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Siebentes Kapitel

Fantig hatte den gewohnten Stammtisch mehrere Abende nicht besucht, sondern sich in Begleitung seiner Frau in gewählterer Umgebung heimisch gefühlt. Nach einigen Tagen stellte er sich wieder einmal ein und erregte mit seiner neuen Kleidung nicht geringes Aufsehen. Er war jedoch im Grunde eine bescheidene Natur, und es lag ihm fern, den alten Bekannten gegenüber den Großspurigen herauszukehren. Er hängte den Zylinder an einen Haken, wickelte sich aus dem warmen Überzieher und ließ sich grüßend bei den andern nieder.

»Nanu«, näselte Jeremias und zupfte nervös den Spitzbart, »Großes Los gewonnen?«

»Oder geerbt?« riet ein anderer.

»Oder Kommerzienrat geworden?« gesellte sich vom Büfett her der Wirt zu den Fragern.

»Ein Sümmchen verdient«, entgegnete Fantig gelassen, »das ist alles.«

»So? Wen hast du denn gerupft?« tuschelte Jeremias Kluckhohn.

Die Frage verdroß Fantig, und da er ohnehin auf den Fragesteller, der ihm als Helfershelfer Wutschows möglicherweise in das Geschäft hätte pfuschen können, nicht besonders gut zu sprechen war, beschloß er trotz seiner Gutmütigkeit eine kleine Zurechtweisung.

»Jeremias sucht jeden da, wo er selbst gestanden hat!« sagte er. »Was, alter Fuchser? Mit dem Rupfen kenn' ich mich nicht aus – ich betrüge ehrlich, das wird mir Herr Hunter bezeugen können.«

Daß der Wagen, der so gut gelaufen, zweimal geschmiert war, beunruhigte ihn nicht.

»Wer?« fragte Jeremias unangenehm überrascht.

»Herr Hunter«, wiederholte Fantig mit Genugtuung. »Du weißt doch, Jeremias – und den anderen ist es wohl auch kein Geheimnis gewesen –, daß das Grundstück von dem pensionierten Lokomotivenreiter zu verkaufen war, und da habe ich den Vermittler gemacht und ein paar gute Lappen eingeheimst.«

»Das ... das hat ... der gekauft?« stotterte Jeremias.

»Wenn du mit dem ›der‹ Hunter meinst – allerdings.«

Fantig weidete sich an Jeremias' Unbehagen und fügte noch hinzu: »Andere hatten sich ja auch an ihn herangedrängt; aber der sieht sich seine Leute an, ehe er sich mit ihnen einläßt.«

Jeremias ging auf die Herausforderung nicht ein; er trank hastig, wischte sich den Mund und stieß ruckweise aus: »Der hat bei Wutschow gemietet.«

Jetzt war die Überraschung auf Fantigs Seite; er faßte sich aber schnell und tat, als ob er selbstverständlich eingeweiht sei. »Allerdings. – Ich begreife das nicht ganz, aber am Ende ist es ja seine Sache. Und wenn er gehörig ändern läßt – er war bei mir und hat sich Tischler und Maler empfehlen lassen –, na, mit Geld ist ja schließlich manches herzurichten.«

»Sind schon an der Arbeit«, verriet Jeremias.

»Ja, die Nähe vom Bauplatz – selbstverständlich will er bauen lassen –, die ist wohl maßgebend gewesen für ihn. Vielleicht auch die Hoffnung, mit Wutschow doch noch einig zu werden – vielleicht –, ja, sein Herrgott bin ich nicht, daß ich gerade alles wissen sollte, und sein Beichtvater natürlich auch nicht, bin nicht mal«, Fantig suchte einen Witz zu machen, »nicht mal katholisch.«

»Wieviel – hast' denn verdient?« fragte Jeremias nüchtern.

