, das ist halt Österreich ...«

Auch die Gesichtszüge des Oberleutnants hatten etwas Soldatisch-Donaumonarchisches.

Sie waren liebenswürdig und drückten eine sprungbereite Höflichkeit gegen die Damenwelt aus. Über den dicken Lippen saß ein zugeschnittener Schnurrbart; die Augen quollen etwas vor, doch nicht in entstellender Weise, die Stirne ging in einen Kahlkopf über und gewann dadurch an Höhe.

Herr von Wlazeck nahm Wohnung in der Post und bezauberte am ersten Tage durch seine Ritterlichkeit alle weiblichen Angestellten.

»Alsdann ... ich bidde ... wie is der reizende Name? Fannerl? Aber bidde, der Name erinnert mich lebhaft an eine Jugendliebe ... na ... na hamm S' nur keine Angst! Tempi passati! Es ist schon lange her ... leider! ... . aldann, ich bidde ... net wahr ... jeden Tag in der Fruh ein bissel warmes Wasser ... .«

Nach dem ersten Mittagsessen ging der Herr Oberleutnant in die Küche und erklärte, daß er noch nie einen besseren Nierenbraten gespeist habe.

»Ich muß der ausgezeichneten Kochkünstlerin mein Kompliment mach'n ... aba ich bidde ... lassen sich nicht stören, Freilein ... Darf ich Ihren Namen für immer ins Härz schreiben? Josefa? Aber bidde ... das is ja reizend! Meine Braut hat nemlich auch seinerzeit Josefa geheißen ... Die Arme is ja leider noch vor Erfüllung ihrer Wiensche ... beziehungsweise ... natierlich meiner Wiensche gestorben ... aber disser Name weckt immer wähmietige Erinnerungen in mir ... alsdann ich mache wirklich mein Kompliment zu dem Nierenbradl ... und darf ich frag'n ... Freilein Josefa, ob Sie mit Ihren reizenden Patscherln auch a mal eine Möllspeise mach'n? ... Rahmstrudel?! Aber bidde, das is ja das non plus ultra, das Ideal des Österreichers ...!«

Sephi sagte hinterher zur Abspülmagd; »Das is ein Gawalier! Der woaß wenigstens, was sie g'hört. De andern fress'n 's Sach nei und wischen si 's Mäu ab, und von koan dank schö hörst d' 's ganz Jahr nix. Höchstens schimpfa ko ma s' hörn, wenn s' net akrat dös kriagn, was s' woll'n, aba dös is a Gawalier ...«

Jede Köchin setzt eine Gefühlswallung in gute Bissen und große Portionen um.

So erhielt auch Herr von Wlazeck am Abend eine Schweinshaxe vorgesetzt, von einer Größe, wie man sie in Österreich seit der Metternichzeit nicht mehr gesehen hat.

Dazu war sie mit Liebe gebraten, braun, resch und mit einer so herrlich duftenden Sauce begossen, daß die Aufmerksamkeit des Oberinspektors Dierl erregt wurde.

Das Anblick verstimmte ihn und vermehrte seine Abneigung gegen den ekelhaften Hanswurschten, wie er sogleich den sorgfältig gekleideten Oberleutnant innerlich genannt hatte.

Er setzte eine mürrische Miene auf und nahm sich vor, unnahbar zu bleiben.

Er täuschte sich.

Gegen die bezwingende Liebenswürdigkeit des Herrn von Wlazeck gab es keine Hilfe; unter dem Einflusse seines sonnigen Wesens schmolz jede Eisrinde.

Vorläufig aß er die Schweinshaxe und geriet durch den Genuß in erhöhte Wärme und Menschenliebe. Dann richtete er seine Blicke auf Dierl, über den ihm die Kellnerin schon Auskünfte erteilt hatte.

