Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Die Polizei stellte sich bald ein. Es war noch stockfinstere Nacht. Fantig hörte ihr Pochen von der Veranda her und sah im Schein einer Kerze draußen die Helmbeschläge und die Uniformknöpfe aufglänzen. Er mahnte zur Ruhe, um den Verletzten, der in einen unruhigen Schlaf gefallen schien, nicht aufzustören. Der Arzt, der sich den Herren von der Behörde wieder angeschlossen hatte, unterstützte die Mahnung des Agenten.

Schweigend betraten die Männer den Wohnraum und nahmen den Tatbestand auf, soweit es sich ohne Vernehmung des Kranken durch den bloßen Augenschein und die Angaben des Arztes feststellen ließ.

»Sie kennen ja wohl den Verletzten näher«, wandte sich der die Untersuchung leitende Kommissar an Fantig. »Haben Sie den Verdacht, daß ein Überfall vorliegt?«

Fantig vermochte keine klare Antwort zu geben.

»War der Herr mit irgend jemandem verfeindet?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Verfügte er über große Mittel?«

»Über sehr große.«

»Verbrauchte er viel?«

»Im Verhältnis zu seinem Reichtum: nein. Er lebte nicht knapp, aber auch nicht verschwenderisch.«

»Hatte er Frauenbekanntschaften?«

»Das glaube ich nicht.«

Die alten, verrosteten Werkzeuge, die Frau Wutschow zurückgelassen hatte und die zum Teil auf dem Teppich, zum Teil noch in dem verstaubten Holzkasten an der Seite des Schreibtisches lagen, konnten von keinem professionellen Einbrecher herrühren, darin stimmten die Beamten ohne lange Überlegung überein. Aber woher stammten sie? Daß der Wohnungsinhaber sich mit dem alten Gerümpel herumgeschleppt oder es irgendwo erstanden haben sollte, nahm niemand an.

»Hier im Hause mag Kram genug herumliegen«, warf Fantig hin.

»Sie meinen, es wäre Eigentum Wutschows?«

»Ich kann es natürlich nicht behaupten. Aber es dürfte doch nicht unmöglich sein.«

Der Beamte musterte den Agenten aufmerksam. »Hegen Sie einen Verdacht gegen Wutschow?« fragte er ernst.

Fantig verwahrte sich dagegen.

»Dann nehmen Sie an, daß der Kranke sich selbst des Kastens und seines Inhalts bedient haben könnte?«

Der Agent zögerte. »Ich kann Herrn Hunter mißverstanden haben ... Aber Sie hatten sich eben entfernt, Herr Doktor, meine Frau brachte das Telegramm an Bruchs aufs Haupttelegraphenamt, und ich war mit Hunter allein. Er sprach nicht, aber er schob die Hand über die Decke und wies mit dem Zeigefinger auf sich. ›Sie selbst?‹ fragte ich, und es schien mir, als ob er nicken wollte ...«

»Herr Doktor«, wandte sich der Kommissar an den Arzt, »stellen Sie bitte fest, ob der Kranke vernehmungsfähig ist. Wenn es ohne Gefahr geschehen kann, muß er geweckt werden.«

»Das letztere möchte ich nicht verantworten«, entgegnete der Arzt, betrat aber leise das Schlafzimmer, um nachzusehen.

Frau Fantig saß still am Kopfende des Bettes.

»Ich habe mehr Licht machen müssen«, sagte sie gedämpft.

»Er verlangte es.«

Der Australier lag wach in den Kissen. Das graue Gesicht war eingefallen, die weit zurückgetretenen Augen blickten glanzlos und müde.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der Arzt »Haben Sie Schmerzen?«

Hunter antwortete nicht, und der Doktor prüfte den Verband, maß die Temperatur und horchte auf den Herzschlag.

»Können Sie ein paar Fragen beantworten?« fuhr er fort. »Ein Beamter ist nebenan. Er möchte aufklären, was vorgefallen ist. Soll er kommen?«

Hunter nickte, und der Arzt führte den Kommissar an das Lager.

»Nur wenige Fragen«, flüsterte der Doktor.

Der Kommissar beugte sich vor, um die Gesichtszüge des Kranken schärfer beobachten zu können.

»Waren Sie es selbst?« fragte er.