»Wieviel –?« Über Fantigs Mienen huschte ein Zug der Überlegenheit. »Du ...«, er beugte sich dicht an Jeremias' Ohr und raunte: »Wenn er so viel bezahlt hätte, wie dein Freund Wutschow gefordert hat, dann hätt' ich – noch 'n paar Lappen mehr bekommen.«

Jeremias zog die Oberlippe ein und kaute den Schnurrbart. »Nu bin ich so klug wie vorher ...«

»Ja, da kann ich dir nicht helfen. Hab' ich schon mal gefragt, wieviel Prozentchen du ...? Na also ...«

Der Wirt kam.

»Wieviel Runden gibst du?«

Fantig wehrte ab.

»Ist nicht. Hast du was, halt's zusammen – heißt mein Wahlspruch.«

»Eine Lage, Fantig«, handelte der dicknackige Gärtner Rinke.

»Zwei – vier – fünf Glas zu zehn, wenn's denn sein muß.«

Zu mehr ließ er sich nicht bewegen, sosehr auch die Gesellschaft ihn zu drängen suchte.

Noch vor Mitternacht nahm er Abschied und ließ sich dann wieder Wochen hindurch nicht blicken, weil er vielfach von dem Australier in Anspruch genommen wurde oder mit seiner Frau, die nach langem, geduldig ertragenem Gram sich förmlich verjüngte, Erholung in besseren Lokalen suchte. Sie aßen zu Hause, weil die Restaurantkost ihnen immer noch zu teuer war; aber die paar Glas Bier, zu denen es früher oft nicht hatte reichen wollen, versagten sie sich nicht mehr.

Mitunter gesellte sich auch Hunter zu ihnen, der an der kleinen, schlichten Dulderin Gefallen fand und mehr um ihretwillen den Gatten häufig zu seinem Vertrauensmann machte. War er mit Fantig allein, so beglich er die Zeche für diesen ohne Umstände mit; war die kleine Frau zugegen, so schonte er deren Zartgefühl und beobachtete mit Vergnügen, daß sie eine Genugtuung darin fand, ihren Mann ohne Knauserei und ohne auffälligen Unterschied es dem Gönner gleichtun zu sehen.

Nur einmal machte er eine Ausnahme: bei seinem Einzug in das Haus Nr. 100.

»Junge Frau«, sagte er bei einem Besuche um die Mittagsstunde, »die Einladung zu heute abend dürfen Sie mir nicht abschlagen. Zwei, drei Wochen habe ich mich mit Meistern von Hobel und Farbentopf, mit Möbel- und Dekorationsmenschen, Fuhrleuten, Dienstleuten und anderen Gentlemen herumgeschlagen – ja, einmal muß ich auch wieder aufatmen und ein Glas Wein mit Behagen trinken können. Brrr – das waren Wochen; dem Himmel sei Dank, daß sie vorüber sind. Schön, junge Frau, daß Sie mir keinen Korb geben ... Also um neun Uhr, wenn ich bitten darf ... Huth und Sohn in der Potsdamer – die Nummer wird Ihr Herr Fantig schon herausfinden.«

»Oh, kenne ich, kenne ich«, bestätigte Fantig lebhaft.

Die Frau dankte in ihrer stillen und freundlichen Art. »Haben Sie nun wirklich Ordnung?« fragte sie.

»Bis auf den letzten Nagel, junge Frau – grad seit einer Stunde. Sogar die Frau ist schon engagiert, die für die Ordnung sorgen soll – all right. Übrigens: meinen Dank für Ihre Bemühung – die Frau scheint wirklich die Rechte zu sein...«

Sie freute sich, daß sie ihm mit ihrer Empfehlung hatte gefällig sein können.

Auch Fantig war angenehm berührt. »Redlich sollte sie sein, und das ist sie«, versicherte er. »Dabei sauber, rührig. Die kennen wir bald ein Dutzend Jahre, für die können wir gutsagen...«

Hunter schied mit Handschlag. »Ich werd' mir den Nachmittag über meinen neuen Staat ansehen«, scherzte er, »so mal in aller Muße, wozu ich bisher nicht gekommen bin. Byebye. This evening...«

Daheim bot sich ihm eine kleine Überraschung: seinen Schreibtisch schmückte ein Strauß frischer, italienischer Rosen.