Er musterte ihn, während er sich hinter der Serviette die Zähne ausstocherte. »Dicker Münchner . .. etwas unsoigniert . . . .Mittelklasse ... auskömmliche Existenz habend ... in Ermangelung besserer Gesellschaft noch brauchbar ...«

Der Oberinspektor sah verdrießlich zur Seite, wenn sich die Blicke kreuzten und biß mit zorniger Energie die Spitze seiner Zigarre ab. Herr von Wlazeck zog mit einer hübschen Bewegung eine silberne Zigarettendose aus der Seitentasche, klopfte eine Memphis etliche Male auf den Deckel und zündete sie an. Nachdem er einige Züge inhaliert und den Rauch wollüstig durch die Nasenlöcher gestoßen hatte, war sein Entschluß gefaßt.

Er stand mit einem verbindlichen Lächeln auf, schlürfte nach alter Kavalierart über den Fußboden hin und machte vor dem überaschten Dierl eine tadellose Verbeugung.

»Gstatten, mich vorzustellen ... Oberleutnant von Wlazeck ... .«

»Sehr angenehm ... Oberinspektor Dierl ...«

»Verzeihen, daß ich mir die Freiheit nehme, aber ich glaube, zu bemerken, daß wir in gewissem Sinne Leidensgefährten sind ... Das heißt, bildlich gesprochen, denn bei einer so vorzieglichen Verpflegung ist das Wort nicht buchstäblich anzuwenden –, ich möchte bloß das Gefährten betonen, indem wir uns gemeinsam auf diesem unentdeckten oder vielmehr neu entdeckten Eilande befinden ...«

Herr Dierl, der als Lebensversicherungsinspektor einen berufsmäßigen Blick für Annäherungsversuche hatte, mußte unwillkürlich Hochachtung vor der Meisterschaft des ekelhaften Hanswurschten empfinden.

Da ihm nicht gleich eine Antwort einfiel, grunzte er etwass Unverständliches, was auch als Erwiderung gelten konnte.

Das veranlaßte Herrn von Wlazek, Platz zu nehmen und die Konversation fortzusetzen.

»Habe gehört, Herr Oberinspektor sind schon einige Tage hier und haben sozusagen Prioritätsrechte, die ich selbstverständlich respektiere ...«

Dierl antwortete und war bald in ein anregendes Gespräch verwickelt, in dessen Verlaufe er die sein Ansehen hebende Mitteilung einfließen ließ, daß er vor etlichen Jahrzehnten bayrischer Leutnant gewesen sei. Daraufhin titulierte ihn Wlazek als Herrn Kameraden, und der Oberinspektor der Artemisia kam nach dem sechsten Glase Bier in eine fröhliche Soldatenstimmung und wurde beim späten Schlusse ganz und gar alter Militär.

Als man sich kameradschaftlich getrennt und jeder sein Zimmer aufgesucht hatte, setzte sich Herr Dierl etwas durmelig auf den Bettrand, zog einen Stiefel aus und versank in Nachdenken, zog den anderen Stiefel aus und sagte vor sich hin:

»Dös is ja ein sehr ein angenehmer Mensch!«

Die beiden Soldaten blieben nicht lange allein auf dem Eilande. Wie um Gegensätze hervorzuheben, führte das Schicksal etliche Tage später den blonden, zivilen Professor Horstmar Hobbe nach Altaich.

Er war Außerordentlicher für Kunstgeschichte in Göttingen und brachte seine Gattin Mathilde und eine zwölfjährige Tochter gleichen Namens und Aussehens mit.

Er mietete sich bei Natterer ein, da er stille Zimmer und einen Garten für sich haben wollte.

Zum Mittagessen ging die Familie Hobbe in die Post, abends zog sie es vor, daheim zum Tee Butterstullen und kalte Küche einzunehmen. Horstmar Hobbe arbeitete an einem großen Werke, das das letzte entscheidende Wort über Kunst als Kunst bringen sollte und den Titel trug: »Über Phantasie als das an sich Irrationale«.

Wer zu einem so beträchtlichen Baue täglich mehrere Steine liefern muß, will nicht gestört werden und darf nicht jedem Abend unter banalen Menschen aus der Stimmung fallen, um erst nachts wieder hinein zu kommen.