Die Lippen des Australiers bewegten sich, und ein zögerndes, röchelndes »Ja« entrang sich ihnen vernehmbar. Dann schlossen sich die bläulich gefärbten Augenlider, um sich minutenlang nicht wieder zu öffnen. Der Doktor untersuchte von neuem, stellte einen erhöhten Pulsschlag fest und erhob gegen eine weitere Vernehmung Einspruch.

»Meine Aufgabe ist ja auch gelöst«, gab der Kommissar gedämpft zurück. »Sie haben Frage und Antwort gehört?«

»Deutlich.«

Auch Frau Fantig wurde als Ohrenzeugin der Selbstbezichtigung von den Beamten notiert.

Dem Ehepaar Wutschow konnte eine Vernehmung nicht erspart werden. Wutschow kam schlurfend und schleppend, die Frau blaß, aber festen Schrittes und scheinbar ruhig. Und sie allein antwortete auf die Frage des Beamten.

»Wieviel Schüsse haben Sie gehört?«

»Zwei.«

»Wann war das?«

»Um Mitternacht.«

»Waren Sie noch wach?«

»Ja.«

»Sie riefen Ihren Mann und eilten nach unten?«

»Ja.«

»Hatten Sie deutlich gehört, daß die Schüsse im Hause gefallen waren?«

»Ich glaubte es.«

»Gehören die Werkzeuge Ihnen?«

Frau Wutschow trat vor, prüfte und bestätigte es.

»Wo wurden sie aufbewahrt?«

»In einem Verschlage hinter der Treppe.«

»Wußte Hunter davon?«

»Er mußte wohl ...«

»Wie erklären Sie sich, daß er den sehr wertvollen Schreibtisch gewaltsam aufgebrochen hat?«

Frau Wutschow zuckte die Schultern.

»Vielleicht hat er das im Jähzorn getan, vielleicht, weil das Schloß nicht funktionierte oder er den Schlüssel verlegt hatte?«

»Es scheint mir unmöglich.«

»Neigte er zum Jähzorn?«

»Darüber habe ich kein Urteil«, behauptete sie kalt.

»Haben Sie etwas zu ergänzen?« fragte der Kommissar den Hausherrn.

»Nein«, antwortete Wutschow träge.

»Ich danke.«

Der Beamte bedeutete ihnen das Ende der Befragung. Der schlottrige Ehemann und die fast aufreizend selbstbewußte Frau waren ihm nicht sympathisch, und er schenkte sich überflüssige Höflichkeitsbeweise.

Die Aufnahme des Protokolls dauerte bis zum Morgen.

»Wollen Sie noch etwas aussagen?« fragte der Arzt den Australier.

Ein kurzes, heiseres »Nein« war die Antwort.

Mit dem zunehmenden Tage schien auch die Kraft des Patienten zu wachsen. Er verweigerte die Nahrungsaufnahme, lag, ohne sich zu rühren, sprach aber mit dem Arzt, der bis zur Ankunft Bruchs an seiner Seite bleiben wollte. Zuerst kamen die Worte schwerfällig und kaum verständlich, dann klar und zusammenhängend.

»Schonen Sie sich«, riet der Arzt.

»Ist – Bruchs – tele ...«

»Gleich in der Nacht und dringend. Er kann schon um Mittag kommen.«

»Werde – ich – gesund?«

»Gewiß.«

»N-ein –«, hauchte er.

»Doch. Nur sprechen Sie nicht zuviel.«

»Frau – Wu-Wut-schow ...«

»Wollen Sie sie sprechen?«

»Allein.«

Frau Fantig richtete die Botschaft aus und verließ das Gemach, sobald die Hausherrin eintrat.

»Allein«, wiederholte Hunter, den Blick auf den Arzt gerichtet.

»Ja, aber nicht zu lange«, mahnte der Doktor und drückte die Tür hinter sich zu.

Hunters Blick ruhte fest auf der Frau.

»Mör ...«, röchelte er abgerissen, und bei dem schweren Leidenston zuckte die Frau zusammen.

»Hast du mich – verraten?« fragte sie, nach Atem ringend.

Er schloß die Augen und schwieg lange.

»Hast du –?« drängte sie zitternd.

»Heute mittag kommt Bruchs«, brachte er mit Anstrengung hervor. »Willst du nun ›ja‹ sagen?«

Die jähe Hoffnung durchbebte sie, daß sie mit ihrer Zustimmung sich selbst zu retten vermöge.