Sein Gesicht verfinsterte sich. Natürlich von dem Fräulein Wutschow, sagte er sich, und es war ihm unangenehm, daß die Aufmerksamkeit ihn zu einer Dankbarkeit verpflichtete, die er nicht wollte.

Er ließ sich, als er Hut und Pelz abgelegt hatte, ziemlich unwirsch in den bequemen Sessel fallen, der vor dem eichenen, reichgeschnitzten Diplomatenschreibtisch stand. »Unnötig, dear Miss«, murmelte er, faßte aber doch nach der zierlichen Glasvase und schnupperte nach dem matten Duft.

»Je schöner die Federn, um so schlechter der Gesang«, murrte er und schob die Vase gleichgültig zurück.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufhorchen.

»Was, Besuch? Herein!«

Hunter erhob sich langsam, als er Doktor Bruchs erkannte.

Der junge Arzt war korrekt wie immer, hatte den Überrock draußen abgelegt und hielt den Zylinder in der behandschuhten Linken.

Der Australier suchte nach einem Wort freundlicher Begrüßung, ohne mehr als eine oberflächliche, fast unbeholfene Entschuldigung finden zu können.

»Mein Gedächtnis, Herr Doktor, Sie müssen schon ein Auge zudrücken ...«

»Beide, Herr Hunter. Ich habe Ihren Besuch erwartet, es aber verständlich gefunden, daß Sie über Wichtigerem nicht mehr daran dachten.«

»Gedacht schon, Herr Doktor; leider die Zeit, die Zeit ...«

Hunter nötigte den Besuch in einen bequemen Sessel, nahm selbst wieder am Schreibtisch Platz und beobachtete den jungen Arzt.

Bruchs beschrieb mit der Hand einen Bogen und zeigte auf die Einrichtung.

»Wer aus dem vollen schöpfen kann ...«, meinte er anerkennend. »Gediegen, geschmackvoll ...«

Der Australier winkte ab. »Kleinigkeiten, Herr, dem alten Neste angemessen ... Die Praxis – zugenommen in den letzten Wochen?«

»Ich bin zufrieden, danke.«

»Ja, ja, ich kenne das. Das geht wie beim Bau, ein Stein will auf den anderen getragen werden. Geht aber noch gut, wenn nichts dazwischenkommt – Frost, Unglück, Versehen. Der Baumeister muß eben tüchtig sein, und das traue ich Ihnen zu.«

Er sagte es obenhin und wurde sich erst nachträglich bewußt, daß der Schlußsatz ihm entglitten war, ohne etwas mit seiner Überzeugung zu tun zu haben.

Der Arzt fühlte die Kühle, die zwischen ihnen lag, und suchte darüber hinwegzukommen.

»Ich bewundere Ihre Energie«, sagte er, »und wünschte mir einen Teil davon. Offen, Herr Hunter: Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie in den Kampf mit meinem verehrten Schwiegervater in spe der Sieger bleiben würden.«

»Den störrischen Gaul muß man die Kandare fühlen lassen«, entgegnete Hunter trocken. »Nehmen Sie sich ein Beispiel daran.«

»Ja, wenn das ginge. Es gibt Gelegenheiten, bei denen ich meinen Zorn nur schwer zügeln kann. Nur die Rücksicht auf Hedwig läßt mich wieder einlenken, nachgeben, vergessen. Sie hätte, käme es zu einem Zerwürfnis, darunter am meisten zu leiden. Und ihr Pfad ist ohnehin nicht mit Rosen bestreut. Sie ist eine rechte Märtyrerin in dieser verrückten Umgebung. Und weiß Gott, ob sie nicht doch noch körperlich und seelisch Schaden nimmt, ehe ich sie einmal zu mir führen kann. Sie müßte sich ja wie im Himmel fühlen, wenn sie aus ihrem Sklavenlos herausgerissen werden könnte. Verzeihung, daß ich meiner Bitterkeit Worte gebe; aber das Verhalten dieser beiden Alten ihrem Kinde gegenüber kommt mir wie eine Parodie vor auf alles, was Vater- und Mutterliebe heißt...«