Das vertrug sich nicht mit der Aufgabe und nicht mit der Absicht des Professors Hobbe, der lieber in Göttingen geblieben wäre und nur deswegen abgereist war, weil ihn bei der Untersuchung, ob Phantasie die Vorstellung der ideellen Form für die reale Erscheinung oder die Vorstellung der realen Form für die ideelle Erscheinung sei, eine längere Blutleere im Gehirn befallen hatte.

Der Arzt verordnete entweder völlige Einstellung des großen Werkes oder mäßige Arbeit in Landluft, und da Frau Mathilde zufällig in einer Berliner Zeitung den Hinweis auf das von ozonreichen Waldparzellen umgebene Altaich las, entschloß man sich, dorthin zur letzten Festlegung der bedeutenden Begriffe zu ziehen.

Die Familie fand bei Natterer die passenden Zimmer.

Von seiner Studierstube aus fiel Hobbes Blick über den kleinen Garten hinweg auf die große Holzwand der nachbarlichen Scheune, irrte also nicht in ungemessene Fernen, sondern hing sich an Linien und Astlöchern der grauen Bretter fest, was sein tiefes Nachdenken förderte.

Geräusche machten sich nicht bemerkbar; nur manchmal kreischte das Rad eines Schubkarrens, wenn die Magd des Nachbarn frischen Dünger auf den Misthaufen fuhr und umleerte, aber diese der seinigen so verwandte Tätigkeit störte den Kunstgelehrten nicht.

So war er vom ersten Tage an zufrieden und glücklich, und Mathilde die Ältere, wie Mathilde die Jüngere, die genau wußten, wie weit die Untersuchung über das Produkt im Verhältnisse zum Subjekte vorgedrungen war, ließen Stolz und Befriedigung in blauen Augen aufleuchten.

Unmöglich für Herrn von Wlazeck, an die Familie heranzukommen. Er hatte es bei ihrem männlichen Haupte versucht.

Horstmar Hobbe hatte mit seinen Damen die Post verlassen, war nach wenigen Schritten auf dem Marktplatze stehen geblieben und hatte seinen Blick gerade über den Brunnen weg auf ein Haus gerichtet.

Ahnte Wlazek, daß der Professor in diesem Augenblicke darauf kam, daß das Genie in der Kunst ein Grenzbegriff sei?

Er ahnte es nicht.

Er verbeugte sich ritterlich vor dem tiefen Denker und sagte:

»Gestatten, mich vorzustellen ... Oberleutnant von Wlazeck . . . habe gehört, daß Herr Professor behufs Studienzwecken seinen Aufenthalt nach hier transferiert haben und glaube wirklich nach meinen gemachten Erfahrungen versichern zu können, daß sich der Ort ganz vorzieglich zu geistiger Produktion eignet ...«

Er hätte noch länger ungestört reden können, wenn nicht Hobbe nach Überprüfung des Satzes wiederholt festgestellt hätte, daß Genie in der Kunst ein Grenzbegriff sei, und hinweg geeilt wäre, um den bedeutenden Fund schriftlich zu bergen.

Den höflichen Oberleutnant traf dabei ein derartig leerer Blick aus den Augen des Gelehrten, daß er entsetzt zurückprallte und auch hinterher viel zu verblüfft war, um sich gekränkt zu fühlen.

»Spinnt«, sagte er zu Dierl. »Ich bidde, lieber Herr Kamerad, der Kerl spinnt evident. Wann ich an Ochsen mit der Hack'n niederschlagen möchte ... verzeihen den harten Ausdruck ... aber, wann ich an Ochsen niederschlag, macht er ungefähr solchene Augen wie der Mensch ... das heißt, bloß ungefähr, und immerhin noch bedeitend intelligentere.«

Es kam vor, daß Frau Hobbe mit ihrem Töchterchen spazieren ging, wenn die weihevollsten Stunden über Horstmar kamen und seine Gedanken sich so tief in das Irrationale der Phantasie bohrten, wie der Blick seiner entgeistigten Augen in die Astlöcher der Scheunenwand. Es kam vor, daß ihr dann zwei Herren begegneten und daß der Elegantere sie höflich grüßte. Dann dankte die außerordentliche Professorsgattin mit solcher Kälte, daß ein wärmerer Blick, der sie streifen wollte, auf dem halben Wege erfror.