»Wünschst du es?« fragte sie drängend.

»Ja.«

»Und du willst schweigen – dann schweigen?«

»Nur dann.«

»Ja, ich gebe meine Einwilligung!«

Er drehte das Gesicht mühsam der Wand zu.

»Ich mag – dich – nicht sehen ... Gott – verzeihe dir – ich – kann nicht ...«

»Aber du hältst dein Wort!« keuchte sie.

»Geh!« forderte er kurz, und sie hatte genug Kraft, von dem Lager des Schwerkranken zurückzutreten und mit undurchdringlich verschlossener Miene an den im Nebenzimmer Weilenden vorüberzuschreiten.

Hunter lag eine Stunde lang apathisch. Dann flüsterte er: »Bruchs da?«

»Noch nicht, aber bald«, erwiderte Frau Fantig, deren Mann bei jedem aus Leipzig ankommenden Zug zum Anhalter Bahnhof eilte.

»Bald ...«, wiederholte Hunter sinnend, und nach einer Pause forderte er mit belebter Energie: »Lassen Sie – Notar holen. Ich will mein Testament ...«

»Es ist unnötig, Sie werden genesen«, beruhigte der Arzt gegen seine Überzeugung. »Aber wie Sie wollen. Wen wünschen Sie?«

»Einerlei.«

Ein Bruder des Arztes war Notar und wohnte in der Nähe. Er wurde von Frau Fantig sofort geholt.

Hunter sprach fast ruhig. »Ich setze«, erklärte er, und der Notar schrieb nach, »Herrn Doktor Max Bruchs und seine Braut – Hedwig Wutschow – zu gleichen Teilen zu meinen Universalerben ein. Nichts sagen – Doktor Bruchs«, flocht er ein und fuhr fort: »Sie sollen aber – Waisenhaus bauen – für arme Kinder – und die, die schlechte Eltern haben.«

»Wollen Sie nicht eine bestimmte Summe für den Bau festsetzen?« unterbrach der Notar.

»Ja, zehn Millionen. Das andere – Bruchs und Hedwig.«

Der Arzt führte ihm bei der Unterschrift die Hand, und Frau Fantig schluchzte.

»Ruhe«, mahnte der Arzt leise und freundlich.

Ein lautes Wagenrollen, das vor dem Hause plötzlich abzubrechen schien, lockte die Frau ans Fenster.

Durch Tränen erkannte sie ihren Mann und den eilig die Gitterpforte öffnenden jungen Arzt.

»Bruchs«, rief sie leise und ging dem Ankommenden entgegen.

»Ein Unglück, Herr Doktor!«

»Er lebt?«

»Ja – noch ...«, versetzte sie bitter.

Bruchs mäßigte seine Eile erst an der Schwelle des Schlafzimmers.

»Lieber Freund – Grüße von Hede, von Marie, von meinem Schwager.«

Er sah bestürzt in das leidende Antlitz, das sich aschfahl von den Kissen abzeichnete.

»Mein Gott...«, stotterte er, einen Moment die Fassung verlierend.

Hunter schob ihm die Hand, die er nicht mehr zu heben vermochte, über die Decke entgegen.

»Dank, daß Sie kamen. Allein – al-lein«, bat er, und die nicht gewünschten Zeugen kamen seinem Willen unverzüglich nach.

Bruchs hatte die ihm gebotene Hand ergriffen und hielt sie in der seinen.

»Doktor – hören Sie mich an, ich habe nicht viel – Zeit mehr. Hede wird Ihre Frau. Frau Wut-schow«, die Lippen flogen ihm, »hat eingewilligt. Sie sollen nicht trauern um mich. Ich – ach – wie – das – schwer wird. Ich bin miserabel gewesen. Auch ein – Menschenhasser wie Wutschow. Ich muß sterben – sühnen. Ich gehe – zu meinen Kindern ...«

Bruchs drückte ihm die Hand.

»Reden Sie nicht mehr«, bat er weich.