Der Australier blickte zur Seite. »Das Mädchen ist auf einem ungesunden Boden aufgewachsen«, knurrte er. »Sind Sie sicher, daß nicht auch in ihr einmal das eingesogene Gift zum Durchbruch kommt, daß sie – der Mutter nachartet?«

»Hedwig? Niemals!« Bruchs Antwort kam rasch und fest.

»Das ist der Glaube der Liebe.« Der Australier blieb gleichmäßig kühl. »Sollten Sie nicht auch den Arzt mitsprechen lassen?«

»Den Arzt?« Doktor Bruchs fand ein frohes Lächeln. »Den lasse ich daheim, wenn ich zu Hedwig gehe. Was ich mit meinen gesunden Augen, mit meiner Liebe nicht sehe, das kann mir auch ein Arzt mit all seinen Instrumenten nicht verraten.« Er wurde ernst. »Ich gehe in meinem Beruf auf, und deshalb brauche ich nicht zu betonen, daß ich ihn hochhalte. Aber tausendmal mehr als der Arzt mit seinen Spiegeln sieht das Auge des Menschen da, wo ihm ein Wesen teuer ist. Sieht der Arzt die Liebe? Nein, aber ich! Und Hedwig einmal wie ihre Mutter? Niemals, wiederhole ich. In diesem ›Niemals‹ liegt die Kraft meiner Überzeugung und zugleich die Kraft des Bewußtseins, daß auch meine Liebe sie schützen wird! Bin ich ein Wutschow? Ich bin es nicht und werde es nicht.«

Hunter saß gebückt und hing dem Gedanken nach, ob nicht auch er dazu beigetragen habe, die verhärtete Frau im ersten Stockwerk zu dem zu machen, was sie geworden war, statt sie mit der Kraft der Liebe, wie sie den jungen Arzt beseelte, über sich hinauszuheben, zu bessern, zu veredeln. Eine Art von Schuldbewußtsein kam über ihn, das die Frau in milderem Lichte erscheinen, seine eigene Verantwortlichkeit aber verschärft hervortreten ließ. Er wehrte sich dagegen. »Was krumm werden will, wird es auch«, widersprach er. »0 nein!« entgegnete Bruchs überzeugt. »Der Gärtner, der da rechtzeitig achtgibt, kann das verhindern!« »Dann bricht der dünne Stamm.«

»Nein, auch das nicht. Der Mann faßt behutsam zu, stützt und schient den dünnen Stamm: hilft ihm nur, stört ihn aber nicht.«

»Theoretiker und Verliebte tragen beide Brillen, mit ihnen ist nicht zu streiten. Der eine sieht alles grau und der andere alles rosa. Nimmt ihnen das Leben aber die zerbrechlichen Scherben fort, stehen sie beide blöde und verdutzt... Hm, die Unkenrolle liegt mir nicht... Ein Glas Portwein gefällig? Der saure Rotspon schmeckt mir nicht.«

Er hatte sich schon erhoben, holte aus einem Eckschrank Flasche und Gläser und schenkte ein.

Er stieß an, goß sich ein zweites Glas ein und stürzte es in einem Zuge hinunter.