»Ich bidde, Herr Kamerad«, sagte Wlazeck, »was is das für eine Art von Weiblichkeit? Ist das vielleicht Charme? Wahrscheinlich soll es Größe sein, aber bidde, was heißt Größe? Das wahre Weib muß einen Gruß halb entgegennehmen und halb parieren und auch auf Distance das reizvolle Spiel einer erlaubten Koketterie entfalten, das heißt, wann sie das kann, wann sie Charme hat, wann sie ein entzickendes Weib ist. Was meinen Herr Kamerad?«

Dierl, der als alter Junggeselle keinen Sinn für Nuances des weiblichen Charakters hatte, antwortete etwas mürrisch:

»Hätten S' halt die fade Wachtel net grüßt!«

»Aber bidde!«

Wlazeck setzte seinem Herrn Kameraden lebhaft auseinander, daß nichts auf der Welt ihn bewegen könne, unritterlich zu sein.

Am Ufer der Vils entlang wandelnd, gewährte er dem Inspektor der Artimisia Einblicke in das Wesen der Galanterie, die lehrreich hätten sein können, wenn sie nicht um Jahrzehnte zu spät gekommen wären.

Die Nummer vier in der Fremdenliste führte Herrn Tobias Bünzli, Dichter aus Winterthur, an; das Wort Dichter war duchschossen gedruckt, vermutlich auf Wunsch des Kaufmanns Natterer, der den Gast als wertvolle Akquisition betrachtete. Mit der äußeren Erscheinung Bünzlis war nicht viel Staat zu machen. Er war ein langer, hagerer Mensch, in der Mitte der Zwanziger; sein Gesicht war blaß und unrein; auch die Zähne waren schadhaft, und auf geistige Beschäftigung deutete nur ein üppiger Haarwuchs hin. Aufmerksame Beobachter hätten sehen können, daß die Hände des jungen Mannes auffallend groß waren und Spuren von Frostbeulen trugen.

Sie konnten vom Dichten in kalten Dachstuben herrühren, aber ein mißtrauischer Mensch hätte eher an einen Kommis gedacht, der in ungeheizten Lagerräumen hatte arbeiten müssen.

Bünzli erhielt ein hübsches Zimmer beim Bürgermeister Schwarzenbeck, doch dichtete er anscheinend am liebsten in der freien Natur.

Auf den Bänken, die Harlander gestiftet hatte, saß er und schaute träumerisch über den Fluß hin, besonders träumerisch, wenn junge Mädchen um die Wege waren.

Sie gingen zu zweit und zu dritt ineinander eingehängt den Hügelweg zur Vils hinunter und bewunderten Bünzli, der an ihnen vorbei in selige Gefilde schaute. Ob sie errieten, daß er ihretwegen hastig den Bleistift netzte und Worte in sein Notizbuch schrieb? Altaich liegt weit ab von der Literatur, aber der Teufel steckt in allen Mädeln.

In der Post bedeutete der junge Mann wenig; seine Versunkenheiten zu Mittag und am Abend erregten keine Teilnahme.

Sie standen freilich in wunderlichem Gegensatze zu dem riesigen Appetit, den Bünzli zeigte, aber Hobbe gab sich mit Rätzeln der Natur nicht ab, und ein nicht vorgestellter Mensch war kein Mensch für die Frau Professor.

Wlazeck sah freilich, was der junge Mensch aß und wie er aß. Er sah auch, daß seine Schuhe schief getretene Absätze hatten, daß seine Hände ungepflegt und seine Fingernägel abgebissen waren. Damit schied Tobias für den Herrn Oberleutnant aus der Klasse achtenswerter Individuen aus.