»Doch – doch. Glauben Sie – an – einen Gott? Wenn es einen gibt – Barmherzigkeit – nur – meine Kinder – meine Kinder! Mein Leben war schal. Geben Sie – Sie – Glück, auch – für – mich. Ich – habe festgelegt – Sie sollen ausführen!«

Er stockte und rang nach Luft. Bruchs erkannte die Gefahr der tiefen, seelischen Erregung; aber er tat nichts mehr dagegen, denn das Auge des Arztes sah zugleich, daß an eine Rettung nicht mehr zu denken, daß das Ende nahe herangekommen war.

Noch einmal nahm der Sterbende sichtlich alle Kraft zusammen.

»Frau – Wu – hat sich – um Hede – gesorgt – das vergibt – viel. Sei – nicht – zu streng. – Fantigs – gut – zu mir – gib ...«

Über die stockenden Lippen kam eine nüchterne Zahl.

»Gib –«, wiederholte er. »Und – nimm. Wie – bin – ich arm, daß – niemand – um – mich – trau ...«

Die letzte Silbe verhauchte.

»Wir werden immer dankbar an Sie denken, Hede und ich«, sagte Bruchs voll Herzlichkeit.

Der Schimmer eines Lächelns glitt über das graue Antlitz.

Bruchs fühlte die von ihm umschlossene Hand des Sterbenden erkalten; er fing den letzten Blick der brechenden Augen auf, ein Dehnen ging durch den Körper, und plötzlich stand der Atem still – William Hunter hatte ausgelitten...

»Mein Gott«, stammelte Bruchs, »wie hat das alles so schnell kommen können!«

Er brachte dem Kollegen und Frau Fantig die Trauerbotschaft und sank auf einen Sitz. Er hatte den Tod nicht zum ersten Mal gesehen; aber Hunter hatte ihm nahegestanden und hinterließ in ihm eine Wunde.

Er brauchte Zeit, ehe ihm die Spannkraft wieder auf die Beine half. Er stieg die Treppe hinauf, um dem Ehepaar Wutschow die Mitteilung zu überbringen.

Frau Wutschow weilte in ihrem Gemach und empfing den Arzt mit sichtlicher Spannung.

»Herr Hunter ist entschlafen«, sagte Bruchs einfach. »Was ihn veranlaßte, die Waffe gegen sich selbst zu richten, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.«

Die Frau atmete auf, als sei sie von einer schweren Last befreit. Aber nicht ein Wort der Teilnahme wurde von ihr gesprochen.

»Sie haben dem Sterbenden zu erkennen gegeben«, fuhr Bruchs fort, »daß Sie sich um Hedwig sorgten ...«

Sie fuhr zusammen. »Woraus wollte er das schließen?« fragte sie unruhig.

»Er hat es nicht weiter erörtert; er konnte es vielleicht nicht mehr, denn er war bereits zu schwach.«

»Ich hatte keinen Grund, mich zu dem Fremden zu äußern«, sagte sie dreist. »Nur das eine habe ich ihm nicht verschwiegen, daß ich Ihnen und meiner Tochter die Einwilligung nicht länger vorenthalten wolle. Hat er daraus meine Besorgnis gefolgert?«

»Gnädige Frau, ich weiß es nicht, aber ich danke Ihnen für Ihr Ja!«

Er streckte ihr die Hand hin, die sie nicht zu sehen schien. »Wo ist Hedwig?«

»Sie befindet sich in guter Hut, und sie wird in wenigen Tagen hier sein und Ihnen auch ihrerseits danken.«

»Warum kommt sie nicht gleich?«

Bruchs klärte sie auf.

»So. So weit haben Sie sie gebracht?«

»Meine Schwester wird sie heimholen.«

Sie maß ihn kühl. »Ich gebe Ihnen mein Kind. Mögen Sie es nie bereuen. Mein Freund werden Sie nicht.«

»Nein«, stimmte Bruchs bitter zu, »es scheint so.«

Er machte eine Abschiedsbewegung, aber Frau Wutschow hielt ihn noch zurück.

»Wer übernimmt die Sorge um das Begräbnis?« fragte sie.

»Ich.«

»Sind Sie dazu autorisiert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sind Sie Nachlaßordner?«

Bruchs hatte von dem Testament nur die flüchtige Kenntnis, die ihm der Sterbende gegeben hatte, und ahnte nicht, wie er selbst darin bedacht worden war.

»Ich erfülle eine einfache Freundespflicht«, antwortete er ernst.

Sie drehte ihm den Rücken.


 << zurück weiter >>