»Auch eine Medizin, Herr. Und ein steifer Grog... Hedwig – Pardon: Fräulein Hedwig. Der Gruß aus Italien – eine Aufmerksamkeit von ihr? Ich lasse ihr danken...«

»Wollen Sie ihr das nicht selbst sagen?«

»Wenn ich sie sehe... Bedienen Sie sich, Herr Doktor. Eine gute Bock ist auch da. Oder eine Lopez gefällig?« Er holte zwei Kistchen und stellte sie geöffnet auf den Schreibtisch. »Wenn ich bitten darf.« Er langte selbst zu, biß die Spitze ab und warf sie auf den Teppich, um sich gleich darauf danach zu bücken. »Ach so, noch Buschmanieren. Entschuldigung ... Das Willkommen mag übrigens das einzige sein. Mr. Wutschow hat sich noch nicht sehen lassen, Madame gnädigst – auch nicht. Hm – natürlich.« Er wies wieder auf die Blumen. »Natürlich auf Ihre Kosten, Herr Doktor...«

»Sie irren sich.«

Hunter schlenkerte die langen Arme. »Auch gut. Darum kein Kopfzerbrechen ... die dummen Sprichwörter lügen. Halb gewonnen, heißt es, ist halb verloren. Nonsens. Den Herrn Wutschow habe ich halb in der Tasche, und ganz kommt er hinein. Samt seiner besseren Hälfte. Übrigens auch Nonsens. Die und besser... Kennen Sie Huth und Sohn?«

»Allerdings.«

»Bitte, heute abend neun Uhr. Ein kleines Souper. Angenehm?«

»Ich nehme gern an.«

»Well. Ich sehe, daß Sie nicht nachtragen. Wenn Sie Hochzeit machen, nehme ich die Einladung an. Wenn Sie mich haben wollen, selbstredend, und wenn ich bis dahin nicht an übergelaufener Galle krepiert bin. Manchmal denke ich, daß es so kommen muß. Und manchmal wieder, daß Unkraut sobald nicht vergeht. Wenn Senf unter dem Weizen ist, da können Sie jäten, soviel Sie wollen, der bleibt; und wenn Sie die Disteln wegstechen, die kommen doch wieder ... Ihr Besuch hat mich gefreut, Herr Doktor; lassen Sie ihn nicht den einzigen bleiben.«

Dr. Bruchs verbeugte sich förmlich. »Sollte ich wider Erwarten Ihrer Einladung heute abend nicht folgen können – ich könnte ja durch Patienten oder sonstwie abgehalten werden –, so wollen Sie eine nachträgliche Entschuldigung gelten lassen.«

Er fühlte sich verletzt, daß der Australier den Besuch mit deutlichen Worten abbrach, und nahm sich vor, die Unhöflichkeit durch Fernbleiben am Abend zu quittieren. Eine zweite steife Verbeugung, und er ging.

Der Australier trommelte mit den Knöcheln der dürren Finger auf den Schreibtisch.

»Verschnupft, der gute Junge«, murmelte er gereizt, »daß ich die Audienz in so 'ner souveränen Anwandlung abkürzte. Ja, solche Grillen muß man schon in Kauf nehmen, Herr Doktor. Und wenn Sie mir heute abend die Ehre versagen wollen – es ist vorgesorgt: meine Haare sind schon lange grau.«

Er entnahm einem Fach des Schreibtisches einen Bauplan und vertiefte sich stundenlang in Berechnungen. Die lärmende Stimme Wutschows und ein Türenschlagen drangen ein paarmal zu ihm in die Stille und ließen ihn ärgerlich auffahren, ohne ihn indes dauernd von seiner Arbeit abzulenken. Erst als es dunkel wurde, brach er ab, ordnete die Papiere in den Schreibtisch zurück und verließ bald darauf die Wohnung.

In einer Ecke der Veranda gewahrte er Hedwig, die vor einem Stuhl in die Knie gesunken war und das Gesicht in den Händen barg. Im ersten Impuls wollte er auf sie zutreten, besann sich aber und entfernte sich, als ob er nichts bemerkt hätte.

Auf dem Hof verfing sich der schneidend kalte Wind wie in einem Kessel, blähte den Pelz des Australiers und umblies ihn eisig. Hunter hüllte sich vorsichtig in das wärmende Fell, vergrub die Hände in den Taschen und wartete auf der Straße auf eine Fahrgelegenheit.