Wlazeck unterhielt sich lieber mit Eingeborenen, die er oft ermahnte, sich nie und durch nichts von den schlichten Gewohnheiten der Väter abbringen zu lassen.

»Beachten Sie stets, Herr Posthalter, daß die Basis Ihres florierenden Geschäftes die Billigkeit der Preise ist. Das ist gewissermaßen Ihre Spezialität, und in dem modernen Mischmasch is jede Spezialität etwas Söltenes und eißerst Wichtiges. Schauen Sie, ich kann da aus eigener Erfahrung sprechen. Ich habe erlebt, daß ganze Gegenden durch den internationalen Schwindel ihres Reizes beraubt worden sind. Was tut da ein denkender Mensch? Er bleibt ganz einfach weg. Wann ich zum Beispiel den Wunsch hege, das echte Altbayern kennen zu lernen, will ich den gemietlichen Posthalter Blenninger antreffen, seine Jovialität und seine zivilen Preise. Wann ich natürlich ein Aff bin, rutsch' ich den Hotölls herum und soupire im Frack und mache den internationalen Schwindel mit. Folgen Sie mir, Herr Posthalter, und bewahren Sie sich Ihre prachtvolle Spezialität!«

»Ja ... Ja ...« antwortete der Blenninger, »is scho recht.«

Bedeutsamer für die Geselligkeit was das Eintreffen des fünften Kurgastes, des Kanzleirates Anton Schützinger aus München.

Der kleine, beleibte Herr schien üble Laune nicht zu kennen.

Er war ein Mann, der, auf der höchsten Höhe des Kanzleidienstes stehend, mit sich selbst zufrieden sein mußte und keine Wünsche mehr hegen konnte.

Das herrliche, so wenigen Menschen beschiedene Schicksal, am Ziele angelangt zu sein, über das hinaus es nichts mehr anzustreben gab, gewährte ihm ein Glücksgefühl, das seine Augen hinter der Brille fröhlich funkeln ließ.

Er erzählte gerne Anekdoten, aber dabei kam ihm seine im Dienst angewöhnte Gewissenhaftigkeit in die Quere, denn er verweilte bei Nebenumständen, gab einleitende Erklärungen, verbesserte sich und kam selten zum guten Ende.

Das störte ihn nicht, weil er mehr Wert darauf legte, den hohen Beamten, von dem er die Geschichte hatte, namhaft zu machen.

Schützinger mietete sich in der Post ein und setzte sich am ersten Abend zu den beiden alten Soldaten, die ihn gewähren ließen.

Es stellte sich, wie es nicht anders sein konnte, bald heraus, daß der Herr Kanzleirat manche angesehene Persönlichkeit kannte, die der Herr Oberinspektor gut kannte, und daß der Herr Oberinspektor mit gewichtigen Männern verkehrt hatte, die zu den Bekannten des Herrn Kanzleirates gehörten.

»Diese Gemeinschaft der Konnaissancen«, sagte Wlazeck, »hat etwas Riehrendes. Sie stempelt die Angehörigen der gleichen Stadt gewissermaßen zu Kindern der selben Mudder. Das kann in der Fremde geradezu einen herzbewägenden Charakter annehmen. Ich bidde, ich war im Jahre zweiundachzig – pardon! es war dreiundachzig –, weil damals mein intimster Freind, der Graf Kielmannsegge, nicht der Max Kielmannsegge, sondern der Georg Kielmannsegge, der gelbe Schurl, wie ich ihn getauft hab, das Lemberger Korps kommandierte. Von was, bidde, wollte ich sprechen? Ja so ... pardon! Von der Gemeinsamkeit der Konnaissancen. Ich war damals unseligen Angedenkens in Jaroslau in Garnison. Kennen die Herren Jaroslau? Nicht? Dann begehren sie es nie und nimmer zu schauen! Alsdann, ich sitze bei Chaim Weichselzopf im Kaffeehause, eine Schale Haut trinken. Ein Rittmeister von den vierten Dragonern setzt sich zu mir. Tschau! Särvus! Wir sprechen von früheren Zeiten und Garnisonen und kommen auf Graz. Er war dort – ich war dort. Er kennt den Baron Styrum, den Graf Spaur, er schwärmt von der Komteß Buttler, von der Hansi Buttler, nicht von der Mizzi, die war damals noch angehendes Backfischel. Alsdann ich kenne den Styrum, den Spaur, ich schwärme von der Hansi Buttler ... auf einmal ... ich bidde meine Herren, es ist effektive Tatsache ... stirzen uns harten Soldaten die Tränen aus den Augen ...«

»Übrigens, Herr Kamerad, mir in Burghausen ...« wollte Dierl beginnen, aber der Kanzleirat hielt seine Zeit für gekommen.

»Entschuldigen, Herr Oberinspektor, wenn ich unterbreche, aber mir fallt bei der Erzählung, die der Herr Oberleitnant soeben ... ah . . . vorgebracht hat, eine sehr lustige Anekdote ein, das heißt, es ist eigentlich weniger eine Anekdote, was man im gewöhnlichen Sinn unter einer Anekdote versteht, sondern mehr eine sehr treffende Antwort, die tatsächlich vorgekommen sein soll. Da keine Damen in der Nähe sind« – Herr Schützinger sah sich vorsichtig um, bemerkte aber bloß den Dichter Bünzli, der in der Nase bohrte –, »da keine Damen in der Nähe sind, kann ich es ja wohl erzählen. Für die Damenwelt wäre der Witz respektive das Vorkommnis etwas zu gepfeffert oder doch zu pikant. Unser Ministerialrat Kletzenbauer hat es neulich auf unserer Kegelbahn zum besten gegeben, und ich muß sagen, das ich selten was Lustigeres gehört habe .... Der Witz ist nämlich folgender, es handelt sich um einen älteren Herrn, so eine Art Bonvivant, wie man zu sagen pflegt; der Betreffende war schon bedenklich ergraut, das heißt, er war kein Greis, aber doch schon über gewisse Jahre hinüber. Kurz und gut, ein Bekannter begegnet ihm auf der Straße, oder im Klub, kurz und gut, er sieht ihn wieder einmal nach längerer Zeit, vielleicht nach Jahren, und macht gewisse Anspielungen auf das Älterwerden mit einem pikanten Beigeschmack, die Herren verstehen schon, und da sagte dieser ältere Herr, dieser Bonvivant, ob vielleicht jemand aus dem Bekanntenkreis von dem betreffenden Herrn, aus dem Damenkreis natürlicherweis, eine Beschwerde eingereicht habe ... .Ich muß sagen, die Kegelbahn hat gewackelt, so haben wir alle g'lacht ...«

Dierl blieb ernst. Wlazeck blieb sehr ernst. Bloß der Kanzleirat brach über seine Anekdote in ein schallendes Gelächter aus und sah sich augenzwinkernd nach dem jungen Menschen um, ob der nicht am Ende an der Pikanterie teilgenommen habe. Er hätte es ihm in seiner Gutmütigkeit gegönnt.

Aber Tobias Bünzli bohrte in der Nase.

Es war Schranne in Altaich, wie alle Samstage. Da die Heuernte zu Ende war und die Getreideernte noch nicht begonnen hatte, kamen etliche Bauern auf den Markt und machten sich einen guten Tag in der Post.

Geschäfte gab es um die Zeit eigentlich nicht, aber jeder machte kleine Einkäufe, damit die Bäuerin daheim den guten Willen sah.

Sie saßen bis in den Nachmittag hinein in der Wirtsstube und unterhielten sich über die Ernteaussichten.

Dann fuhr einer nach dem anderen weg, und Martl schirrte die Gäule ein, hielt mit jedem einen kurzen Diskurs ab und lüpfte die Haube, wenn er sein Trinkgeld kriegte.

Den Lenzbauer und den Sappelhofer, zwei angesehene Bauern von Riedering, begleitete der Posthalter selber hinaus und wünschte ihnen das beste Wetter für die Ernte.