Ein Omnibus nahm ihn mit und brachte ihn nach der Friedrichstadt, in deren weihnachtlich ausgestatteten Läden er eine Reihe von Einkäufen besorgte. Es fehlte in der Wohnung noch an hundert Kleinigkeiten, die alle entbehrlich sind, ein Heim aber doch erst recht behaglich machen. Ihnen galt sein Suchen, und für sie war ihm kein Preis zu hoch.

In einer Nähmaschinenhandlung gab er Frau Fantigs Adresse auf. Die »junge Frau« plagte sich mit einer kleinen Handmaschine ab, die unpraktisch und verbraucht war, die durch eine gute, neue zu ersetzen sie aber aus Sparsamkeitsgründen nicht zu bewegen war. Hunter billigte ihre Enthaltsamkeit und nahm sich zugleich das Recht, großmütig abzuhelfen.

»Sofort hinsenden«, ordnete er an.

Am Abend bei Huth dankte die Frau in ihrer herzlichen Weise.

»Nichts als Selbstsucht von mir«, entgegnete ihr Hunter aufgeräumt. »Ich werde Sie noch um so viele Gefälligkeiten bitten, daß Sie die Annahme der dummen Tretmaschine am Ende noch bereuen werden. So, und damit Punktum... Herr Fantig, junge Frau – genötigt wird nicht.«

Das Mahl war delikat, der Wein rein und voll. Die Gläser mit dem kostbaren Rebensaft des Rheinlandes klangen zusammen, bis ihr heiteres Läuten durch das Klirren der Kelche mit Schaumwein verdrängt wurde.

Der Doktor kam nicht, und Hunter erwähnte ihn mit keinem Wort.

Fantig schwätzte von seiner Vergangenheit und sprach von seiner Frau mit einer Wärme, daß ihr der Wein und die Genugtuung das Blut in die Wangen trieben.

Hunter lauschte beifällig und meinte: »Ja, ja, die deutschen Frauen! Freilich, wer den Wert zu bemessen weiß, findet ihresgleichen nicht bloß bei den deutschen Stämmen, und wer das Pech haben soll, sucht sie auch da vergebens. Manche Indianersquaw ist mir lieber als die gerühmte... Verzeihung. Junge Frau, Ihren Mann könnte ich wohl beneiden... Der französische Sekt ist doch besser als der deutsche – meinen Sie nicht auch? Er ist edler, feuriger, duftiger. Prosit!«

Mitternacht war lange vorüber, als der Australier vor dem Hause Nr. 100 die Droschke verließ und den Kutscher die Freunde nach der Bülowstraße weiterfahren hieß. Der nächtliche Himmel war wolkenlos, ein Sternenmeer schimmerte am graublauen Dom, und der Mond goß ein fahlsilbernes Licht über die ruhende Erde. Selbst die Großstadt lag im tiefen Schlaf, den keine Straßenbahn, kaum hin und wieder ein leichter Wagen störte.

Die Holztreppe zur Veranda knarrte unter dem angefrorenen Schnee, an den Fensterscheiben glitzerten Eisblumen im Mondlicht. Geräuschvoll öffnete Hunter die Tür, mit klirrendem Schlüsselbund hantierte er von innen.

Ein Lichtschein fiel auf ihn, ehe er noch die Tür abgeschlossen hatte. Er ließ den Schlüssel stecken, sah über die Schulter die Treppe hinauf und horchte.

Kein Geräusch drang von oben zu ihm herunter; aber der Lichtschein wanderte unruhig, schwächte sich ab, verschwand und kam verstärkt abermals wieder. Plötzlich zuckte der Australier zusammen. Aus dem Dunkel des oberen Stockwerks löste sich eine schlanke, weiße Gestalt, näherte sich der abwärts führenden Treppe und kam schwebenden Schritts die Stufen herab.