Wie sie weggefahren waren, wollte der Blenninger in die Stube zurückgehen, blieb aber in der Durchfahrt stehen, weil ihm was einfiel.

»He, Martl!«

Der Hausel kam langsam heran. »Wos is?«

»Paß auf, morg'n is Sonntag, gel?«

»Ja.«

»Da kunnst du eigentli amal de neue Haub'n aufsetz'n ...«

»Warum nacha? Müaßt i Maschkera geh im Summa, grad weil's der trapfte Kramawaschl hamm möcht? Sie hamm ja selm g'sagt, daß dös a Dummheit is ...«

»No ... no ... Dös braucht's net, glei a so ob'n außi ...«

»Is ja wahr! Wenn ma'r amal was sagt, nacha muaß gelt'n . . .«

»Was hab i g'sagt? Daß d' net auf d' Station abi steh muaßt, hab i g'sagt ...«

»Und daß i dem Malafizkrama, dem damisch'n, sein dumma Bletschari net aufsetz'n muaß, hamm S' g'sagt. Und dös sag i pfeigrad, dös tua 'r i amal net ...«

Blenninger sah, daß sein alter Martl fuchsteufelswild war, und beschwichtigte ihn.

»Vo mir aus brauchst d'as net aufsetz'n, aba gar so aufdrah'n brauchet's aa net, wann i di um an G'fall'n o'geh ...«

»Dös kunnt aa no a G'fall'n sei, daß i als Hanswurscht umanand laffa müaßt ...«

»Laß da sag'n, Martl, da brauchst jetzt net schimpf'n, dös sell könna mir mit Ruah ausdischkrier'n. I hab de G'schicht am O'fang anderst o'g'schaut und hab auf'n Natterer sei G'red überhaupt nix gen'n. Aba jetza schaugt si de Sach do a bisserl anders o. Es kemman Fremde, es san scho fünfi do, sie zehr'n was, sie bringan a Geld her, es kunnt glei sei, daß no mehra kemman. Folgedessen war dös net ganz so dumm, was da Natterer g'sagt hat. No ja, kunnt ma'r eahm aa an G'falln erweis'n. Und wenn er de Haub'n eigens macha hat lass'n, schau; Martl, de tat di net gar so druck'n ...«

»Na! I geh amal net Maschkera.«

»Was hast denn allaweil mit dein Maschkera geh? Gibt do gnua Hausmoasta, de wo sellane Haub'n aufhamm, Z'Minka is da ganz Bahnhof voll ...«

»De san's net anderst g'wöhnt.«

»G'wöhnt! Oamal hat's a jeda 's erstmal aufg'setzt. Probierst as halt amal in deiner Stub'n! Vielleicht g'fallt's da bessa, wia's d' moanst.«

»Net mag i, dös sag i Eahna glei. Sie hamm g'sagt, daß 's a Dummheit is, und bal Sie dös selm g'sagt hamm, nacha wer i de Dummheit net macha müass'n zweg'n dem spinnat'n Krama ...«

Der Posthalter sah, daß er nichts erreichen konnte, und ging in die Stube. Martl schob seine Ballonhaube ganz windschief nach rechts und schaute grimmig vor sich hin, als Herr von Wlazeck mit dem Kanzleirat an ihm vorüber ging.

»Särvus, Herr Haus- und Hofmeister!« rief der Oberleutnant jovial.

Martl schaute ihn spinngiftig an. Um Mund und Nase zuckte es ihm wie einem bissigen rauhhaarigen Schnauz. Er wollte etwas sagen, wie man deutlich wahrnehmen konnte. Er sagte es aber nicht, sondern drehte sich um und ging.

»Ein Prachtexemplar!« sagte Wlazeck fast zärtlich. »so was von einem gut konservierten, vorsündflutlichen Hausknechtsideal ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen. Ich versichere, Herr Kanzleirat, ich verehre diesen Menschen. Ich sehe in ihm den letzten einer aussterbenden Edelrasse, sozusagen einen Azteken der Grobheit.«


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