Hunter lehnte sich gegen die Tür und blickte gefesselt auf das seltsame Bild. Brausend schoß es ihm durch den Sinn, daß seine Töchter nächtlich das Haus beleben sollten; die Schläfen hämmerten ihm zum Zerspringen. Der hellen Gestalt folgte eine dunkelumrissene, die eine Kerze in der Hand hielt, sie hochhob und prüfend die Treppe hinableuchtete.

Die Nachtwandlerin hatte die letzten Stufen erreicht, und Hunter starrte in das wachsbleiche Gesicht Hedwigs, ohne sich zu rühren. Sie war im Nachtgewand und blieb erschauernd stehen, als die nackten Füße die kalten Fliesen der Veranda berührten. Die Arme hingen ihr schlaff herab, die Augen waren geschlossen, das aufgelöste blonde Haar floß über die Schultern. Sie wandte sich unschlüssig einen Schritt seitwärts und trat tastend auf den Treppenläufer zurück, der die Füße vor der eisigen Kälte der Fliesen notdürftig schützte. Lautlos, Stufe um Stufe, schritt sie dann rückwärts nach oben, stutzte vor dem Licht, das sie selbst durch die geschlossenen Lider empfinden mochte, und wandte sich fluchtartig ins Dunkel.

Wutschow, in Filzschuhen und Schlafrock, leuchtete ihr nach und folgte ihr schleichend. Das Licht verschwand, eine Tür wurde knallend zugeschleudert, das Licht kam wieder, und Wutschow schlurfte fluchend an der Treppe vorüber nach seinem Schlafzimmer.

»Hexe, Dirne, Frauenzimmer!« hörte Hunter die Stimme des Schimpfenden. »Den Kerl werfe ich zum Haus hinaus, die Blödsinnige dazu. Heiraten ... Pack ... Irrenhaus ...«

Die Stimme erstickte in der Ferne. Still und dunkel lag wieder die Treppe. Matt spielte das Mondlicht auf den Fliesen.

Hunter zog den Schlüssel leise ab und begab sich still in seine behaglich warmen Räume. Der leichte Weinrausch, den er mitgebracht hatte, war verflogen wie der künstlich großgezogene Groll gegen das bedauernswerte Mädchen.

Er saß lange grübelnd, sog von Zeit zu Zeit an einer Zigarre und merkte nicht einmal, daß sie nicht brannte. Mechanisch legte er endlich den Stummel in einen Aschenbecher, mechanisch entkleidete er sich, und lange wollten sich die starren, weitgeöffneten Augenlider nicht schließen ... Der Traumgott führte ihn über Länder und Meere in eine wilde Ferne. Ein Berg erhob sich vor seinen Blicken, und eine Mädchengestalt stieg über Schroffen und Klippen langsam abwärts. Er wunderte sich, daß sie die Augen geschlossen hatte und mit den nackten Füßen kaum den Boden zu berühren schien; er wollte rufen, sie warnen und brachte keinen Laut hervor. Erst erkannte er sie nicht, dann glaubte er, daß es Hedwig Wutschow war. Und dann war sie es wieder nicht, sondern eine märchenhafte Königin mit blitzender Goldkrone – und dann die Königin plötzlich sein Liebling, seine jüngste Tochter, blond, weich und zart, die im Traum gekommen war, den Vater in der Ferne zu suchen und ihn in die Heimat zu holen. Und wieder wollte er warnend rufen und fühlte die Kehle von der Angst zugeschnürt; er wollte hineilen zu ihr, sie stützen, sie auffangen und war wie an den Boden festgewurzelt. Plötzlich ein scharfer, widerhallender Knall, die Gestalt schwankte, die leuchtende Stirn färbte sich purpurn – sein Einziges, sein Liebling, versank zwischen den kahlen braunen Felsen...

Mit unterdrücktem Schrei fuhr der Träumer empor und starrte in den grauenden Morgen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, das Herz schlug ihm wild. Er tastete mit der Hand über die weiche Decke, sah um sich und suchte seine Umgebung zu erkennen.

Schwer sank er in die Kissen zurück.

Ein Traum, gottlob ein Traum ... wie schon einmal...


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